Maritime E-Bibliothek: Sammelband Abenteuer und Segeln

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Kampf der Tsetsefliege

Im tiefsten und dicksten Harmattan mußte ich Abschied nehmen von Fernando P60, dieser sauberen, betriebsamen und rührigen Vulkaninsel. Zentimeter um Zentimeter bolzte sich die LIBERIA IV gegen Wind und Strömung nach Südsüdosten vor, und erst am vierten Tag einer überaus mühseligen Fahrt lief sie spät abends in die Bucht von Santo Antonio auf Principe ein. Da ich mich noch relativ frisch fühlte und wie bei allen Landungen auf unbekannten Inseln voller Erwartung, Freude und Neugier war, pullte ich den Lichtern am Ufer zu.

An der kleinen Mole machte man nicht schlecht Augen, als ich plötzlich aus der Dunkelheit des Meeres auftauchte. Ich erklärte den Afrikanern, die dort angelten, daß ich mich viel mehr nach einem kalten Bier als nach einem Hafenkommandanten sehnte, der mich durch die Knetmühle der Bürokratie drehen wollte. Aber die Fischer wußten, was sich in einem ordentlichen Gemeinwesen gehörte. Sie nahmen mich in Schlepptau und ruhten nicht eher, bis wir nach langem Suchen endlich den Hafenkommandanten trafen: er ging im Mondschein zu zweit spazieren. Natürlich behagte ihm die Störung wenig, und er meinte brummend, ich sei wohl bei der Polizei besser aufgehoben.

So landete ich denn um Mitternacht bei der Polizei von Santo Antonio, die jedoch im Gegensatz zum Kommandanten hocherfreut über die Abwechslung war und mir sogleich brühwarm den ganzen Inselklatsch auftischte. Aber mir war immer noch nach einem kalten Bier zumute, und in den frühen Morgenstunden durfte ich es dann endlich unter den Augen der halben Insel in die ausgedörrte Kehle gießen.

Am nächsten Morgen verholte ich mein Boot näher an die Mole. Über mir kreischten und pfiffen Scharen von afrikanischen Graupapageien mit roten Schwänzen, lustige Brüder, die ihre Fröhlichkeit und ihren Optimismus erst in der Gefangenschaft verlieren. Dann aber werden sie zuweilen so melancholisch, daß sie sogar zum Eierlegen keine Lust mehr haben und sich total nackt rupfen.

Principe mit der Santo Antonio-Bucht gleicht einer Südseeinsel. Afrikanisch sind allein das Regenwaldklima und die Krankheiten: Malaria, Filariasis, der übliche „Tropenwurmcocktail“ etc. Eine typisch afrikanische Krankheit versuchte man gerade auszurotten: die Schlafkrankheit. An Wegesrändern, in der Nähe von Hütten und unter Kokospalmen sah ich dunkle Kästen – Fallen, in denen die Tsetsefliege, die Oberträgerin dieser Krankheit, gefangen werden sollte.

Über 5000 dieser Fliegenfallen waren auf der 120 qkm großen Insel aufgestellt und lockten seltsamerweise durch ihre schwarze Farbe die Tsetsefliege tatsächlich an. Ferner wurden alle Hunde, die besonders anfällig für Trypanosomiasis sind, getötet, und Schweine und andere Tiere sorgfältig auf Trypanosomen, die Erreger der Schlafkrankheit, untersucht.

Wie wichtig diese für die einfache Bevölkerung unverständlichen Maßnahmen sind – die Hunde sind auf der Insel ebenso heilig wie in Indien die Kühe –, zeigt ein Blick in die Vergangenheit: mehrfach hat die Schlafkrankheit die Inselbevölkerung dezimiert; einmal sind ihr von 1500 Einwohnern alle bis auf 300 Menschen zum Opfer gefallen.

Heute hat man schon seit vielen Monaten keine Tsetsefliege mehr auf der Insel gesehen.

Lukull auf Principe

Mit meinem Inselkollegen besuchte ich zwei Plantagen, in denen wie auf Fernando Pbo zu Füßen gewaltiger Urwaldriesen Kakao und Kaffee wachsen. Jede Pflanzung besitzt ihr eigenes Krankenhaus, das von dem Inseldoktor wöchentlich einmal besucht wird.

