Berliner Miniaturen

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Hans Uhlmann

Freiplastik Hansaviertel, 1958

Hansaplatz, Grünanlage Bartningallee/Altonaer Straße

Erster Anlauf

Die Arbeit Hans Uhlmanns steht auf dem Hansaplatz, als Beispiel für die ersten Ufos der modernen Kunst nach dem Weltkrieg im öffentlichen Raum, für »die Invasion aus dem Atelier«, wie diesen Prozess Walter Grasskamp nannte. Es ist ein Platz, der seine Konturen nicht findet, der nicht weiß, wo er beginnt und endet. Eher eine Kreuzung, umgeben von launenhaft verstreuten Grünstreifen, Wohnhäusern, die mit ihren Ecken auf breite Straßen zeigen, sowie von Gemeinschaftseinrichtungen.

Der Hansaplatz ist das Zentrum des Hansaviertels, das in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre die Antwort West-Berlins war auf die Stalinallee, das vom Stalin-Barock geprägte Prestigeprojekt Ost-Berlins. So hätte der ganze Westteil der Stadt ausgesehen, wären nach dem Weltkrieg die Pläne Hans Sharouns und seiner Kollegen Wirklichkeit geworden.

Die geistige Quelle des Hansaviertels ist die Charta von Athen, das Kommunistische Manifest des Wohnungsbaus. Keine Frage: Der Autor dieser Verlautbarung, die große Gestalt der klassischen Moderne der Architektur, reagierte auf einen unhaltbaren Zustand, das Massenelend der durch die Industrialisierung angeschwollenen Großstädte. Die nach seinem Sinne modernen Wohnviertel haben jedoch die unmenschliche Grausamkeit durch komfortables Grauen abgelöst. Damals haben wir, da drüben, gedacht, dass die Platte, die uniformierte Enge, der adäquate Wohnort des Sozialismus wäre. Das war es ja auch, aber schließlich doch nur eine Kopie: Auch diese Utopie entstand im Westen, und man musste deren Folgen so richtig im Osten ausbaden.

Die Losung der kommunistischen Utopie ist die Gleichheit, die der Charta von Athen das menschliche Maß. Corbusier hat es ausgerechnet: Es war, in Innenhöhe ausgedrückt, zwei Meter sechsundzwanzig. Warum gerade so hoch? Damals, die Menschen waren noch kleiner, hätten auch zwei Meter ausgereicht, sogar noch weniger, denn in einer Wohnung sitzt oder liegt man normalerweise. Sich aufzurichten hat man doch genug Gelegenheit auf dem Weg zur Arbeit. Man hätte dadurch wahnsinnig viel Energie sparen können.

Die Ingenieure der Stadt übertrugen die Prinzipien des Industriebetriebes – Rationalität und Funktionalität – auf die Architektur. Wie die Arbeit im Betrieb, mussten auch die Lebensfunktionen aufgeteilt werden: hier der Wohnort, dort die Arbeit und wieder anderswo die Freizeitbeschäftigung. Wie Laufbänder transportierten die Untergrundbahnen und die Schnellstraßen die funktionalisierten Menschen.

1995 wurde das ganze Viertel zum Denkmal erklärt. An seiner Planung beteiligte sich beinahe jeder, der damals in der modernen Architektur einen Namen hatte. Und wie angesichts des neuen Potsdamer Platzes kann auch hier festgestellt werden: Man wollte hoch fliegen und hat doch flach gelandet.


Wolpertinger

Enzian, Yorckstraße 77

Wo der blaue Enzian blühte

Den Enzian, ein als Kneipe funktionierendes Gesamtkunstwerk, gibt es nicht mehr. Es ist jedoch wichtig zu wissen, dass es – auch noch in den ersten Jahren nach der Jahrtausendwende – in folgender Weise existierte.

