Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik

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Im Winter 1914/15 und im Frühjahr 1915 schwebte Deutschland ununterbrochen in der Gefahr einer vollständigen militärischen Niederlage. Die Hauptmasse der deutschen Streitkräfte war an die Westfront gebunden, ohne dort eine Entscheidung erreicht zu haben. Zur gleichen Zeit setzte das russische Millionenheer seine Offensive fort, um mit seiner Übermacht die österreichischen und die deutschen Osttruppen niederzurennen. Gelang dies den Russen, so war der Krieg für die Entente gewonnen. Die deutsche Kriegführung im Osten unter der Leitung Hindenburgs und Ludendorffs errang eine Reihe bedeutender Erfolge. Die Pläne des Generals Ludendorff, die zur Schlacht bei Tannenberg, zur Schlacht an den Masurischen Seen, zum Vorstoß auf Warschau im Oktober 1914, zu den Schlachten bei Lodz im November und Dezember 1914 und zur »Winterschlacht in Masuren« führten, waren militärische Meisterstücke. Je weniger es gelang, an den anderen Fronten Entscheidendes zu erreichen, um so stärker wuchs das Vertrauen in der Armee und im Volke zur Führung im Osten. Auf dem Schlachtfeld von Tannenberg wurden die Grundlagen zu der Diktatur geschaffen, die dann General Ludendorff von 1916 bis 1918 ausgeübt hat. Ebenso hat der hervorragende österreichische Generalstabschef von Conrad aus den österreichischen Armeen alles Menschenmögliche herausgeholt.

Trotzdem war keine Erleichterung geschaffen, weil die Kraft der russischen Offensive durch die örtlichen Niederlagen nicht zu brechen war. Noch im April 1915 bestand ernsthaft die Möglichkeit, daß die Russen über die Karpaten gegen Wien und Budapest vordrangen, Österreich niederwarfen und dann auch Deutschland den Todesstoß versetzten. Der ganze Ostkrieg seit Oktober 1914 war völlig planwidrig: Die Pläne des deutschen Generalstabs beruhten darauf, daß sechs bis acht Wochen nach Kriegsbeginn die deutsche Hauptarmee in Frankreich frei werden und gegen Rußland antreten würde. Davon war gar keine Rede mehr. Das deutsche Heer führte bis April 1915 einen Zweifrontenkrieg gegen große Übermacht, wobei eigentlich täglich eine Katastrophe möglich war. In der Heimat wußte man aber von der wirklichen Kriegslage so wenig, daß in denselben Monaten das deutsche Volk den Streit begann, wie viel oder wie wenig man beim Frieden annektieren solle.

Erst der Mai 1915 brachte eine Entlastung. Die deutsche Oberste Heeresleitung riskierte es, im Westen eine Anzahl Armeekorps fortzuziehen, um gegen die Russen eine Entscheidung zu suchen. In der Schützengrabenfront von Flandern bis zum Elsaß hielt das verkleinerte deutsche Westheer das ganze Jahr 1915 hindurch den Angriffen der Franzosen und Engländer stand und bot so die Grundlage für die Operationen im Osten. General von Conrad hatte den Plan, die russische Front im Gebiet von Krakau zu durchbrechen, so in den Rücken der großen russischen Karpatenarmee zu kommen und sie zum Rückzug zu zwingen. Falkenhayn nahm den Plan Conrads an und stellte zu seiner Durchführung mehrere deutsche Armeekorps zur Verfügung. Die Schlacht bei Gorlice im Mai 1915 hatte den Zusammenbruch der russischen Karpatenfront zur Folge und leitete die lange Reihe von Kämpfen ein, bei denen im Sommer 1915 die Russen aus Polen und Galizien vertrieben wurden. Die Kraft der russischen Offensive war für dieses Jahr gebrochen. Die Russen hatten ungeheure Verluste erlitten. Aber das russische Heer blieb kampffähig. Eine Entscheidung hatte die deutsche Armee im Osten nicht erkämpft.

