Kein Krieg in Deutschland

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»Das ist absurd«, Agnes wurde laut.

»Wahr! Nur, wie lange liegen deine Versuche zur genetischen Therapie der motorischen Unruhe beim Menschen schon brach? Wie viel weiter könnten wir sein? Es sind die Menschen, die sich über die Regeln ihrer Zeit hinwegsetzen, die ihre Zeit voranbringen.«

»Es geht um die Zukunft unserer Art«, sagte Agnes fest. »Das dürfen wir nicht allein entscheiden.«

Frida sah sie mit weit geöffneten Augen an. »Ich wünschte, ich hätte deine Geradlinigkeit.«

Wenig später verließ Agnes das Büro. Beinahe rannte sie. Sie war glücklich, als sie ihr Labor erreichte: Das Weiß der Wände, die glatte Fläche ihres Arbeitstisches, die klirrende Härte der Reagenz- und Bechergläser. Hier herrschte Klarheit, Gewissheit. Mit routinierten Griffen zog sie die Box mit der Aufschrift »Mucoviscidose-Manipulation« aus dem Trockeneis, griff eines der elf Röhrchen heraus und stellte es in die Halterung. Sie stutzte. Irgendetwas war da gewesen, da stimmte was nicht, aber was war es? »Unsinn«, dachte sie sich, aber das Gefühl blieb, während sie unter dem Mikroskop mit der Therapie begann. Nach einer Stunde konzentrierter Arbeit stellte sie die genveränderten Embryoblasten zurück. Dabei bemerkte sie es: Der Deckel der »anderen Box« war nicht verschlossen, lag nur locker oben auf. Die »andere Box«: Agnes hatte die Diagnostik gebeten, überzählige Embryoblasten, wie sie regelmäßig bei künstlichen Befruchtungen anfielen, screenen zu dürfen. Sie war sich sicher, die Basenfolgen zu kennen, die die motorische Unruhe kodierten. Wenn sie einen Embryoblast entdeckte, der das Phänomen aufwies, sortierte sie ihn in die »andere Box« – für später. Irgendwann würde sie daran forschen dürfen. Jetzt stand die Box offen.

»Die Wunder des Alltags«, murmelte Agnes. Sowas passierte. Sie zögerte. Es wäre ein Leichtes gewesen, eine der Zellkugeln herauszunehmen, nur um sie unter dem Mikroskop genauer zu betrachten. Agnes drehte entschieden den Deckel zu. Sie war fertig hier. Als sie mit ihrer Aktentasche auf dem Flur stand, gab sie wie üblich den Verriegelungscode auf ihrem Handy ein, das Schloss der Labortür leuchtete rot auf. Agnes wandte sich zum Gehen, kehrte jedoch nach einigen Schritten um und drückte gegen die Labortür. Alles in Ordnung, die Tür war verschlossen.

Plötzlich verspürte Agnes Angst. Sie wollte nach Hause zu Adrienne. In ihrem Büro stellte sie fest, dass Robert schon gegangen war. Agnes schickte ihm eine Notiz auf den Schirm für informelle Kurznachrichten: »Hast du kürzlich die Box mit den motorisch Unruhigen geöffnet? Wer hat alles den Schließcode vom Labor? Bis morgen! Agnes.«

Agnes nahm den Außenfahrstuhl hoch zu ihrem Apartment. In der Wohnung war es dunkel, als sie aus dem Fahrstuhl stieg. Sie zoomte das Licht hoch. Keine Nachricht auf dem Küchentisch. Heute Morgen hatte dort ihre offene Hand gelegen. Agnes setzte sich an den Tisch und legte den Arm so, wie er am Morgen dort gelegen hatte.

Sie hatte es nie gemocht, allein in die dunkle Wohnung zu kommen. Adrienne hatte ihr geraten, eine Freundin anzurufen, wenn sie sich allein fühlte. Erst viel später verstand sie, dass Agnes keine Freundin hatte, die sie anrufen würde.

Sie hatten sich geeinigt, dass Adrienne eine Nachricht hinterließ, wenn sie ohne Absprache abends ausging. Mit wenigen Ausnahmen hatte Adrienne sich daran gehalten. Heute lag keine Nachricht da. Auch auf dem Handy war keine Message angekommen.

