Maritime E-Bibliothek: Sammelband Abenteuer und Segeln

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Von Schlangenfett, blauen Flecken und Schildläusen

Die Kathedrale von Las Palmas wird von großen, metallenen Hunden bewacht, deren Ahnherren den Inseln den Namen gaben. Nicht weit von dem ehrwürdigen, stillen Gebäude wird es laut und bunt: dort liegt der Markt, auf dem man von weißen Mäusen über alte, verschimmelte Bücher bis zu modernen Kameras fast alles kaufen kann.

Im Schatten einer Mauer hockte ein Bauer inmitten wahrer Berge von selbstgepflücktem Salbei, Süßholz- und Enzianwurzeln. Neben ihm hielt ein intelligent aussehender älterer Händler ominöse Präparate feil.

„Dr. Vander, Biologe“, stellte er sich vor. „Was wünschen Sie, mein Herr? Haben Sie Rheumatismus? Hier ist das beste Schlangenfett zur Kur. Und diese kleinen Flaschen enthalten ein wirksames Wurmmittel, aus einheimischen Pflanzen hergestellt. Bitte schauen Sie sich einmal dieses Thermometer an, das habe ich selbst fabriziert.“

Das Thermometer war ein kleines Meisterwerk; die Temperatur wurde durch eine gefärbte Flüssigkeit angegeben. Dr. Vander – der Himmel weiß, wie er wirklich hieß – hatte regen Zuspruch. Er war felsenfest davon überzeugt, der Menschheit von allergrößtem Nutzen zu sein. Nun, für Las Palmas wollte ich das schon gelten lassen; ich hatte dort einmal für kurze Zeit an einem Krankenhaus hospitiert und kannte die örtlichen Verhältnisse.

In der Markthalle kauften wir verlockende Früchte von gewaltigen, vielfarbigen Obstpyramiden herunter: fetthaltige Avokado-Birnen, die die bestschmechende Mayonnaise abgeben, Äpfel, Anona-Früchte, Kirschen, Tomaten, Bananen, Orangen … Freundliche Marktfrauen schenkten Niña ein paar andere tropische Früchte, nach denen sie sich neugierig erkundigt hatte: Papaya, kanarische Quitten und Süßkartoffeln.

Mit Früchten reich beladen ließen wir uns an dem besuchtesten Strand der Kanarischen Inseln, Las Canteras, nieder, der durch ein die Bucht abriegelndes Felsenriff gegen Seegang geschützt ist.

Anfangs weigerte Niña sich hartnäckig, vor aller Augen ins Wasser zu gehen: sie ist nicht etwa wasserscheu, sondern sie schämte sich der vielen blauen Flecken an Armen und Beinen – Souvenirs aus dem Zyklon. Ich tröstete sie mit dem Hinweis, daß die Damen für farbenreiche Blutergüsse viel anfälliger seien als das härtere Geschlecht.

Am Abend bummelten wir durch die Ciudad Jardin, die Gartenstadt von Las Palmas, und gönnten uns einen Cocktail im Luxushotel Santa Catalina, dessen wohlgepflegte Parkanlagen an das Pueblo Canario, eine besondere Touristenattraktion, grenzen.

Jeden Sonntag kann in diesem „Kanarischen Dorf“ der umworbene Tourist eine Gruppe von Canarios bewundern, die in ihren bunten, in Wirklichkeit längst nicht mehr getragenen Trachten tanzen und singen. Das Pueblo Canario verdankt seine (ein wenig kunstgewerbliche) Existenz einem Einfall des kanarischen Malers Nestor, der es entwarf und bis ins Einzelne durchdachte – selbst die Muster der kanarischen, handgewebten Trachten stammen von seinem Reißbrett.

In den folgenden Tagen zeigte ich Niña die Insel: ein Miniatur-Kontinent mit wechselnden Landschaftsbildern. Von rauhen, nackten Bergen blickt man auf tropisch reiche Fruchtplantagen und üppige Gärten, in denen es duftet und blüht.