General Ludendorff erkannte die Mängel der Falkenhaynschen Führung. Er schlug eine Operation vor, die eine Art von Übertragung des Schlieffenschen Plans nach dem Osten bedeutete, nämlich eine großzügige Umfassung des russischen Heeres von Norden her, über Kurland und Wilna, um so eine Vernichtungsschlacht zu liefern. Falkenhayn verweigerte dem Plan Ludendorffs seine Zustimmung. So blieben die ganzen Anstrengungen des deutschen Heeres im Jahre 1915 umsonst. Deutschland hatte Schlachten gewonnen und Land erobert, war aber der Entscheidung um keinen Schritt näher gerückt. Im Jahre 1916 war ein neues russisches Millionenheer zur Offensive bereit. Die Franzosen waren nicht besiegt. Inzwischen ging England zur allgemeinen Wehrpflicht über und stellte ebenfalls ein Millionenheer an der Westfront auf. So war die militärische Lage für Deutschland im Jahre 1916 noch schlechter als 1915. Deutschland sollte im wesentlichen aus eigener Kraft gegen drei feindliche Millionenheere kämpfen.

Niemals hatte der Berliner Generalstab vor 1914 eine solche verzweifelte Lage in seinen Plänen für möglich gehalten. Eigentlich war jeder Monat, in dem die deutschen Fronten weiter standen, militärisch ein Wunder. Aber in der Heimat ging der Streit um die Annexionen weiter. 1915 hatte sich Italien der Entente angeschlossen und band damit einen großen Teil des österreichischen Heeres. Die Mittelmächte waren durch Bulgarien und die Türkei verstärkt, die dafür eine Anzahl englischer und französischer Truppenteile auf sich zogen. Eine deutschösterreichischbulgarische Expedition besetzte Serbien, und nach dem Fall von Antwerpen war fast ganz Belgien in deutscher Hand. An den Grundfragen des Krieges änderte all dies nichts. Für das Frühjahr 1916 plante Falkenhayn überhaupt keine kriegsentscheidende Operation, obwohl bei der verzweifelten militärischen Lage Deutschlands mindestens der Versuch dazu, sei es im Osten oder in Italien, hätte gemacht werden müssen. Denn die Zeit arbeitete für die Entente und gegen Deutschland. Statt dessen begann Falkenhayn den Angriff auf Verdun, ohne operativen Plan, in der Einbildung, er könne damit das französische Heer zermürben. In Wirklichkeit haben die grauenhaften Kämpfe vor Verdun das deutsche Heer zumindest ebenso zerrüttet wie das französische.

Zur See stand von Anfang an die Überlegenheit der Entente ganz fest. Denn die Schlachtflotte der Entente war dreimal so stark wie die deutsche, und die Seeherrschaft hängt von den Großkampfschiffen ab und nicht von den U-Booten. Die englische Panzerflotte brauchte gar keine Schlacht zu liefern, durch ihre bloße Existenz sicherte sie der Entente die Herrschaft über die Meere und blockierte Deutschland mit den furchtbarsten Folgen für die deutsche Volkswirtschaft. Die Versuche, durch den U-Boot-Krieg die feindliche Schiffahrt zu schädigen, führten sofort zu ernsten Konflikten zwischen Deutschland und den Neutralen, besonders den Vereinigten Staaten. So war die Frage des U-Boot-Krieges von Anfang an viel mehr ein politisches als ein militärisches Problem.

Je länger der Krieg dauerte, um so deutlicher zeigten sich im Innern Deutschlands wieder die politischen und die Klassengegensätze. Das politische Hauptresultat des 4. August war ein äußerlicher Friedensschluß zwischen dem Hohenzollern-Kaisertum und der in Deutschland regierenden militärischen Aristokratie auf der einen Seite und der sozialdemokratischen Arbeiterschaft auf der anderen Seite gewesen. Was der Friedensschluß praktisch bedeuten würde, darüber waren sich beide Teile noch völlig im unklaren. Einen festen Plan, wie man organisch die Arbeiter und selbstverständlich auch das Bürgertum in den Rahmen der Bismarckschen Verfassung einfügen sollte, hatte damals niemand. Bethmann-Hollweg versprach, im besonderen Hinblick auf die Sozialdemokratie, eine »Neuorientierung« Deutschlands nach dem Kriege. Aber darunter konnte sich jeder denken, was er wollte.