Im Mittelpunkt stand der Wolpertinger, wie er auf diesem Archivfoto zu sehen ist. Das heutzutage sehr seltene, geschützte Tier ist bekanntlich in Bayern heimisch. Mit Wolpi, wie ihn die Einheimischen liebevoll nennen, wurde durch das intime Beisammensein eines Hasen, eines Turmfalken und eines inzwischen ausgestorbenen kleinhornigen Tieres die Fauna bereichert. Links vom Wolpertinger, über dem Eingang, sah man die Büsten von Marx, Lenin und Thälmann. Ihnen gegenüber war Heinrich Lübke, der seiner Nazi-Vergangenheit verdächtige und nach seiner eigenen Meinung negerliebende Präsident der Bundesrepublik aufgehängt.

Unter dem Wolpertinger, hinter der Theke, schlenderte der wahre Heino umher. Der wirkliche Heino führte einen langen Prozess gegen den wahren Heino, um zu klären, welcher von ihnen der wasserstoffblonde Schlagersänger mit der schwarzen Brille war. Der wahre Heino musste schließlich achtzehn Tage absitzen, da er doch auf seine Identität bestand.

Es ist unmöglich, Kreuzberg ohne den wahren Heino historisch zu verstehen, und er ist wiederum nicht zu begreifen, ohne über folgendes Zitat aus einem Interview gründlich nachzudenken. Über seine musikalischen Pläne sagte er: »Um die Nationalhymne zu furzen, brauche ich allerdings eine längere Vorbereitungszeit. Es gibt da ein Spezialrezept, man muss ziemlich vegetarisch essen, vor allem viele Körner. Es ist übrigens mittlerweile erwiesen, dass Vegetarier besser furzen können als Fleischesser.«

Der Geschmack des Schnapses, nach dem die Kneipe benannt war, kommt aus der Tiefe wie die Wurzel, aus der er gebrannt wird: Er schmeckt feucht wie die Erde und kalt wie der Tod. Den Geist macht er aber lebendig. Daher waren im dunklen Raum die hier und da aufblitzenden winzigen Funken, die durch die stetige Spannung verursachten Entladungen, blau. Die den Ort nicht gewöhnten Gäste saßen wie versteinert und stumm da. Obwohl, um einen namhaften Linguisten zu zitieren: »Mit der Zunge sind viele Probleme lösbar.«


Ursula Sax

Looping, 1992

Messedamm/Halenseestraße

Purzelbaum

Die große Frage einer großen Stadt ist, ob sie nur auf Autos oder auch auf Menschen zugeschnitten ist. Das Straßennetz des künftigen Berlins mit mehreren Millionen Einwohnern wurde im Jahre 1862 von einem 37jährigen Stadtrat, James Hobrecht, gezeichnet. Er bestimmte die Breite der Straßen und die Höhe der Häuser. In die Zukunft konnte er nicht sehen, und irgendwie hat er es doch getan. Infolge seiner Geräumigkeit ist Berlin die einzige mitteleuropäische Stadt, die auch 150 Jahre später dem Sturm von Autos standhält.

In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts war das traditionelle Stadtbild Westberlins von einer Zerstörung bedroht, die das Werk des 2. Weltkriegs vollendet hätte. Entsprechend der Idee einer modernen Großstadt wurden Wohnsiedlungen anstelle der alten Mietshäuser geplant, und man dachte die wichtigste Funktion der Stadt im freien Strom von Kraftfahrzeugen gefunden zu haben. Große Theoretiker der modernen Architektur und Beamte des Berliner Senats hatten ihr gemeinsames Schlüsselwort: Autobahn!

Um die Stadt des 19. Jahrhunderts zu schützen, entfaltete sich eine einzigartige soziale Bewegung. Nach ihrem Prinzip, das heute freilich als völlig absurd erscheint, sollten über die Zukunft einer Stadt ihre Bewohner und nicht die mit ihren Modellen spielenden Architekten, die städtischen Bürokraten sowie Immobilienspekulanten entscheiden. Es gelang schließlich, die Zerstörung wenigstens zu begrenzen.

Eine Autobahn ist zweifellos zeitgemäß, weil man darauf rasend vorwärtskommen kann. Man sollte nur den Nachteil einkalkulieren, dass die Verödung der Seele proportional zur Geschwindigkeit wächst. Die Arbeit von Ursula Sax steht in einer solchen Gegend Berlins, die von der Stadtautobahn beherrscht wird, wo ein Fußgänger als Fremdkörper erscheint. DasLooping bäumt sich heiter und ungezwungen gegen eine Situation auf, welche die Künstlerin als »Un-Stadt« bezeichnete. Der Druck in den Händen, die das Lenkrad krampfhaft umklammern, wird durch die Lockerheit des sich munter drehenden und windenden gelben Bandes gelöst.