Die Kanarier leben hauptsächlich vom Ertrag dieser Plantagen: sie führen Bananen, Tomaten, Frühkartoffeln und Zwiebeln aus. Um das Jahr 1500 legten sie große Zuckerrohrfelder an. Als Kolumbus das Zuckerrohr jedoch nach Kuba brachte, verdrängte der Kubazucker den kanarischen bald vom Markt. Von Amerika führten die erfinderischen Inselbewohner dann Opuntien ein, auf denen sie Schildläuse – Cochenilles – züchteten, deren Farbstoff „Karmin“ die Lippen unserer Großmütter rötete und noch heute die Teppiche der Perser färbt. Deutschlands Anilinstoffe raubten den Tierchen ihre Existenzberechtigung, sie lebten zu teuer. Aber die klugen Kanarier wußten wieder Rat: sie sattelten auf Obst und Gemüse um!

Nach allen diesen Exkursionen flog die Niña nach Deutschland zurück und konnte bis zu meiner Ankunft auf den Karibischen Inseln nur brieflich an der Weiterfahrt teilnehmen. Das bedeutete aber nicht, daß sie sich nun weniger Sorgen gemacht hätte. Ganz im Gegenteil!

Wer waren die Guanchen?

Schon immer hatte mich die Vergangenheit der Kanarischen Inseln interessiert – die Guanchen seien mein Lieblingsthema, behauptete die Niña –, und nun suchte ich das Museo Canario in Las Palmas auf, in dem mit viel Liebe und Fleiß die wenigen wirklich aufschlußreichen Fundstücke zusammengetragen worden sind, die vom Leben dieser Ureinwohner der Inseln berichten.

Als die Spanier die Insel eroberten, versuchten sie, ähnlich wie auf ihren späteren Eroberungszügen in Amerika, möglichst alle heidnischen Elemente zu vernichten. Dabei ging es freilich nicht ganz so grausam zu wie bei der Einnahme Südamerikas. Möglicherweise war die offene und tapfere Kampfesweise der Guanchen einer der Gründe dafür. Jedenfalls wurden die Ureinwohner nicht mit Stumpf und Stiel ausgerottet, sie fielen auch keiner eingeschleppten Seuche zum Opfer, sondern vermischten sich nach der Eroberung sehr schnell mit den Eindringlingen. Und das ging um so leichter vonstatten, als sie dem Südspanier blutsmäßig verwandt waren und ihre Ehr- und Ehebegriffe sich mit denen der Spanier deckten.

Zur Zeit der Eroberung der Inseln, im 15. Jahrhundert, war es für einen gläubigen Christen eine selbstverständliche Pflicht, die Überlieferungen der Ureinwohner – Zeichen, Schriften oder Kultgegenstände – zu vernichten. So nimmt es nicht wunder, daß man von den Sammlungen des Kanarischen Museums ein wenig enttäuscht ist. Viele Fragen um die Guanchen sind noch ungeklärt und können selbst von den Wissenschaftlern nicht beantwortet werden.

Das bestätigte auch eine Unterredung mit dem stellvertretenden Museumsdirektor. Als Segler interessierte mich natürlich die Frage, warum die Ureinwohner der Kanarischen Inseln keine Seeleute gewesen seien. Ein Achselzucken war die Antwort. Man weiß es nicht. Die Kanarischen Inseln, sagt man, seien die letzten Gipfel des versunkenen Erdteils Atlantis, und Bergbewohner wären eben selten Seeleute. So argumentieren die Vertreter der Atlantis-Theorie1.

Tatsächlich besaßen die Guanchen keinerlei eigene Boote, nicht einmal primitive Einbäume oder Flöße. Wenigstens erklärte mir der Wissenschaftler, man habe bis heute noch keine Bootsreste auf der Insel gefunden. Dem entspräche auch die Tatsache, daß einstmals jede der Kanarischen Inseln ein kleines Reich für sich bildete und daß die Guanchen sich zwar gegenseitig verstanden, jedoch auf jeder Insel einen eigenen „Dialekt“ sprachen.

Meine Frage, ob es irgendwelche Anzeichen dafür gäbe, daß bereits in der vorkolumbianischen Zeit eine Verkehrsverbindung zwischen den Kanarischen Inseln und Amerika bestanden habe, verneinte der Museumsexperte.