So viel war der regierenden preußischen Schicht klar, daß die Arbeiterschaft nach dem Kriege, vielleicht schon im Kriege, verstärkte politische Forderungen stellen würde3. Wenn die Millionen proletarischer Kriegsteilnehmer aus den Schützengräben zurückkehrten, dann ließen sie sich nicht mehr mit den alten Polizeimethoden einschüchtern. Das war sicher, ganz gleich wie der Krieg ausging. Noch im Jahre 1914 tauchte die preußische Wahlrechtsfrage wieder auf. Aber der konservative preußische Grundbesitz war auch jetzt nicht bereit, etwas von seinen Privilegien zu opfern. In der preußischen Wahlrechtsfrage wurden allerlei Akten geschrieben, Projekte entworfen und Sitzungen abgehalten4. Die alte Mehrheit des preußischen Landtags hatte kein Interesse daran, sich selbst zum eigenen Schaden zu »reformieren«, und die regierende Bürokratie hatte erst recht keine Eile. So kam die Wahlreform erst im Jahre 1917 stärker in Fluß. Auf jeden Fall fühlte sich der preußische Adel durch eine neue Zeit, deren Entwicklungsmöglichkeiten er nicht übersah, bedroht, und er sann auf Abwehr. Dabei traf er sich mit den Bestrebungen der Industrie.

Auch die Industriellen rechneten unter der Neuorientierung zumindest mit einer Stärkung der Gewerkschaften und mit einer Erschwerung ihrer eigenen Position in den Wirtschaftskämpfen der Zukunft. Wenn das alte Preußen ins Wanken geriet, so war die starke Staatsgewalt gefährdet, die bisher dem Unternehmer Beistand gegen die Arbeiter geleistet hatte. So bekämpfte die preußische nationalliberale Landtagsfraktion, in der die Einflüsse der rheinisch-westfälischen Industrie überwogen, die Übertragung des Reichstagswahlrechts auf Preußen. In den Jahren vor Kriegsausbruch hatten sich die industriellen Kreise immer mehr von der agrar-konservativen Politik getrennt. Beim Sturze Bülows, bei den Reichstagswahlen 1912 und in der Zabern-Angelegenheit standen die Nationalliberalen gegen die Konservativen. Seit Kriegsbeginn setzte eine rückläufige Bewegung ein. Zwar erkannten einzelne nationalliberale Führer, wie Stresemann und von Richthofen, daß die neue Zeit eine Entwicklung Deutschlands zur Parlamentarisierung und damit die politische Stärkung des Bürgertums bringen müsse. Das hätte eine Fortsetzung der nationalliberalen Politik von 1912 bedeutet, eine Festigung des liberalen Bürgerblocks der Nationalliberalen und der Fortschrittler.

In der Tat waren von 1906 bis 1914 die beiden liberalen Strömungen, die industrielle und die kaufmännische, fast ständig zusammengegangen. Hätte sich im Kriege diese bürgerlich-liberale Einheitsfront gestärkt, so hätte dies die bedeutendsten Folgen haben können. Das Bürgertum hätte seine Rechte auf Kosten der konservativen Aristokratie erweitert und dabei ein Zusammenwirken mit den Sozialdemokraten möglich gemacht. In Wirklichkeit ging die Entwicklung umgekehrt: Die Haltung der Nationalliberalen im Kriege wurde nicht von den Männern bestimmt, die den Weg vorwärts zur Parlamentarisierung suchten, sondern von solchen Industriellen, die im Bunde mit der militärischen Aristokratie ein Bollwerk gegen die Arbeiterforderungen aufrichten wollten. So sah das Bismarcksche Reich in seinem Untergang noch einmal das Wiederaufleben der alten Kartellidee Bismarcks. Die Vaterlandspartei von 1917 war weiter nichts als das Kartell von 1887, angepaßt den Verhältnissen des Weltkrieges.