Micha Ullmann

Bibliothek, 1994

Bebelplatz

In der Tiefe

Musikalischer Ton oder mathematische Gleichung dürfte so klar und einleuchtend sein wie diese Komposition. Kleine, quadratische Glasplatte auf dem Boden in der Mitte des Bebelplatzes. Darunter ein heller Raum, 7x7 Meter, mit leeren Regalen entlang den Wänden. Sie bieten Platz für zwanzigtausend Bücher. Für jene zwanzigtausend, die dort von erregten Studenten mit erhitzten, roten Gesichtern am 10. Mai 1933 ins Feuer geworfen wurden. Auf der Bronzeplatte neben dem Glas steht die Prophezeiung Heinrich Heines aus dem Jahre 1820: »Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.«

Unter den zahlreichen Denkmälern, die in Berlin an den Holocaust erinnern, erlebte keine ein so ruheloses Schicksal wie Micha Ullmans Bibliothek. Im Hintergrund stand – wie so oft bei der Zerstörung des Stadtbildes – das Zusammenspiel von Politik, Bürokratie und Privatkapital. Vergeblich sah der Künstler nicht nur das Werk, sondern »den ganzen leeren Bebelplatz« und »die Leute, die nach unten schauen« als das Denkmal an, es war vermutlich genau diese Leere, die manche Vermarktungsexperten genervt hatte: ein Platz im Stadtzentrum, der nur einen spirituellen Sinn, aber keine profitable Funktion hat.

Der erste Eingriff fällt von außen kaum auf. Nur Abstiege markieren auf der Oberfläche, am Rande des Platzes, dass unten, um das Mahnmal herum, eine Tiefgarage gebaut wurde. Schließt man sich jedoch der Deutung Micha Ullmans an, wonach es beim Denkmal um »das Grab einer Bibliothek« handelt, lassen sich die Aushebung der Erde, die um die Bibliothek zirkulierenden Abgase und das Gerassel der Motoren kaum anders als Grabschändung verstehen.

 

Die zweite Idee zur Nutzung des Bebelplatzes war nicht einfach rücksichtslos, sondern pervers: Auf dem Platz wurde 2008 ein Zelt aufgebaut, um eine heitere und ausgefallene Modemesse, Fashion Week genannt und von Mercedes-Benz verantwortet, zu veranstalten. Das Denkmal als Störfaktor war im Zelt mit Seilen abgesperrt und beraubte damit der Modeschau wertvolle Quadratmeter.

»Die Schauen im Juli 2008 waren ein großer Erfolg und die zentrale Lage hat dazu beigetragen. Ich bin sicher, dass sich die positive Entwicklung des Events hier fortsetzt«, feierte Wirtschaftssenator Harald Wolf von der Linkspartei das Ereignis. Die Freude des Senators durfte nicht länger als bis Januar 2010 dauern. Nach mehreren Veranstaltungen der Modemesse richteten bekannte Persönlichkeiten im Dezember 2009 eine Petition an das Abgeordnetenhaus. Der Künstler forderte in einem Brief: »Lasst diesen Ort in Ruhe.« Ihr Protest wurde nach einer öffentlichen Anhörung vom Erfolg gekrönt. Nach einem letzten Aufmarsch der besten Klamotten zog die Messe auf die Straße des 17. Juni um.

Es blieb nur noch eine Frage offen, wie das Lifestyle-Magazin LesMadssie empört formuliert hatte:»Wie soll jemals eine steigende Akzeptanz gegenüber Mode entstehen, wenn diese in Deutschland noch immer nicht als Kulturgut betrachtet wird?!«


Anne Poirier, Patrick Poirier

La Fontaine de Gorgo, 1987

Henriettenplatz

Das Gorgo-Mädchen

Bloß das nicht, versteinert zu werden! In der Tiefe sitzt immer die Angst. Schwindelig, als ob vom Wirbel gedreht. Man sollte vor diesem Mädchen Angst haben, und hat man doch nicht. Ehemals hatte man mehr Angst. Nicht so sehr vor der Diktatur. Etwas mehr vor den Eltern. Am meisten aber vor dem kleinen Gál.