„Und woher kamen die Guanchen?“

„Sie wanderten aus dem gegenüberliegenden Marokko, aus der Sahara und dem heutigen Rio de Oro ein.“

Ich erinnerte mich an ein Städtchen auf Gran Canaria, das Mazagan hieß, und dachte gleichzeitig – wenn auch weniger gern – an das Küstenstädtchen Mazagan in Marokko, in dessen Brandung ich auf meiner Einbaumfahrt beinahe mein Boot verloren hätte. Es gibt eine ganze Reihe berberischer Namen auf den Inseln, die auf die Verwandtschaft der Guanchen mit den Berbern schließen lassen. Die Guanchen waren auch – so viel weiß man heute – wendige, schlanke Menschen, die teilweise durch helle Haare auffielen. Sie besaßen eine völlig in sich abgeschlossene Kultur und lebten bis zur Eroberung durch die Spanier noch auf der Kulturstufe der Steinzeit. Während in Europa das Zeitalter der Renaissance anbrach und die im ausgehenden Mittelalter gegründeten Universitäten in voller Blüte standen, kannten die Guanchen weder Eisen noch andere Metalle und hausten in primitiven Höhlen.

Trotzdem hatten sie großes künstlerisches Können entwickelt. Ihre Technik der Einbalsamierung kam der der Ägypter gleich, und ihre Keramik wies einen Formenreichtum auf, der sich bei einem so völlig von aller Welt abgeschlossenen Volk schwer erklären läßt.

Die Guanchen lebten in einem strengen Kastensystem, das nur durch eine Liebesheirat überbrückbar war; ihre Priester, die Faicanes, waren Edle, der Quehevi, das nominelle Oberhaupt, wurde von den Vornehmen des Landes gewählt. Sämtliche Versammlungen und kultischen Feste fanden auf den Gipfeln der Berge statt. Ein solcher Versammlungsort liegt im Nordteil der Insel bei Arncas; er ist unter dem Namen Cenobio de Valerón bekannt.

Beim Aufstieg gelangt man zunächst zu den ehemaligen Wohnstätten der Harimaguadas, Höhlen, bienenstockähnliche, steinerne Eremitenklausen, einst 365 an der Zahl, deren Bewohnerinnen einem seltsamen Schönheitsideal entsprechend „gemästet“ wurden. Die Harimaguadas waren Jungfrauen, die oft mit den Vestalinnen Roms verglichen worden sind. Sie sorgten für die Ausübung und Reinhaltung eines Kultes, in dessen Rahmen Alcoram, dem Allmächtigen, Speise- und Trankopfer dargebracht wurden.

Bis zu sieben Stockwerken türmen sich die Höhlen auf, in denen man noch nicht einmal stehen kann; hier wurden die Damen wie Martinsgänse aufgepolstert. Später haben die Guanchen darin auch Vieh gehalten, Getreide gespeichert und sich im Kriegsfalle verschanzt.

Der eigentliche Versammlungsort der Guanchen mit seinen in den Felsen eingehauenen Sitzen liegt auf dem Gipfel des Berges und wurde einst Baladero „Blutplatz“ genannt, weil man dort bei feierlichen Anlässen Opfertiere verbluten ließ.

Offensichtlich ist es auf die Wohn- und Lebensweise der Guanchen zurückzuführen, daß es auf Gran Canaria viele Höhlenwohnungen gibt; sie sind teilweise recht primitiv, weitaus häufiger jedoch regelrechte „Höhlenvillen“. Es heißt auf der Insel bereits: „Die Reichen wohnen in Höhlen und die Armen in Häusern.“ Diese Höhlenbehausungen sind meist mehrkammerig, im Sommer kühl, im Winter warm, sauber und am Eingang mit einer Fülle von Konservendosen geschmückt, in denen Blumen aller Art wachsen und gedeihen.

 

Im Höhlendorf Atalaya, das von den Guanchen gegründet wurde, leben noch heute Töpfer, die wie zu Zeiten ihrer Ahnen ohne Rad arbeiten. Fragt man sie nach ihrer Nationalität, dann lautet die Antwort stolz: „Canario“ Das gilt im übrigen für sämtliche Bewohner der Kanarischen Inseln. Obwohl ihre Inseln seit den Tagen des Kolumbus spanisch sind, achten sie doch streng darauf, daß man sie nicht mit den Spaniern in einen Topf wirft.

Die Canarios sind schöne Menschen; sie verdanken ihr angenehmes Äußeres nicht nur den Guanchen und den Spaniern, sondern auch bestem internationalem Seemannsblut. Hawkins und Drake haben sich mit ihren Kumpanen an den Inseln die Zähne ausgebissen, Holländer, französische und arabische Korsaren haben vergebens versucht, auf die Dauer Fuß zu fassen. Die Islas Canarias sind viel umkämpft und umworben worden – selbst Nelson verlor vor Tenerife eine Schlacht und seinen rechten Arm. Die Kanone, die das zuwege brachte, zeigt man heute noch im Hafen von Santa Cruz.