Agnes drückte die Radiofunktion. Der Nachrichtensprecher hatte eine tiefe, beruhigende Stimme. Aber dann begann er, Agnes von den schwarzen Hubschraubern zu berichten, die an der Mauer des Hochhauses aufgestiegen waren. Sie wollte nichts darüber hören und schaltete das Radio aus.

In den vergangenen Jahren war es meist Agnes gewesen, die abends nicht zu Hause war, weil sie bis spät in die Nacht arbeitete. Was machte das schon?, dachte sie. Adrienne hatte so viele Freundinnen.

»Nicht schlimm?«, hatte Adrienne irgendwann gebrüllt. »was denkst du denn! Ich möchte mit dir Zeit verbringen. Mit dir, verstehst du?«

Nein, Agnes verstand das nicht – nicht wirklich –, aber es war doch schön. Sie hatte weinen müssen.

Als sie später ins Bett gegangen waren, hatten sie nach langer Zeit wieder miteinander geschlafen. Agnes lächelte in der Erinnerung daran. Dann versickerte das Lächeln in den Minuten, die vergingen. Sie spürte die Stille und Leere der Wohnung.

Adrienne war nicht da und Frida wollte, dass sie illegale Experimente durchführte. Agnes nahm das Handy und zielte auf den Vorratsschrank. Die Tür sprang auf. Sie stellte die Magnetfunktion ein. Geniale Erfindung, die Weinflasche flog geradezu auf den Tisch. Seit der Magnettransport auf fast jedem Handy installiert war, waren in alle Verpackungen Metallstückchen eingearbeitet. Agnes hatte zudem Geschirr mit Metallstreifen gekauft, sobald es auf dem Markt war. Jetzt holte sie sich mit der Magnetfunktion ein Glas.

»Mit diesen Erfindungen wird die Menschheit es tatsächlich noch schaffen, aus Bewegungslust eine Krankheit zu erschaffen«, hatte Adrienne genörgelt, als Agnes ihr begeistert die neuen Errungenschaften vorführte.

Schchch. Agnes schreckte auf. Das war der Fahrstuhl und er hielt direkt an der Außenwand der Küche. Die Tür öffnete sich und Agnes musste lachen, fiel Adrienne um den Hals. »Da bist du endlich. Ich hatte Angst, ganz alleine.«

»Hallo Agnes«, Helge stieg aus dem Fahrstuhl.

»Wir waren in der Redaktion«, Adrienne drückte Agnes an sich,: »Schön, dass du da bist.«

»Warum wart ihr in der Redaktion? Heute hast du frei, es ist Donnerstag.«

»Wegen der Demo«, mischte Helge sich ein. »Wir haben uns gewundert, wieso diese umstrittene Organisation spontan eine Großdemo auf die Beine stellen kann.«

»Es war alles schon lange geplant«, erklärte Adrienne, »sie wollten verhindern, dass es im Vorfeld Proteste gibt. Die Mitglieder sind über Mail informiert worden und haben über Mundpropaganda und Mailkontakt den Demotermin an Interessierte weitergegeben.«

Agnes überlegte; »Sie müssen viele Anhänger haben, wenn sie diese Masse nur durch Mundpropaganda mobilisiert haben.«

»Die Leute werden gefährlich.«

»Warum hat die Stadt ihnen die Genehmigung erteilt?«

»Weißt du das nicht?«, fragte Adrienne.

»Nein.«

»Rohloff, der derzeitige Bettgenosse deiner Frida und Sohn von Viktor Rohloff, Eigentümer des Unternehmens Manipulation und Kloning von Tieren und Pflanzen, hat unserem Bürgermeister einen Besuch abgestattet.«

»Ach. Rohloff geht mit Frida ins Bett. Ich dachte, er ist ihr Stichwortgeber.«

»Der sticht sie wohl nicht nur mit Worten.« Helge kicherte. Adrienne musterte ihn mit einem Blick aus dem Augenwinkel. Helge zog für einen Moment den Kopf ein.