Wenn man nach dem Unterricht in der Grundschule hörte, »sie warten draußen auf dich«. Beziehungsweise nur er: der kleine Gál. Der kleine Gál, der nach der Schule auf dem Weg nach Hause ständig hinter dir ist. So lauft ihr eine Weile auf den Straßen der Josefstadt, des 8. Bezirks von Budapest, bröckelnder Fassaden entlang. Du vorne und hinter dir der kleine Gál. Merkwürdigerweise kommt er immer nur bis zur Bezirksgrenze, der Üllői Straße, niemals rüber in die Franzenstadt, den 9. Bezirk. Er kommt, kommt, und in einem beliebigen, aber unvermeidlichen Moment (freilich noch vor der Üllői Straße), tritt er dir in den Hintern. Es ist ein billiger Vergleich, und doch, der kleine Gál war wie das Schicksal. Nur hat das Schicksal keinen großen Bruder, mit dem du Freundschaft schließt, und der dann den Kleinen anherrscht, lass ihn doch endlich in Ruhe.

Vor der Medusa muss man keine Angst haben. Sie guckt eher milde, mit ihrem rechten Auge bestimmt. In ihm zeigt sich das Meer des Leidens. Denn, Kenner der griechischen Mythologie dürfen dies überspringen, was geschah eigentlich? Des Gorgo-Mädchens Schicksal war Poseidon. Und Athene? Nicht genug, dass der sexistische Poseidon Medusa verführt, nach heutiger Auffassung vergewaltigt. Und dann nur deshalb, weil es in ihrem Tempel passierte, verwandelt Athene die Haare der Medusa in Schlangen, und entstellt sogar ihre Schwester. Sie verleiht ihr einen Blick, der jeden zu Stein werden lässt. Medusa wird schließlich von Perseus getötet, da oben ist seine Hand, wie er in ihren abgeschlagenen Kopf greift. Die kleine Pointe der Geschichte, der dem Rumpf entsprungene Pegasos, ist auf der Rückseite der Skulptur zu sehen.

Die Arbeit von Anne und Patrick Poirier wurde 1987 am Henriettenplatz, am Ende des Kurfürstendammes, aufgestellt. Ein schöner Platz könnte es sein, wenn ihn der rasende Verkehr nicht in zwei Hälften schnitte. Medusa, der Obelisk und die die Bushaltestelle schmückende »dorische« Kolonnade von Heinz Mack, könnten sich zu irgendetwas zusammensetzen. In diesem Bild könnten wir sitzen, wir wären im Bilde, würden aus ihm herausschauen, heraus aus dem Bild in unseren Köpfen, und uns vorstellen, dass wir im zusammengesetzten Bild des kleinen Platzes sitzen, wenn es ihn gäbe.


Karl Pracht

Heinrich von Kleist-Herme, 1899

Viktoriapark, Achse der Monumentenstraße

Hart am Kleinen Wannsee

Wären die Lauben nicht da, und es wäre ein Wintertag vielleicht, dachte der Schriftsteller aus Ungarn, ein Staropramen vor sich, obwohl er lieber ein Guinness gewollt hätte, hätte ich sie sehen können, dort, vor dem Stimmingschen Kruge, sie scherzten im Hofe mancherley Art, er sprang über die Bretter in der Kegelbahn, komm, Henriette, mach mir nach, und dann laufen die beiden, wie der Wirt es vom Wirtshaus sieht, auf dem gegenüberliegenden Ufer des Kleinen Wannsees herum, werfen Steine in den See, wie Verliebte, denkt er, und sie schicken die Frau vom Tagelöhner Riebisch hin und her, bestellen zuerst Kaffee, dann Tisch und Stühle, einen Bleistift wollen die Herrschaften auch noch, murmelt die Frau, die nicht weiß, dass der abgedeckte Korb neben ihnen voll ist mit Pistolen, na gut, es waren nur drei, und als sie sich entfernt, zuckt sie zusammen, weil sie einen Schuss hört, läuft noch fünfzig oder sechzig Schritte, als der zweite Schuss fällt, sie treiben einen Scherz, die Herrschaften, mutmaßt sie.