 

Während sich so unter dem Schleier des Burgfriedens die aristokratisch-industrielle Abwehrfront gegen die Arbeiter bildete, dachte auch die Arbeiterschaft über die neue politische Lage nach. Die Situation nach dem 4. August war für die Sozialdemokratie überaus eigenartig und schwierig. Der sozialdemokratische Arbeiter bekannte sich opferwillig zur Landesverteidigung. Aber er konnte nicht begreifen, daß seine alten Feinde, der preußische »Militarismus« und die Schwerindustrie, nun plötzlich nicht mehr bekämpft werden sollten. Der Arbeiter stellte fest, daß zwar jetzt seine Abgeordneten für die Regierung stimmten und daß die Soldaten jetzt auch den »Vorwärts« lesen durften. Aber das militärisch-polizeiliche Herrentum war eigentlich in Preußen dasselbe wie vor dem 4. August, und in der Fabrik war das Übergewicht des Unternehmers durch den Burgfrieden auch nicht verändert. Das konnte auch gar nicht anders sein, da der 4. August weder eine politische noch eine soziale Revolution gewesen war. Im Gegenteil, der Arbeiter hörte zwar von der kommenden »Neuorientierung«, aber er hatte den Eindruck, daß die Machtstellung des Proletariats als Klasse sich seit dem 4. August verschlechtert hatte. Im Frieden hatten die sozialdemokratischen Zeitungen und sozialdemokratischen Versammlungsredner offen ausgesprochen, was die Masse drückte. Jetzt stand man unter dem Druck des militärischen Belagerungszustandes und der Militärzensur. Presse, Vereins- und Versammlungsleben waren gleichmäßig gelähmt. Weiter hatte man den Eindruck, daß die Unternehmer im Dienste der Kriegsindustrie viel Geld verdienten, während die Arbeiter ihr altes Kampfmittel, den Streik, verloren hatten. Denn der Burgfrieden und die militärischen Erfordernisse ließen keinen Streik zu.

So erfüllte schon im ersten Kriegswinter eine tiefe Unzufriedenheit die Massen. Die Stimmung der werktätigen Massen wäre nur zu heben gewesen, wenn man ihnen nachgewiesen hätte, daß sie jetzt in Deutschland mitregierten, daß sie als Subjekt und nicht als Objekt des Staatslebens den Krieg mitführten. In den Ländern der bürgerlichen Demokratie konnte das regierende Bürgertum in den Massen diese Stimmung erwecken. In England und Frankreich saßen Arbeiterführer in der Regierung und in den Verwaltungsbehörden. Da konnten auch die Massen der ärmeren Bevölkerung zu dem Glauben kommen, daß der Staatsapparat unter ihrer Kontrolle stehe und daß sie politisch keine »Herren« hätten. Das schuf sofort eine ganz andere Einstellung zum Staat und zum Krieg. In Deutschland unter der Bismarckschen Verfassung ließ sich eine solche Massenstimmung nicht erzeugen.

In der Begeisterung der ersten Kriegswochen hatten die werktätigen Massen im Unterbewußtsein das Gefühl, als würde eine Welle der nationalen Brüderlichkeit die alten Gegensätze wegschwemmen« Als die Ernüchterung kam, sah man selbstverständlich, daß es auch im Kriege Arme und Reiche gab und daß die preußisch-deutschen Behörden von ihrem Autoritätsgefühl nichts eingebüßt hatten. Die militärischen Vorgesetzten und die Zivilbehörden waren wahrlich im Kriege im Verhältnis zu den breiten Volksschichten nicht schlechter als im Frieden, aber das Kriegserlebnis hatte den Massen eine neue An des Sehens gegeben, die alles viel schwerer empfand als früher5. So war schon an sich, etwa vom ersten Kriegswinter an, der Gegensatz zwischen der sozialdemokratischen Arbeiterschaft und der herrschenden aristokratisch-industriellen Schicht in Deutschland nicht milder, sondern schärfer als im Frieden.