Hochmoderne Tintenfische

Vor allen meinen Fahrten hatte ich mir bei der Überholung meiner Boote von Migo helfen lassen, der im Hafen von Las Palmas eine kleine Werkstatt besitzt. Migo war jedesmal hocherfreut, wenn er seinen Aleman bedienen konnte, wenn er ihm Dreizack oder Harpune schmieden durfte. Jede Bezahlung lehnte er entschieden ab. Auf meiner Faltbootfahrt hatte ich ihm versprochen, beim „nächsten Mal“ werde ich ihn auf eine Sonntagstour mitnehmen. Nun freute er sich wie ein Kind, mich wiederzusehen und wählte eine nächtliche Fischfahrt, um das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden.

So kam er denn eines Samstagsabends mit zwei befreundeten Fischern an Bord der LIBERIA, und kurze Zeit später lichteten wir den Anker und kreuzten uns in nordöstlicher Richtung vorwärts. Die Fischer brachten zwei Fackeln aus ihrem Gepäck zum Vorschein, die aus zwei Ofenrohren voller öldurditränkter Lappen bestanden.

Als wir etwa zwölf Meilen vom Land entfernt waren, ließen wir das Boot vor Topp und Takel dwars zum Wind2 dümpeln. Die beiden Fischer waren darauf vorbereitet, Haie, Schwertfische oder große Thunfische zu angeln, und ihrer Ausrüstung, ihrer abgerissenen Arbeitskleidung und ihren früheren Erfolgen nach zu schließen, durften wir mit einem ausgezeichneten Fang rechnen.

Aber nach zwei Stunden vergeblichen Angelns, wobei die drei ihre schönsten Witze zum besten gaben – eine Nationalleidenschaft der Spanier –, war keiner von ihnen enttäuscht, nur ich. Geduldig wechselten sie ihr Angelgerät und suchten jetzt nach Tintenfischen, die auf den Inseln eine Art von Volksnahrungsmitteln sind.

Während die LIBERIA in der hohen Atlantikdünung ganz abscheulich dümpelte, zogen unsere Fischer bereits nach kurzer Zeit die ersten glitschigen Tintenfische an Bord, quetschten ihnen mit der Hand die Augen aus und warfen die etwa fünf bis zwanzig Pfund schweren beutelförmigen Tiere auf das saubere Waschdeck.

Spanier, Franzosen und Italiener verstehen Tintenfische so hervorragend zuzubereiten, daß selbst der Nordeuropäer im allgemeinen seinen Ekel vor dem häßlichen Tier vergißt und es mit Genuß verzehrt. Die Tintenfische zählen zu den Kopffüßlern, die als Oktopoden acht und als Kalmare zehn Fangarme besitzen. Da sie so abscheulich aussehen, sind sie dem Menschen wenig sympathisch.

Tintenfische sind archaische Tiere mit hochmoderner Ausrüstung: sie bedienen sich der Rückstoßwirkung eines nach vorn ausgestoßenen Wasserstrahles, um rückwärts zu schwimmen – eine Art von Düsenantrieb. Zu ihren Leckerbissen gehören Muscheltiere, die sie entweder mit ihrem Papageienschnabel zerknachen oder aber durch einen Trick öffnen: sie schieben einen Stein zwischen die Schalen und saugen dann in aller Ruhe die Austernmahlzeit aus.

Früher waren die Tintenfische selbst einmal Schalentiere, aber da sie mehr Wert auf Intelligenz als auf einen Panzer legten, ließen sie die Schalen verkümmern. Sie sind erregbar, nervös und tatsächlich äußerst intelligent. Im Vergleich zu ihren hochentwickelten, umheimlichen Glotzaugen ist das menschliche Auge winzig klein.

Tintenfische – nur wenige Arten erzeugen Tinte – sind die Champions der Farbanpassung, der Camouflage; ihnen gegenüber nimmt sich selbst ein Chamäleon wie ein Anfänger aus. Treiben sie in Planktonwolken, können sie sich durchsichtig machen, schwimmen sie im türkisfarbenen Wasser der Kariben, nehmen sie eine grünblaue Farbe an, im lehmigen Wasser der Flußmündungen werden sie lehmfarben, auf Sandboden gelb, und im Aquarium wechseln sie ihre Farbe je nach der Umgebung. Ihr Farbspiel gibt alle Stadien der Gemütserregung wieder: Furcht vor dem Feind, Eifer bei der Nahrungssuche, Liebesleidenschaft.