Diese großen Spitäler für kleine Farmen stammen aus einer Zeit, da Malaria und Schlafkrankheit noch ungestraft im Lande wüten konnten. Heute sind die Krankensäle fast leer, aber die alten Gesetze, denen sie ihre Existenz verdanken, sind noch immer gültig.

Am Abend war ich auf der größten Plantage der Insel zu Gast. Ihr Verwalter, ein begeisterter Wassersportler, war bald mit mir in Fachsimpeleien über die besten Fangmethoden für Goldmakrelen und Thunfische vertieft, als ein wahrhaft lukullisches Festessen mit etwa 40 verschiedenen Speisen aufgetischt wurde. Auf jeder Seite der Tafel stand ein Braten: ein Truthahn, ein Spanferkel, eine Gans und eine junge Ziege, in der Mitte lockten Fischspeisen, darunter das portugiesische Nationalgericht, der Stockfisch, und den Rest des Tisches nahmen Salate aller Art, von Palmspitzen bis zu Bambussprößlingen, Kuchen, Plätzchen und die berühmten portugiesischen Süßigkeiten „Engelsbrüste“ und „Nonnenbäuche“ ein. Man ließ sich wirklich nicht lumpen, und nach der mageren Seemannskost, die ich gewohnt war, stiegen diese Genüsse natürlich für mich noch beträchtlich in ihrem Wert.

Eine Musterfarm auf São Tomé

Mein nächstes Ziel war die portugiesische Insel São Tomé, auf der die Portugiesen bereits im 16. Jahrhundert mit der Anlage von Plantagen begonnen haben. Ein hübsches, typisch portugiesisches Städtchen grüßte schon von weitem, als ich mich der Insel näherte. Cafes, Marktplatz, Denkmäler und nicht zuletzt auch die Afrikaner der gebildeten Schicht machten einen kleinstädtischen, portugiesischen Eindruck.

Auf Reede lagen zwei Dampfer, viele Leichter verkehrten zwischen ihnen und der Mole, von den Gebirgshängen schimmerte das Weiß stattlicher Plantagenhäuser – man merkte es São Tomé an, daß hier seit Jahrhunderten Europäer schalteten und walteten.

Nirgendwo in Afrika sah ich so viele Mulatten wie auf São Tomé und Principe. Die Portugiesen sind in der Wahl der schwarzhäutigen Partner am wenigsten zurückhaltend, und die Eingeborenen dieser Inseln sind durch diese Blutmischungen für unsere Begriffe weitaus attraktiver als die meisten anderen Westafrikaner, ausgenommen die Senegalesen.

Alle Guineainseln werden im Vergleich zum übrigen Westafrika von relativ vielen Weißen bewohnt, nicht etwa deshalb, weil das Klima besser wäre, sondern weil Portugiesen und Spanier hier trotz ihres kargen Lohnes immer noch mehr verdienen als auf der heimischen Peninsula.

Der Verwalter einer Musterplantage bat mich zu Gast: die Roça do Ouro ist zwar kaum eine der größten Plantagen in Westafrika, sie ist aber sicher eine der ältesten und dennoch modernsten. überdies ist sie mit ihrem eigenen Elektrizitätswerk, ihrer Mechanikerwerkstatt, Tischlerei, Schmiede, Schule und einem Riesenkrankenhaus autark – eine Stadt inmitten einer bis auf den letzten Quadratmeter wohlgenutzten Plantage. Der besondere Stolz des Verwalters war ein botanischer und zoologischer Garten, in dem man die gesamte Flora und Fauna der Insel bewundern konnte, dazu ein eigenes kleines Museum.

Für die Kakaogärung und die Trocknung der Kakaobohnen waren gerade neue Maschinen aus Deutschland eingetroffen. Erst wenn man die riesigen Kakaoplantagen auf Principe und São Tomé gesehen hat, kann man verstehen, daß die beiden Inseln, die zusammen etwa die Größe Berlins ausmachen, vor dem Ersten Weltkrieg noch ein Drittel der Kakaowelternte lieferten. Diese Guineainseln sind altes Kulturland der Europäer, und sie werden vielleicht in Zukunft die einzigen afrikanischen Gebiete sein, die für immer in europäischem Besitz bleiben – falls von außen keine Revolutionen hineingetragen werden.