Dazu kamen in den Jahren 1915/16 die immer stärkeren wirtschaftlichen Auswirkungen der Blockade. Die Nahrungsmittel wurden so knapp, daß im steigenden Maße die Zwangswirtschaft an Stelle des freien Lebensmittelhandels trat. Für die breite Masse der städtischen Bevölkerung kam die Hungerzeit mit ihren Kohlrüben und dem Polonäsestehen vor den Läden. Trotz der gestiegenen Löhne, besonders der Munitionsarbeiter, konnte die Masse der Lohnempfänger sich nicht mehr satt essen. Daneben beobachtete man, wie der Schleichhandel blühte und wie die wohlhabenden Familien in der Lage waren, sich manches zu gönnen, was dem Armen versagt blieb. So nahm in Deutschland, ungeachtet des Burgfriedens, der Klassenkampf die furchtbarste Form an, die überhaupt möglich ist, nämlich des Kampfes buchstäblich um das Stück Brot. Auch wer die Überzeugung hat, daß der Klassenkampf eine notwendige Erscheinungsform der modernen Gesellschaft ist, kann nur mit Grauen an diese Zeit zurückdenken. Der Kampf ums Dasein ging um 500 Gramm Brot, um 100 Gramm Fett und um ein Ei. Einer machte dem andern diese elenden Grundlagen menschlicher Existenz streitig.

Hunger und Verbitterung erfüllten die Arbeitermassen. Der Klassengegensatz zum Fabrikanten, zum reichen, mit Kriegsmaterial aller Art handelnden Geschäftsmann und zum kommandierenden Offizierskorps wurde immer stärker. Der Kampf ums Brot drang auch in die Armee ein. In normalen Verhältnissen nahm niemand daran Anstoß, daß die Offiziere besser und abgesondert von der Mannschaft aßen. Als die Lebensmittelnot einsetzte und auch die Mannschaftsverpflegung beeinträchtigte, richteten sich grollende und neidische Blicke auf die Offiziersmesse. Die Erbitterung kam dort weniger auf, wo die gemeinsame Lebensgefahr den Frontoffizier und den U-Boot-Kommandanten mit Soldaten und Matrosen vereinte. Um so tiefer war die Kluft in der Etappe, in den Garnisonen der Heimat und auf den großen Kampfschiffen, die fast den ganzen Krieg hindurch stillagen und wo kasernenartiger Dienstbetrieb bestand. Wer den Ursachen der militärischen Revolution Deutschlands nachspürt, stößt überall auf die Lebensmittelfrage6, auf die Erbitterung der Mannschaften, die glaubten, daß man sie ungerecht in der Verpflegung gegenüber den Offizieren zurücksetzte.

So bilden sich allmählich in den Jahren 1915/16 zwei Kampffronten. Auf der einen Seite die militärisch, wirtschaftlich und politisch herrschende Schicht, Offiziere, Grundbesitzer, Industrielle, die überall das Kommando hatten und von denen die Masse glaubte, daß sie »besser« lebten, politisch vertreten durch die Konservativen und Nationalliberalen. Auf der anderen Seite die notleidende Arbeitermasse, politisch und wirtschaftlich ohne Bewegungsfreiheit, verkörpert vor allem in der Sozialdemokratie. Wie standen zu diesen beiden Fronten die übrigen Schichten des Volkes, also politisch das Zentrum und die Fortschrittspartei, sozial die nichtsozialistischen Arbeitnehmer, der kleine Mittelstand, die Kaufleute und vor allem die Bauern?