Sie sind Nachttiere, die wie Falter von unseren Lichtquellen angezogen werden. Neugierig stürzen sie sich auf den Lichtköder der Fischer und lassen sich meist mühelos an Deck ziehen. Was sie in den dunklen Tiefen der Meere an Leuchtwundern vollbringen, das kann mit der besten bengalischen Beleuchtung konkurrieren.

Selten wird ein Oktopus über zweieinhalb Meter groß, aber andere Mitglieder seiner Familie, die Riesenkraken, erreichen um so größere Ausmaße. Der Laie kennt sie aus Jules Vernes Roman „20.000 Meilen unter Meer“, wo sie mit der Mannschaft des „Nautilus“ kämpfen, oder aus Victor Hugos Buch „Die Arbeiter des Meeres“, in dem beschrieben ist, wie sie einen Menschen „inhalieren“. An der Ostküste Neufundlands strandete einst ein Riesenkrake von siebzehn Meter Länge!

Begegnungen mit Riesenkraken

Einer der bestbelegten Berichte über Begegnungen mit Riesenkraken wurde 1861 von der französischen Korvette „Alecton“ abgegeben.

Am 30. November jenes Jahres – das Boot lag etwa 50 Seemeilen im Norden von Lanzarote – rief der Wachhabende vom Ausguck: „Zwei Strich backbord voraus ein großer roter Körper, halb über und halb unter dem Wasser!“ Man glaubte, es handle sich um ein Wrack. Neugierig geworden, ließ der Kapitän darauf zuhalten. Voller Entsetzen stellte die Besatzung dann fest, daß das „Wrack“ ein Riesenkrake war. Er hatte einen etwa sechs Meter langen Körper, mehr als acht Meter lange Fangarme und schwarze Stilaugen vom Durchmesser einer Schokoladentorte.

Als das Ungeheuer längsseits vom Kriegsschiff lag, gab der Kommandant den Befehl „Feuer!“ Mit Musketen, Harpunen und Kanonen schoß man auf die Bestie, der es offensichtlich nicht viel ausmachte, ein bißchen gepiekt zu werden. Sie tauchte mehrmals unter, kam aber nach wenigen Minuten immer wieder an die Wasseroberfläche. Der Kommandant hatte Freude an der realistischen Schießübung, und seine Besatzung sandte all ihren aufgespeicherten Haß auf das Seeungeheuer mit den Geschossen mit; selbst die Smutjes kamen aus der Kombüse gelaufen, um sich aktiv an dem Seekampf zu beteiligen. Die See war ruhig, und die Sonne brannte heiß auf die wackeren Krieger hernieder.

Plötzlich traf eine Kanonenkugel den Kopf des Tieres und verwundete es tödlich. Noch im Tode brachen aus dem Ungeheuer dunkle Massen einer entsetzlich riechenden Flüssigkeit, die bald die tapferen Mannen mit pestilenzartigem Geruch einhüllte. Nichtsdestotrotz versuchten sie das noch zuckende Tier an Bord zu hieven. Mit einem parfümierten Taschentuch vor der Nase gab der Kommandant Boyer seine Befehle. Aber trotz der verzweifelten Bemühungen der Besatzung konnte nur ein kleines Stück des Kraken an Bord gezogen werden, das dann auch bald in Verwesung überging und weggeworfen werden mußte.

Als die Korvette in Frankreich eintraf, wurde ihr Erlebnis von Wissenschaftlern als ein Fall von Massenhysterie abgetan.

Eine ganz andere Beobachtung stammt von der Bark „Pauline“, deren Kapitän vor Gericht aussagte, sein Schiff hätte am 8. Juli 1875 an der Meeresoberfläche einen Pottwal gesehen, der sich vergeblich bemüht habe, aus der tödlichen Umschlingung einer Seeschlange zu entkommen. Schließlich sei der Pottwal mitsamt der Seeschlange unter den Augen der Besatzung in die Tiefe gesunken.

Ob es Seeschlangen gibt oder nicht – darüber sind die Meinungen geteilt. Es ist jedoch durchaus möglich, daß es sich um einen Riesenkraken gehandelt hat, einem Tier, das die Pottwale vorzugsweise zu jagen scheint.