Dies alles hätte ich gesehen, im Jahre 1811, obwohl ich es auch jetzt vor mir sehe mit den Augen des Wirtes und mit denen der Frau des Tagelöhners, sehe es jedoch nur mit den Augen des Heinrich von Kleist, dem die neuere ungarische Literatur, deren Vertreter hier in der Nähe als Stipendiaten des Literarischen Colloquiums von Zeit zu Zeit im kleinen Schloss weilen, soviel zu verdanken hat, dass ich die Pistole auf Henriette Vogels Brust richte, abdrücke und dann neu lade, bevor ich mir den Pistolenlauf in den Mund halte, um ein zweites Mal zu schießen, während Frau Riebisch noch fünfzig oder sechzig Schritte läuft, ich schaue also mindestens eine halbe Minute lang Henriette an, sehe sie sterben, dann kippe ich nach vorne und bleibe in einer fast knienden Stellung vor ihr, natürlich nicht ich, sondern Kleist, an dessen Brüsten ..., o weh, dafür muss ich noch ein besseres Bild finden, mehrere Größen der neuen ungarischen Literatur schlossen sich jedenfalls den Rhythmus der nicht gerade kurzen, aber mit Satzzeichen kurz gegliederten, bisweilen falschen Sätze, die Rhetorik ist manchmal wichtiger als die Grammatik!, ins Herz, dachte er in einem Satz, den er gleich zu Papier hätte bringen können, was er aber nicht tat, nur das Staropramen auf dem Tisch, das gut schmeckte, auch wenn er lieber ein Guinness getrunken hätte, wobei es ihm noch einfiel, dass sie in einer kleinen Grube lagen, auf einem Hügel hart am Kleinen Wannsee, nicht dort, wo der Grabstein, den man seitdem hin und her versetzt hat, sich jetzt befindet, und dass sie als Selbstmörder am Tatort, nicht auf dem Friedhof bestattet wurden. Da erhob er sich, um zu gehen und, sobald er in seine Unterkunft zurückgekehrt war, diesen Satz zu vergessen – ob vorläufig, sei endgültig dahingestellt.


Ayse Erkmen

Evde – Am Haus, 1994

Heinrichplatz

Hauskonjugation

Es ist offenkundig, dass in den 70ern und 80ern kaum einen geheimnisvolleren Ort auf der Welt gab als Kreuzberg. Nur noch eine Frau im reiferen Alter ist in der Lage, so viele Rätsel aufzugeben.

Die Stadt lebt in ihren Kneipen, sagt das Sprichwort und wenn nicht, dann sollte es ein solches geben. Sie bildeten das Gewebe Kreuzbergs, das man Nacht für Nacht wie besessen aufzuräufeln versuchte.

Gegen die roh verputzten Wände der alternativen Kneipen setzten weiß getünchte türkische Imbisse Kontrapunkte, ihre Theken dekorierten noch keine farbig leuchtenden Speisekarten, höchstens abstoßende und zugleich anziehende Bilder von der Brücke am Bosporus. Kreuzberg von damals war eine Subkultur, in der man es wenigstens zeitweise versuchte, das Leben selber zu gestalten. Und zweifellos tranken alle Becks aus der kleinen Flasche.

Der Heinrichplatz im Herzen von Kreuzberg war deshalb wichtig, weil in der Roten Harphe ein gewisser Max Haschisch verkaufte, und ihm gegenüber, in der Ecke, immer einer saß, der wie Solschenizyn aussah, als ob sich dieser als Rasputin getarnt hätte.

Die Erscheinungsformen der dortigen türkischen Kultur beschränkten sich meistens auf alltägliche Utensilien: Kopftuch, Rolltüte und gigantischer Kinderwagen. 1994 geschah jedoch, dass Ayse Erkmen an der Ecke des Heinrichplatzes mit den Suffixen einer besonderen Modalform der türkischen Sprache eine Hausfassade schmückte. Als ob die wispernden Endungen der Gespräche unter den Wänden aus dem Haus herausklingen würden – ohne vollständige Bedeutung, obwohl ihrem Ursprung nach unverwechselbar.