Inzwischen war die Tornadozeit hereingebrochen; jeden zweiten Tag zog sich ein drohendes Gewölk zusammen und entlud sich in einem stürmischen, von tropischen Regenschauern begleiteten überfall, bei dem ich sehr auf mein Boot aufpassen mußte. Obwohl solche Tornados bis zu über 12 Windstärken ansteigen können, dauern sie meist nicht länger als eine Stunde und sagen sich auch immer vorher durch eine besondere Wolkenbildung an, so daß man sich darauf vorbereiten kann.

Gabon – Land Albert Schweitzers

Schon kurz bevor ich abfuhr und später noch einmal, ein paar Stunden vor meiner Ankunft im kleinen Hafen Port Gentil in Gabon, sausten Tornados mit Donner, Blitz und Regenschlag über die LIBERIA hin. Auch auf der Reede von Port Genil wurde das Boot von mehreren Tornados heimgesucht; dort waren sie um so gefährlicher, als der Ankergrund ausgesprochen schlecht war – selbst ein Luxusdampfer wurde im Hafen von Port Gentil einmal durch einen Tornado von seinem Ankerplatz vertrieben und wäre fast an Land zerschellt. Zum Glück stellten mir die Franzosen bereitwillig eine ihrer schweren Ankerbojen zur Verfügung.

Port Gentil liegt einige Grade südlich des Äquators; die Sonne stand zu dieser Jahreszeit gerade senkrecht über der „Linie“. So hübsch wie sein Name klingt ist Port Gentil wirklich nicht. Es ist ein teufelsheißer, langausgedehnter Ort, in dem man bei jedem Schritt Schweißtropfen verliert. Schwimmen möchte man am liebsten durch diese drückende Luftfeuchtigkeit, die weder zum Ersticken noch zum Durchatmen reicht.

Gabon ist berühmt durch sein Okoume, eine Holzart, die sich hervorragend für die Herstellung von Sperrholz eignet. Kein Wunder, daß Port Gentil die größte Sperrholzfabrik der Erde besitzt! Weil das Holz so billig und so reichlich vorhanden ist, kann man es sich leisten, dort Sandwege mit Holzplatten zu bedecken, damit die Autos nicht steckenbleiben.

Weitaus berühmter noch ist Gabon jedoch durch eine „Attraktion“ geworden, die auf der ganzen Welt nicht ihresgleichen hat: durch Lambarene oder, genauer gesagt, durch Albert Schweitzer.

Ein Besuch in Lambarene steht heute auf dem Programm der meisten Afrikareisenden; für mich war er der Höhepunkt meiner ganzen Fahrt.

Pirogenfahrt durch den Dschungel

In Abidjan, der Hauptstadt der westafrikanischen Elfenbeinküste, hatte ein Franzose mir ein Buch geschenkt: „L’Afrique, les Africains“. Es war von einem französischen Journalistenehepaar geschrieben worden, das alle zwei bis drei Monate ein neues Buch auf den Markt wirft.

 

Diese beiden jungen Franzosen hatten sich einige Tage in Gabon aufgehalten und allen Klatsch niedergeschrieben, dessen sie habhaft werden konnten. Ihre Reportage gipfelt in dem Satz: „Man fragt sich, ob er hierher gekommen ist, weil er die Menschen liebte, oder weil er sie verabscheute.“ Das Ehepaar wollte offensichtlich den „Rummel“ um Albert Schweitzer nicht mitmachen und ging deswegen in Opposition.

Wer Schweitzer ist, weiß heute beinahe jedes Kind. Was er geleistet hat, worin seine einmalige Größe besteht, wissen viele Menschen. Über seine Persönlichkeit aber können nur wenige Auskunft geben, und noch wenigere wahrscheinlich werden ihn ganz verstehen.