Die fiktiven Kämpfe der Riesenkraken sind viel bekannter als jene, die von Fischern oder Seeleuten wirklich erlebt wurden. Das kann man auch verstehen, wenn man die hochdramatische Schilderung Jules Vernes’ vom verzweifelten Kampf des Kapitäns Nemos mit dem Kraken mit der beiläufigen Schilderung dreier Fischer aus Neufundland vergleicht, die aus dem Jahre 1873 stammt.

Diese Fischer hatten eine undefinierbare Masse auf dem Wasser flooten sehen und waren neugierig herangepullt. Sie untersuchten sie mit einem Enterhaken – jedoch die Masse liebte dieses Gefühl gar nicht und erwachte plötzlich zum Leben. Ehe sich die drei Fischer versahen, glitten zwei Riesenfangarme übers Boot und suchten offensichtlich nach einem Festschmaus. Einer der Fischer schlug jedoch dem Ungeheuer mit einer Axt die beiden Tentakel ab, so daß es sich unter Ausspritzung einer üblen Sauce in die Tiefen verzog. Die Fischer benutzten einen Teil der Fangarme als Köder und setzten ihre Arbeit fort.

Als sie an Land ihre unglaublich klingende Geschichte zum besten gaben, zeigten sie stolz einen Tentakel, der immer noch etwas über sechs Meter lang war. Sie gaben unter Eid an, daß sie bereits zwei Meter davon beim Angeln „verbraucht“ hätten und daß weitere drei Meter dem Tier noch verblieben waren.

Wer alle Berichte über Riesenkraken aufzeichnen will, wird leicht ein ganzes Buch damit füllen können. Noch aus dem Jahre 1946 stammt die überzeugende Meldung des norwegischen Kapitäns Grönningsäter, wonach mehrere etwa 20 Meter große Riesenkraken versucht hatten, einen 15.000-Tonnen-Tanker anzugreifen. Man erinnert sich unwillkürlich der Seemannsgeschichten, in denen sich Kraken einen Mann aus dem Krähennest3 angeln!

Auch ich hatte ein ungewöhnliches Erlebnis mit einem Tier, das sehr gut ein Krake gewesen sein kann: auf meiner ersten Atlantiküberquerung sah ich am 3. November 1955 morgens eine große, rotbraune Masse auf der Wasseroberfläche treiben. Als ich auf der Höhe des Wasserbergs anlangte, bemerkte ich auf dem vorderen Teil des braunen Etwas zwei große dunkle Flecke – ich hielt sie für Augen –, an deren Rändern die Sonne reflektierte. Am Ende des größeren Achterteils schäumte es, ein Zeichen, daß das Gebilde sich dort bewegte. Ich warf sofort das Ruder herum, holte die Kamera hervor – aber nichts war mehr zu erkennen. Das Wesen zeigte keinen Sinn für Publicity, sondern verschwand schneller, als ich knipsen konnte.

Wie groß mag es gewesen sein? Auf dem Meer ist es schwierig zu schätzen, jedoch glaube ich, daß es gut und gerne 20 Meter maß. Von Tentakeln oder Fangarmen war nichts zu sehen.

Mein Erlebnis hatte mit dem der „Alecton“ manches gemeinsam: den Kanarenstrom als Handlungsort, den Monat November als Zeitpunkt, den grellen Sonnenschein und die ruhige See.

Ob mein Meeresungeheuer in Wirklichkeit aus zwei Tieren bestand: einem Krakenmann und einer Krakenfrau, die sich ein galantes Stelldichein gaben? An und für sich soll man sich ja nicht in das Privatleben anderer Leute einmischen, aber das Liebesleben der Tintenfische ist zu aufregend, als daß man mit einem diskreten Lächeln darüber hinweggehen könnte.

Was sich jede Frau ersehnt: stundenlang von ihrem Liebsten hofiert zu werden, das tut der Tintenmann mit einer beneidenswerten Ausdauer, und rot spielt bei ihm wie bei den Menschen als Liebesfarbe eine große Rolle.

Bei der Paarung steigern sich einige Tintenfischarten in einen regelrechten Liebesrausch hinein, auf dessen Höhepunkt einer der umgestalteten Arme des Tintenmannes, der Hektocotylus, in die Mantelhöhle des Weibchens kriecht und dort die Befruchtung, vornimmt. Mit diesem Arm weniger entschlüpft dann der feurige Liebhaber dem achtarmigen Liebesnetz des Weibchens.