»Wie auch immer, dieser Rohloff hat gesagt, wegen der Aktualität des Themas würde eure Abteilung und auch die Firma seines Vaters befürworten, dass die OzEmG ihre Demo durchführen kann und eine öffentliche Diskussion anstößt.«

»Aber woher wusste er davon, wenn nur Mitglieder …«, Agnes stockte, überlegte, »… und ihre Transparente haben sich auf meine Rede bezogen. Woher wussten sie, was ich sagen würde?«

»Du weißt es nicht? Wir dachten, du weißt vielleicht mehr.«

»Irgendetwas stimmt hier nicht.« Agnes erzählte von Fridas unausgesprochener Aufforderung und der geöffneten Box mit den Embryoblasten. »Ich will das nicht!« Sie sah Adrienne an und ballte die Fäuste. »Ich bin überzeugt von der Gentherapie, aber die Menschen müssen sich dafür entscheiden. Ich will nicht Gott spielen.«

Adriennes Augen umfassten sie ruhig und liebevoll: »Ich weiß, dass du das nicht willst.«

»Morgen ist die Gegendemo der Christen«, unterbrach Helge. »Wir fanden eine Demonstration etwas mager, um eine öffentliche Diskussion anzustoßen, das sieht doch eher nach Manipulation der Bevölkerung aus. So haben wir das dem Bürgermeister gesagt. Er hat uns daraufhin mitgeteilt, so sei es nun keinesfalls und dass die Christen für morgen eine Demo angemeldet hätten. Er habe sie gerade genehmigen wollen. Na ja, jetzt hat er sie genehmigt.«

»Es gefällt mir nicht, dass die Christen die Einzigen sind, die öffentlich gegen die Gentherapie eintreten.«

Zwischen Adriennes Augenbrauen erschienen senkrechte Falten. Agnes lächelte spöttisch und sagte: »Wahrscheinlich liegt es daran, dass es keine vernünftigen Argumente gegen die genetische Anpassung an die Zukunft gibt.«

Es war anders am nächsten Morgen, als Agnes und Adrienne aufstanden, obwohl sich doch nichts verändert hatte, eigentlich. Agnes hatte keine Lust auf die Magnetfunktion. Sie genoss es, mit Adrienne Becher und Teller auf den Tisch zu stellen.

»Ich müsste in die Redaktion«, warf Adrienne in den Raum. Agnes hätte schon längst aufbrechen müssen, aber am Ende riefen beide auf ihrer Arbeit an, sie hätten verschlafen, es täte ihnen sehr leid, wirklich peinlich ... Sie kicherten gemeinsam aus Freude über die gestohlene Zeit.

»Meine Schwester hat gemailt. Pauline ist schon wieder im Krankenhaus mit einem Lungeninfekt.«

»Das tut mir leid.« Agnes erschrak. »Ich wusste nicht, dass Pauline in letzter Zeit ins Krankenhaus musste.« Sie senkte den Blick, betrachtete ihre Hände.

»Ich hatte keine Gelegenheit, mit dir darüber zu sprechen. Du hast gearbeitet.« Adriennes Stimme blieb angestrengt sachlich. »Pauline hat Angst, dass der Ausbildungsbetrieb das nicht mehr mitmacht mit ihren Fehlzeiten.«

»Können wir etwas für sie tun?«

»Nun«, Adriennes Stimme war hart geworden, »du sorgst dafür, dass diese Krankheit in Zukunft nicht mehr existiert, da tust du schon sehr viel. Was Pauline angeht – meine Schwester ist, wie du weißt, sehr gläubig und hätte sicher damals eine Gentherapie verweigert. Aber da sie die Gelegenheit nicht hatte, brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, dass wir die Behandlungen nicht bezahlen können.«

 

»Bitte Adrienne«, Agnes gab ihrer Stimme einen beschwörenden Klang, »du weißt, dass ich im Notfall immer für Pauline einstehen würde. Auch finanziell.« Sie legte die geöffnete Hand auf den Tisch, so wie sie es am Tag zuvor getan hatte. Adrienne biss die Zähne zusammen.