Lambarene ist ein afrikanisches Dorf wie viele andere auch. Und doch ist sein Name in aller Welt bekannt geworden. Wem hat es eigentlich seinen Ruhm zu verdanken? Dr. phil. Schweitzer? Dr. theol. Schweitzer? Oder dem Tropenarzt Dr. med. Schweitzer?

Lambarene ist ein Wallfahrtsort geworden: „Keine Afrikatour ohne Lambarene!“ heißt es beinahe schon. Von New York aus kann man es regelmäßig besuchen. Neugierige aus allen Ländern und Erdteilen überschwemmen den sonst so stillen Ort. Idealisten aus allen Gegenden der Welt, aller Religionen und Rassen, bieten sich Schweitzer an, um ihm seine Arbeitslast tragen zu helfen.

Lambarene ist auf dem Luftwege ebenso leicht von den Vereinigten Staaten aus zu erreichen, wie auf dem Wasserweg von Port Gentil, das an einem der Mündungsarme des Ogowe liegt, des gleichen Ogowe, der das Albert-Schweitzer-Hospital von der Ortschaft Lambarene trennt. Am leichtesten, am schnellsten und am bequemsten gelangt man nach Lambarene jedenfalls mit dem Flugzeug, sei es von Port Gentil aus, von Libreville, der Hauptstadt Gabons, oder von Brazzaville, dem Hauptort des früher französischen Kongogebiets. Von Libreville kann man überdies noch mit einem Auto dorthin gelangen und danach seine Fahrt nach Brazzaville fortsetzen.

Der Ogowe mit seinen Nebenflüssen schlängelt sich um einen unsichtbaren Äquator wie die Schlange um den Äskulapstab. Mit der LIBERIA IV konnte ich freilich nicht nach Lambarene gelangen; ihr Motor war zu schwach, um gegen die reißende Strömung des Ogowe anzukämpfen. Mein Freund Andre Lantz, Apotheker, Brillenmacher und Erbauer von kühn konstruierten Segelbooten, stellte mir deshalb sofort eine lange Piroge zur Verfügung, dazu zwei Außenbordmotoren, Benzin, Wasser in Dosen und – Bier.

Die „Chargeurs Réunis“ gaben mir den afrikanischen Lotsen Benoir mit auf den Weg, denn es sind über 260 Kilometer flußaufwärts nach Lambarene, durch ein Flußnetz von toten Armen, über Nebenflüsse und Seen, durch moskitoverseuchte Sümpfe, über Sandbänke und reißende Wirbel.

Als Albert Schweitzer 1913 nach Lambarene kam, mußte er nahezu eine Woche für diesen Weg rechnen. Damals gab es noch riesige Herden von Flußpferden, die sich ohne Furcht den Einbäumen näherten, wie er mir später erzählte. Krokodile sonnten sich auf den Sandbänken, zuweilen auch Elefanten. In den Baumwipfeln kreischten Affen, Scharen von Reihern jeglicher Größe äugten aus Schilf und Gesträuch, Wasserhühner gackerten in ihren Verstecken, und Eisvögel strichen flach über den Strom.

Zur Mittagszeit brausten mein Lotse und ich auf die weite Bucht von Port Gentil zu und nahmen Kurs auf den Mündungsarm des Ogowe, der uns nach Lambarene führen sollte. Nach einigen Meilen bog unser Boot in den Flußarm ein, der bald immer enger wurde. Mangroven und Palmen wechselten am Ufer ab. Aus einem kleinen Flußboot winkte man uns hilfesuchend zu: ein Eingeborenenboot, dem der Treibstoff ausgegangen war. Seine Besatzung, zwei kräftige Burschen und zwei Frauen, die gleichmütig Pfeife rauchten, waren mit Bananen, Pferdebananen und in Bananenblätter gewickelten, gekochtem Cassava auf dem Wege zum Markt in Port Gentil. Drei Tage hatten sie sich schon um Hilfe bemüht, 23 Boote waren an ihnen vorbeigefahren, ohne gehalten zu haben, berichteten sie. Seit 72 Stunden hockte dieses Quartett im Boot oder auf den knorrigen Mangrovenwurzeln am sumpfigen Uferrand – ohne zu klagen, ohne zu verzweifeln!