In Kreuzberg ist es ansonsten einfach, auch solche türkische Überschriften zu finden, die ganz bestimmt einen Sinn haben. Es würde allerdings nur den Genuss verderben, wenn man die wunderschönen Wörter über einem Lebensmittelgeschäft entschlüsseln wollte: GIDA PAZARI!


Karl-Friedrich Schinkel

Denkmal der Befreiungskriege, 1821

Viktoriapark

Patriotisches Eisen

Die Grundsteinlegung für das nationale Denkmal der preußischen Befreiungskriege gegen Napoleon im Jahre 1818 muss man sich so vorstellen, dass Friedrich Wilhelm III. und Zar Alexander I. auf einem kahlen Hügel stehen. Südlich schauen sie auf einen Exerzierplatz, nördlich auf Berlin in der Ferne, ansonsten sehen sie nur Agrarwirtschaft in der Gegend. Es gibt also noch kein Anzeichen dafür, dass diese Erhebung sich später zu jenem gemütlichen und frivolen Ort entwickeln würde, wie er an anderer Stelle unter dem Namen Viktoriapark beschrieben wird.

Nach Vorstellung des Königs mussten hier nicht, wie nach dem dritten Schlesischen bzw. Siebenjährigen Krieg, einfach die siegreichen Generäle gefeiert werden, sondern das Gesamte, die Reihe der Schlachten, die zum Sieg führten. Was könnte jedoch einen ganzen Feldzug symbolisieren? Man entschied sich dafür, die einzelnen Kämpfe zu personifizieren; so entstanden die in den Nischen posierenden zwölf Genien, diese bewundernswerten, aus heutigem Blick durchaus komischen Gestalten.

Die Gesichter erinnern zwar manchmal an die der Generäle, manchmal jedoch nur an – in zwei Fällen sogar weibliche – Mitglieder der Hohenzollern, die mit den Ereignissen entfernt zu tun hatten. Zur Erklärung ist unter jeder Figur der Ortsname der jeweiligen Schlacht zu lesen.

Es dürfte kaum überraschen, dass das Denkmal im Zeichen des Patriotismus steht. Merkwürdig sind die Stilmittel und das Material, durch die man dieses Ziel erreichen wollte. Zunächst die Architektur, die auf das Mittelalter verweisende Neugotik, die man für den ursprünglichen und unverfälschten deutschen Stil hielt, und dann die Genien mit Lanze, Schwert und Zepter in Tunika, Landwehr-Uniform oder aber in griechischen oder nordischen Harnischen, dazu eine Menge Lorbeerkränze. Das zweifellos mit größter Sorgfalt geschaffene und wohl durchdachte Denkmal ist damit von einem einzigartigen, konfusen Stil geprägt.

Damals hätte man es gewöhnlich aus Bronze gießen müssen, wofür es jedoch in Preußen seit Schlüters Reiterdenkmal keine Werkstatt gab. Die Not machte man zur Tugend, sofern das Gusseisen zugleich das Material des Befreiungskrieges war und deshalb – technische Schwierigkeiten hin, künstlerische Nachteile her – als etwas durchaus Patriotisches verstanden werden konnte.

 

Und schließlich der Grundriss und der Abschluss: die kreuzförmige Grundform und oben der vom König einige Jahre davor gestiftete Orden, das Eiserne Kreuz. Man darf es sich aussuchen, auf welchen der spätere Name des Hügels und dann des ganzen Bezirks zurückgeht.

Hinter der merkwürdigen Ausgestaltung des »Architektur-Denkmals mit interpretierendem Figurenschmuck« (Peter Bloch) sind allerdings nicht nur die Ideen der Künstler, des maßgebenden Architekten des Berliner Klassizismus, Karl Friedrich Schinkel, oder der Schlüsselfigur der Berliner Bildhauerschule des 19. Jahrhunderts, Christian Daniel Rauch, sondern auch die Vorstellungen des königlichen Auftraggebers zu vermuten.

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