»Ich weiß das doch.« Schnell nahm sie Agnes’ Hand und hielt sie fest. Sie weinte.

Sie wären ohnehin zu spät gekommen. Als sie aus dem Haus traten, gerieten sie direkt in die Christendemo hinein. Adrienne trug ihr Fahrrad zurück in den Hof. Nicht einmal ein Flugtaxi würde hier durchkommen. Der Luftraum war blockiert von Zeppelinen, einige selbstironisch in der Form von blondgelockten Engeln.

Eigentlich war es schön, noch ein wenig zusammenzubleiben. Außerdem, so Adrienne, konnte sie auf der Demo für ihren Artikel recherchieren. Und sie müsse für die Talkshow am Abend die Argumente der Gegner kennen, fand Agnes.

Es ist nicht Sache der Menschen, ihren Bauplan zu verändern, stand auf einem Transparent. Agnes runzelte die Stirn. Sie las das nächste flatternde Band:

Auch der moderne Raskalnikow findet nur durch Gott zu Menschenachtung.

»Wer verachtet denn die Menschen? Wir trauen der Menschheit offensichtlich mehr zu als die«, brummelte Agnes.

»Sie meinen, ihr verachtet die menschlichen Gene.«

Glaube schützt vor Anmaßung.

»Die graben sich selbst das Wasser ab. Anscheinend gibt es außerhalb von Gott keine Gründe gegen die Gentherapie.«

»Es erscheint vielen Christen im Moment noch nicht so dringlich, die Gentherapie zu verhindern«, vermutete Adrienne, »sie wollen die Gelegenheit nutzen, um unter den Therapiegegnern neue Gemeindemitglieder zu gewinnen.«

Gott hat das Leiden erschaffen, um uns Mitgefühl zu lehren.

»Um einen Mangel an Leid mache ich mir jedenfalls keine Sorgen«, spottete jetzt Adrienne, »um einen Mangel an Mitgefühl schon eher.«

Sie hatten sich zum Moritzplatz durchgekämpft und Adrienne musste weiter die Oranienstraße hoch, Agnes rechts in die Heinrich-Heine. Unschlüssig blieben sie stehen.

»Ich wünsche dir einen guten Auftritt«, sagte Adrienne.

»Und ich dir ein paar knackige Tatsachen für deinen Artikel.«

Sie hatten sich seit langer Zeit nicht auf den Mund geküsst, so dass sie ganz verlegen wurden. Dann winkten sie hektisch und rannten los, als würde genau in diesem Moment die gefrorene Zeit aufgetaut.

Robert wunderte sich, als die Tür schwungvoll aufgerissen wurde und Agnes ein fröhliches »Guten Morgen« schmetterte.

»Hast du in deinem fortgeschrittenen Zellteilungsstadium noch eine Kompletttherapie durchführen lassen?«, fragte er.

»Sag mir lieber, was mit meiner motorisch unruhigen Box passiert ist.«

Er hob die Hände und versicherte seine Unschuld. Außer ihnen habe sonst nur Frida den Code der Labortür.

»Was könnte Frida mit meinen Embryoblasten wollen?«

Er reichte ihr den Ordner Gentherapie in den Medien. »Manchmal hilft es, sich mit der Gegenwart zu beschäftigen statt mit den nächsten Jahrtausenden.« Wortlos nahm sie ihm den Ordner aus der Hand. Er redete weiter: »Ostasien ist vor zwei Wochen aus dem weltweiten ,Abkommen über die ethischen Grenzen von Experimenten am menschlichen Embryoblasten‘ ausgestiegen. Wenn Frida mit eurer Forschungsarbeit Ruhm erlangen möchte, muss sie sich beeilen.«

Agnes ließ die Hand mit dem Ordner sinken, legte ihn auf den Tisch, öffnete ihn, blätterte.

»Wieso Ruhm?«, fragte sie. »Ich verstehe das nicht. Es geht um die Zukunft der Menschheit.« Sie sah ihn lange an. Dann sagte sie ruhig: »Du musst dein Gesicht abwischen. Du hast da was.«

»Ja? Und was?«

»Ein dreckiges, mitleidiges Lächeln. Und jetzt brauche ich Ruhe. Ich muss nachdenken und ich muss meinen Auftritt heute Abend vorbereiten.« Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und ließ den Computer hochfahren.