Am Abend hielten wir vor einer Hütte, deren Bewohner damit beschäftigt waren, Bastmatten zu flechten und Fische zu rösten, die sie am Tage gefangen hatten. Ich fragte den Ältesten, ob er Dr. Schweitzer kenne.

„Chézère, le grand docteur, natürlich kenne ich den! Ein feiner Mensch, nur bezahlt er meine Fische so schlecht!“

„C’est vrai-o“, bestätigte Benoir im Eingeborenentonfall. Er kaufte ein paar Filets für seine Freunde in Lambarene, dann hängten wir eine Laterne an den Bug und tuckerten weiter.

Der Mond verschwand hinter einer drohenden, geballten Wolkenmasse, aus der es donnerte und blitzte. Vor uns tauchten zwei Lichter auf. Während die ersten Windstöße über das Wasser jagten und das Unwetter sich jeden Augenblick entladen konnte, landeten wir bei zwei Hütten und verankerten das Boot. Kaum hatten wir unsere Sachen in einer der Hütten verstaut, als auch schon der westafrikanische Tornado über uns losbrach. Wassergeschosse prasselten herab, der Sturm zerrte an der Palmenhütte, als wolle er sie ihrer Blätterbekleidung berauben. Bei jedem Blitz zuckten die Schwarzen angstvoll zusammen, und zwischen den Donnerschlägen versuchten sie, sich gegenseitig Mut zu machen; jedoch das Zittern und Flackern in ihren Augen verriet, wie kümmerlich ihr Galgenhumor war.

Nach fünfzehn Minuten höllischen Tobens, bei dem man glaubte, die Welt ginge unter, erinnerte nichts mehr an das Unwetter als schwere Regentropfen, die von der Decke auf uns herabfielen. Ich verkroch mich unter meinen Regenmantel und versuchte zu schlafen. Da aber kamen die Herrscher Gabons: die Insekten. Erst summten sie noch mit gebührendem Abstand, dann jedoch umbrausten sie mit „Stuka“-Geräusch unsere Ohren, und das bringt selbst todmüde Schwarze in wütenden Zorn. Alle Augenblicke klatschte es um mich herum, jemand kratzte sich geräuschvoll, und in der Ecke stieß einer Verwünschungen aus.

„Das ist zu viel, M’sieur. Laß uns gehen!“ sagte verzweifelt der Lotse. Wenig später sausten wir davon, ohne geschlafen zu haben. Der Mond glitzerte auf dem trägen Fluß und ließ ihn wie einen Spiegel aufleuchten. Zu beiden Seiten erkannte ich dunkel und verschwommen die Konturen des Ufers.

Plötzlich war ich hellwach: „Stop!“ schrie ich. Aber da waren wir schon im Schilf; der Lotse hatte geschlafen. Bei einem Einbaum ist das jedoch kein großes Unglück, und so stakten wir uns mühsam aber erfolgreich aus dem flachen Wasser heraus und fuhren weiter.

Am nächsten Morgen brausten wir an drei Krokodilen vorbei, die wie Treibholz träge und unbeweglich auf einer Sandbank lagen und bei dem Geknatter keine Miene verzogen. Am frühen Nachmittag endlich kamen die ersten Gebäude von Lambarene in Sicht; Häuser und Faktoreien, wie sie überall in Westafrika zu finden sind. Am Steilufer reihten sich Einbäume und Boote aller Art so dicht aneinander wie bei uns die Autos auf den Parkplätzen. In der Ferne leuchteten rote Dächer aus einem Meer von Palmen. „Voila, M’sieur, das Albert-Schweitzer-Hospital!“ rief Benoir.

Wallfahrtsort Lambarene

Das berühmte Hospital liegt zwei Kilometer von Lambarene-Ort entfernt an einem kleinen Arm des Ogowe. Etwa 20 Einbäume ankerten am Ufer; sie waren an den Kokospalmen vertäut oder mit einem Stein als Anker mit dem lehmigen Uferboden verbunden. Die Reste eines alten Landungssteges ließen sich noch erkennen.