Im kleinen Schwarzen und in ihren schwarzen italienischen Pumps stieg Agnes aus dem Taxiflieger und ging auf das Gebäude des RBB zu - Rundfunk Berlin/Brandenburg, der traditionsreichste Sender der Stadt. Sie war ungeschminkt. Man würde sie ohnehin gleich in die Maske setzen.

»Hallo«, Marina kam ihr mit ausgestreckten Armen im Forum entgegen. »Frau Krauß! René Reuter von der OzEmG und Herr Luther als Vertreter der Kirche sind auch schon da. Haben Sie Ihre Kernaussagen formuliert? Ich möchte mich mit meiner Moderation darauf einstellen.«

»Nein«, Agnes lächelte, »Ich habe keine Ahnung, was ich sagen werde.«

Die Scheinwerfer flammten auf. Agnes saß entspannt in ihrem Ledersessel und nickte ihren Diskussionspartnern zu. Ein angenehmer Begleiteffekt der »Anstrengungen zur Absicherung der Energieversorgung« war, dass die Wärmestrahlung der Scheinwerfer in den vergangenen fünfzig Jahren stark reduziert worden war. In ihrem Kleid war es Agnes angenehm kühl. Sie wusste, dass sie elegant, überzeugend und seriös wirkte, wenn sie wie jetzt den Arm locker auf der Rückenlehne liegen hatte und mit wachem Gesichtsausdruck verfolgte, was um sie herum geschah.

Marina begann ihre Anmoderation: »Heute ein brandaktuelles Thema. Soll die embryonale Gentherapie von Erbkrankheiten Pflicht werden? Wie steht es mit der Ausdehnung des Krankheitsbegriffes auf Erscheinungen wie Elektrosmog- oder Hitzeübersensibilität oder, besonders heiß umstritten, auf den Befund der übermäßigen motorischen Bedürftigkeit.«

»Ich habe keine Ahnung, was Agnes sagen wird«, flüsterte Adrienne und lehnte sich an Helges Schulter.

Auf dem Bildschirm hatte sich Marina mittlerweile an René gewandt: »Herr Reuter, Ihre Forderungen sorgen immer wieder für große Aufregung in der Bevölkerung. Ihnen wird vorgeworfen, die Menschheit in wertvolle und wertlose Genkombinationen einzuteilen. Worum geht es da?«

»Es geht im Kern um die Angst der Menschheit vor Veränderung. Aber: ,Wenn die Menschheit dauerhaft überleben will, muss sie sich verändern‘. Ein Zitat von Frau Krauß, deren wissenschaftliche Leistung meine ganze Hochachtung hat.« Er nickte Agnes freundlich lächelnd zu.

»Schwadronieren Sie nicht!«, fuhr Herr Luther dazwischen. »Es geht im Klartext darum, dass Sie Gene, die nicht in ihre ,Schöne Neue Welt‘ passen, für unwert erklären. Sie wollen Gott spielen und einen neuen Menschen erschaffen. Der Krankheitsbegriff ist doch nur ein Trojanisches Pferd, in dem Sie Ihre größenwahnsinnigen Phantasien zu verstecken suchen.«

René lächelte erneut. »Jetzt schwadronieren Sie. Es geht zur Zeit um Erbkrankheiten wie Diabetes und Mucoviscidose. Wenn die Menschheit in der Vergangenheit gedacht hätte wie Sie, wäre die Pockenimpfung niemals Pflicht geworden. Es ist die Aufgabe der Gemeinschaft, sich gegen Außenseiter zu schützen, die unsere gemeinsamen Anstrengungen zur Bekämpfung von Erbkrankheiten unterlaufen. Nicht wahr, Frau Krauß?«

Agnes Augen verengten sich zu Schlitzen.

»Das macht sie immer, wenn sie merkt, wie sie in eine Ecke getrieben wird.« Adrienne krallte eine Hand in Helges Oberschenkel.

In ihrem Büro verfolgte Frida die Talkshow an ihrem Computer.

»Der Reuter ist wirklich gut«, sagte Rohloff hinter ihr.

Marina wandte sich an Agnes: »Frau Krauß, die Gentherapie ist Ihr Arbeitsbereich. Wie ist ihre Meinung: Sollte die gentherapeutische Behandlung von Erbkrankheiten zur Pflicht werden? Wir wissen, dass Sie seit Jahren in den Startlöchern stehen, die Möglichkeiten der genetischen Behandlung der MÜB zu erforschen. Wie begründen Sie die Ausdehnung des Krankheitsbegriffes auf eine Erscheinung, die viele für grundlegend menschlich halten?«

Adrienne beugte sich vor.

Frida ließ Agnes schmale Erscheinung auf dem Bildschirm nicht aus den Augen. Ihr Zeigefinger bewegte sich langsam auf und ab.

Agnes stand auf. »Ich stehe jetzt hier in erster Linie nicht als Wissenschaftlerin, sondern als Demokratin.«

Frida seufzte.

»Ich habe nachgedacht und bedaure meine Haltung bezüglich der Versicherungsleistungen. Solange es das Recht auf genetische Selbstbestimmung gibt, darf es nicht durch Schikanen anderer gesellschaftlicher Institutionen unterwandert werden.«

René Reuter knabberte nervös an seiner Unterlippe.

»Nach wie vor bin ich persönlich für eine Beschneidung dieses Rechtes …«

Herr Luther sprang auf, setzte sich aber wieder und Agnes fuhr fort: »… aber es ist Sache der gewählten Volksvertretung, das zu entscheiden. Rechtlich entschieden ist bereits, dass wir, sofern der Befund einer Erbkrankheit vorliegt, in das Erbmaterial eingreifen dürfen. Das ist meine tägliche Arbeit am Francis-Crick-Institut. Ich gebe Herrn Luther allerdings recht: Der Krankheitsbegriff ist das Trojanische Pferd.«

Reuter schloss die Augen und griff sich an die Stirn.

»Tatsächlich müssten wir nicht Krankheiten diagnostizieren, sondern uns offen den grundlegenden Fragen stellen: Welche Probleme kommen in den nächsten hundert Jahren auf die Menschen zu? Sollen und können wir weiterhin und dauerhaft die natürliche Umwelt an unsere Bedürfnisse anpassen oder müssen wir die Menschen genetisch verändern? Welche Richtung soll die Veränderung nehmen? Was ist uns technisch möglich und was können wir seelisch verkraften.«

»Sie ist großartig«, flüsterte Adrienne.

»Ja, ja, die Liebe«, Helge holte mit der Magnetfunktion die Schnapsflasche aus dem Kühlschrank und füllte zwei kleine Gläser.

Agnes blickte direkt in die Kamera, während sie mit klarer Stimme forderte: »Diese Fragen können nur nach einer breiten, sachlich fundierten Diskussion in der Gesellschaft von den zuständigen demokratischen Gremien entschieden werden. Das braucht Zeit.«

»Zeit, die wir nicht haben.« Rohloff starrte über Fridas Schulter hinweg auf den Bildschirm und ballte die Fäuste.

Reuter strich mechanisch mit dem Mittelfinger über die Falten auf seiner Stirn, während Herr Luther heftig zwinkerte und verwirrt in seinen Unterlagen blätterte. Keiner unternahm einen Versuch, Agnes zu unterbrechen.

»Ich habe in den letzten Tagen und auch in dieser Talkshow das Gegenteil erlebt. Auf Kosten von Klarheit und Ehrlichkeit der Auseinandersetzung versuchen einzelne gesellschaftliche Mächte ihre begrenzten Interessen durchzusetzen. Es geht nicht nur um die Gentherapie, es geht um Macht, um Ruhm und um Geld.«

René Reuter winkte ab und mühte sich, ein spöttisches Gesicht aufzusetzen. Als Agnes fortfuhr, wirkte es, als würde sie nur noch zu ihrem Kontrahenten sprechen. Die zweite Kamera schwenkte auf Reuter ein und zoomte sein Gesicht zur Großaufnahme heran.