Ich ging die 200 Meter vom Ufer zu den alten Gebäuden, in denen Schweitzer praktiziert, und dann kam der Augenblick, in dem ich den großen alten Mann von Lambarene persönlich kennenlernen durfte.

„Ah, grüß Gott, wir hatten Sie schon längst aufgegeben“, freute sich Schweitzer, als ich mich vorstellte, „wie sind Sie denn nur hergekommen?“ Ich schilderte ihm meine Fahrt im Einbaum, und Schweitzer war erstaunt – vor allem darüber, daß ich mein Boot mutterseelenallein in Port Gentil gelassen hatte. „Wenn es gestohlen wird, stelle ich Ihnen zur Weiterfahrt eine meiner Pirogen zur Verfügung“, lämelte er. „Aber zunämst bleiben Sie hoffentlich eine Weile da.“

Ick überbramte Smweitzer Grüße von Bekannten. Andre Lantz hatte mir auch etwas für das Spital mitgegeben: eine 100-Liter-Tonne voll reinen Alkohols, den er Schweitzer vor kurzem bei seinem Besum in Lambarene versprochen hatte. Schweitzer war freudig überrascht, konnte sich aber an das Versprechen nicht mehr erinnern und erkundigte sich mehrmals eingehend nach Einzelheiten. Später nahm er mich in sein Allerheiligstes, sein Arbeitszimmer, um sich peinlim genau Adresse und Geschenk zu notieren.

Schwester Maria, eine Holländerin, führte mich zur Europäerbaracke, die angenehm kühl im Schatten von ölpalmen liegt. Drinnen gibt es kein elektrisches Licht, kein fließendes Wasser, kein verschwiegenes örtchen. Aber Moskitonetze sind vor den Fenstern, und sauber ist es auch. Eine kleine ältliche Holländerin brachte mir Bettwäsme und Handtücher, ein Boy bezog das Bett. Aus der Küche bekam ich einen Nachmittagsimbiß.

Alle Gebäude des Spitals sind etwa drei Jahrzehnte alt; das bedeutet bei der raschen Entwicklung in den Tropen: sie sind altmodisch, sie sind unbequem und spartanisch einfach. Dem Behandlungsraum gegenüber liegt eine Baracke mit männlichen Patienten; alle Türen waren weit geöffnet, Angehörige der Kranken kamen und gingen, Frauen unterhielten ein Feuer und bereiteten Essen vor. Der Rauch stieg träge in die Höhe und verbreitete afrikanischen Geruch. Hühner gackerten herum, Enten watschelten einher, Ziegen liefen in alle Richtungen, manchmal sprangen sie in Kisten, in denen Futter für sie bereitgestellt war.

Es herrscht afrikanisches Leben dort, afrikanische Hygiene, Umständlichkeit, Lässigkeit. Keiner der Afrikaner hatte es eilig, nur Schweitzer und seine europäischen Mitarbeiter arbeiteten unaufhörlich.

Albert Schweitzer hat – soviel ich weiß – als einziger europäischer Arzt in Afrika versucht, die Tore seines Hospitals vor der afrikanischen Lebensweise nicht zu verschließen. Als wir anderntags durch das Gelände seines Spitals streiften, als wir an Hunden, Rehen, Papageien und Wildschweinen vorbeikamen, hielt er plötzlich inne: „Sehen Sie, ist das nicht alles völlig natürlich hier? Ist das nicht echtes Afrika?“

Ja, das war das alte Afrika, das Schweitzer an diesem Ort bewußt konservierte, das Afrika, das er hier bei seiner Rückkehr nach dem Ersten Weltkrieg vorfand und behüten wollte vor dem Fluch einer unverstandenen modernen Zivilisation und Technik.

Schweitzer hat aus diesem Grunde jede Modernisierung seines Hospitals abgelehnt, obwohl ihm von verschiedenen Seiten die modernsten und besten Hilfsmittel angeboten wurden. Ganz leicht ist ihm diese Ablehnung manchmal sicher nicht gefallen, und häufig ist sie scharf kritisiert worden, vor allem von den Afrikanern selbst.