»Soweit ich weiß, soll morgen im Berlin aktuell ein Artikel zu den Verflechtungen erscheinen, die bisher bekannt geworden sind.«

Auf den Bildschirmen Europas entgleisten Reuters Gesichtszüge.

»Ich sehe nicht, wie unter den jetzigen Umständen eine sachliche Diskussion eine Chance haben kann. Die Frage, ob und was am menschlichen Genom therapiert werden muss, braucht Zeit und hat Zeit.«

»Eben nicht«, schrie Rohloff, »eben nicht!«

»Wichtig ist, dass die Wissenschaft gezwungen wird, die rechtlichen Entscheidungen abzuwarten und zu akzeptieren. Ich plädiere für strenge Kontrolle aller Labore, in denen mit humanem Genmaterial gearbeitet wird.«

Stille

»Prost!« Helge hob sein Glas. Adrienne lachte, dass ihr die Tränen kamen: »Sieh nur diese Gesichter!«

Agnes wandte sich an Marina: »Mehr habe ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu sagen. Ich danke für die Einladung und für die Gelegenheit, meine Position hier differenzieren und in der Öffentlichkeit korrigieren zu können. Guten Abend.« Sie grüßte in Richtung der anderen Diskussionsteilnehmer und verließ das Studio.

Frida schaltete den Fernseher ab.

Rohloff starrte finster vor sich hin.

»Du musst etwas unternehmen. Sie muss runter von der Bühne.« »Schon gut, ich lasse mir etwas einfallen – morgen.« Halb lächelte sie, halb war es ein Grinsen. »Eine beeindruckende Frau.«

Adrienne hatte sich zum RBB-Gebäude fliegen lassen. Sie stürzte Agnes entgegen, die vor dem Eingangstor wartete. »Meine Heldin!«, rief sie.

Am folgenden Sonntag waren Helge und Robert bei Agnes und Adrienne zu Frühstück und Lagebesprechung verabredet.

»Auf Agnes, die künftige Chefin der Abteilung Gentherapie am Francis-Crick-Institut.« Robert hob das Glas.

 

Agnes errötete. »Das ist noch nicht entschieden«, wehrte sie ab. »Noch habe ich lediglich die kommissarische Leitung, nachdem Frida das Institut verlassen hat.«

Helge riss fragend die Augen auf.

»Sie war der Ansicht, dass sie dem Institut wegen ihrer engen Beziehung zu Rohloff, dessen Verfilzung mit der OzEmG nun bekannt geworden ist, nur schaden könne«, erklärte Agnes.

»Ja«, Robert nickte bedeutsam, »wir sind alle beeindruckt ob der selbstlosen Haltung unserer ehemaligen Chefin. Ich wüsste zu gern, was sie vorhat. Am Institut wären ihr die Hände gebunden, nun, da die Kontrollen verschärft werden.«

»Ach«, Agnes schüttelte den Kopf. »sie hat sich von Rohloff blenden lassen, das ist alles. Sie ist ein sehr einsamer Mensch, Einsamkeit macht verführbar.«

Robert seufzte.

Helge wechselte das Thema: »Die eigentlichen Gewinner der ganzen Angelegenheit sind die Christen. Heute erscheint in der Sonntagsausgabe der Berlin aktuell ein Sonderartikel von Probst Luther: ,Die Unantastbarkeit der Matrix göttlicher Schöpfung‘. Selbst unter Transen wird darüber gesprochen, wie wichtig es sei, dass es etwas gibt, das unverhandelbar über den Menschen steht und zeitlose Gültigkeit beanspruchen kann.«

»Die eigentliche Gewinnerin bin ich«, unterbrach Adrienne. »Agnes hat mir noch in der Freitagnacht ihre Zeit versprochen, Wochenendzeiten, Abendzeiten und Urlaubszeiten!«

»Ich würde mir das schriftlich bestätigen lassen, mit Terminabsprachen für das ganze Jahr.« Helge wiegte bedenkend den Kopf. »Wenn dann noch die Leitung des Institutes ansteht ...«

»Das geht schon«, Agnes errötete erneut, »ich werde mich neben der Leitungstätigkeit auf mein eigentliches Fachgebiet beschränken, die Mucoviszidose. Ich verstehe gar nicht mehr, warum ich soviel Zeit mit der MÜB verbracht habe – das Screenen der Embryoblasten, die Beobachtung der Mäuse, das waren ziemliche Zeitfresser.«

»Wir haben gleich Nägel mit Köpfen gemacht«, erklärte Robert. »Nach der Sondersitzung, die Frida am Samstag einberufen hat, sind wir mit dem Käfig voller Mäuse in den Park gewandert. Die motorisch überbedürftigen Tierchen waren glücklich, als sie endlich nach Herzenslust rennen konnten.«

Agnes lachte fröhlich: »Das hättet ihr sehen sollen! Es tut mir noch leid, dass ich sie jahrelang in die Gefangenschaft gezwungen habe. Ich frage mich immer noch, warum.«

»Tja«, Robert grinste, »ich denke, am Francis-Crick-Institut sind in den vergangenen Jahren nicht nur Embryoblasten manipuliert worden.«

»Ach Quatsch!« Agnes’ eben noch fröhliches Gesicht zog sich zusammen und zerknitterte.

»Und was wird mit den MÜB-Embryoblasten geschehen?«, fragte Helge.

»Nichts mehr! Ich habe sie zurückgelegt zu den anderen überzähligen Embryonen.« Sie sah auf die Uhr. »11 Uhr 24 – vor neun Minuten hat das Bestattungsritual begonnen, das wir einmal im Monat zur Verabschiedung der Embryonen veranstalten. Sie sind tot.«

Adrienne sah betroffen hoch.

Robert murmelte: »Wenn das nur nicht voreilig war – oder zu spät oder …«, für kurze Zeit nahm er Agnes in ein kühles Visier, dann zuckte er die Achseln und sagte für sich, »… oder Absicht.«

Zur selben Zeit saß René mit Frida im Café Himmelreich. »Ich habe die Wette gewonnen!« Frida lächelte mit dunkelrotem Mund im roten Kleid.

Er wischte einige Krümel vom Tisch. »Wie geht es weiter mit uns?«

»Ich habe Agnes’ Beförderung vorgeschlagen. Sie soll die Abteilung leiten – als meine Nachfolgerin. Sie hat das Zeug dazu. Und sie wird dafür sorgen, dass der Ruf des Francis-Crick-Institutes sich über alle Zweifel erhebt, selbst über Zweifel an meiner Person.«

»So! Und du?«

»Ich gehe zu Rohloff in die private Wirtschaft. Agnes hat vor langer Zeit die Basisfolge der MÜB an Mäusen entschlüsselt und Schlussfolgerungen für das menschliche Genom gezogen. Ich habe die Informationen aus ihrem Computer abgreifen lassen. Die Proben aus ihrer ,Geheimen Box‘ sind bereits in dem Labor, das du mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt hast. Es ist Gold wert, gerade jetzt, da die Kontrollen verschärft werden.«

René nahm einen Schluck von seinem schwarzen Kaffee. »Agnes Krauß wird wissen, dass die Proben bei dir sind, wenn sie feststellt, dass die Embryoblasten in ihren Reagenzgläsern fehlen.«

Sie lachte. »Ich kann mich auf Agnes’ Integrität verlassen. Sie tut keinen Blick in die Reagenzgläser, solange die Gesetzgebung es verbietet. Rohloff und ich haben beste Startbedingungen. Ich bin sicher, wir werden den Asiaten zuvorkommen.«

»Schön! So wendet sich alles zum Guten.«

»Ich danke dir für deine Hilfe, René. Dich halten wir selbstverständlich auf dem Laufenden.«

Er nahm den letzten Schluck Kaffee. Die Tasse klirrte, als er sie zurück auf den Unterteller setzte. Die Chipkarte in den Schlitz und er stand auf. »Die Rechnung habe ich für dich erledigt, Frida. Übrigens – wegen der Wette – ich bin nicht sicher, dass du gewonnen hast.«

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