Es muß dabei gleich hervorgehoben werden, daß ein großer Teil der Wähler der Konservativen und Nationalliberalen aus den Mittelschichten und dem Bauerntum sich im Laufe des Krieges von der Parteiführung lossagte, die sie bei den Wahlen 1912 unterstützt hatten. Das ist ein Prozeß, der parteipolitisch kaum in Erscheinung trat, ohne den aber die Revolution von 1918 nicht zu verstehen ist.

Im Zentrum fühlten die christlichen Arbeiter dieselben wirtschaftlichen und politischen Nöte wie die sozialdemokratische Arbeiterschaft. So kam es zu einer Annäherung der sozialistischen »freien« und der christlichen Gewerkschaften, zum Beispiel in der preußischen Wahlrechtsfrage. Auf der anderen Seite stand die alte konservative Führergruppe des Zentrums, die bis zum Frühjahr 1917 die Partei in der Hand behielt. Diese hohen Staatsbeamten und hohen katholischen Geistlichen suchten die konservativen Kräfte zu stützen. Sie suchten politisch Anschluß an die Konservativen und Nationalliberalen, und konservativ gestimmte Bischöfe wollten es verhindern, daß die christlichen Gewerkschaften im Kriege die preußische Wahlrechtsfrage aufrollten7. Im Frieden hatte die konservative Führergruppe des Zentrums die Herrschaft über die Partei dadurch behauptet, daß sie die Bauern gegen die Arbeiter ausspielen konnte. Aber die Stimmung der deutschen Bauernschaft, der evangelischen und der katholischen, änderte sich im Kriege radikal8.

Zunächst hatte die physisch kräftige, für den Felddienst besonders geeignete Landbevölkerung die schwersten blutigen Verluste zu tragen. Die Landarbeit daheim mußte von Frauen, Jugendlichen und alten Leuten geleistet werden. Die Preise aller Industriewaren stiegen im Kriege mächtig an. Die Lebensmittel, die der Bauer verkaufte, unterlagen den Höchstpreisen. Dazu kam der ganze bürokratische Druck, der bei der Durchführung der Zwangswirtschaft und besonders bei der zwangsweisen Erfassung der Lebensmittel auf der Landbevölkerung lag. Die Städter waren auf die Agrarier erbittert, von denen sie sich bewuchert und ausgehungert fühlten. Ohne Zweifel nährte sich die Masse der Landleute trotz der Zwangswirtschaft besser als die Industriearbeiterschaft. Und die viele Schleichhandelsware, die notorisch in Deutschland während des Krieges umlief, mußte letzten Endes vom Produzenten gekommen sein. Trotzdem war die Lage der Landbevölkerung unter der Kriegswirtschaft schwer, und sie trieb die Bauern in immer schärfere Opposition gegen das bestehende Staatssystem.

Der deutsche Bauer war im Frieden konservativ gewesen, weil der Staat ihm sein freies Eigentum sicherte und weil er ihn mit der Zollpolitik unterstützte. Jetzt im Kriege, unter der Blockade, waren die Zölle gleichgültig, und nun kamen die staatlichen Beamten auf die Bauernhöfe und kontrollierten, ob irgendwo ein Pfund Butter versteckt war. Der Staat mutete den schwer arbeitenden Landleuten zu, daß sie sich nicht einmal satt essen sollten. So erzeugte die Kriegswirtschaft in der Stadt die Verbitterung der Arbeiter und auf dem Lande eine parallele Erregung der Bauern. Am frühesten und heftigsten läßt sich die Bauernopposition in Bayern beobachten, wo die ländliche Gesellschaft rein demokratisch ohne Einfluß des Grundadels ist und wo man besonders geneigt war, die »Berliner« Zentralbehörden für alles Übel verantwortlich zu machen.

Selbstverständlich wurde der erbitterte deutsche Bauer im Kriege kein Sozialdemokrat; denn er führte ja gerade den Druck der Zwangswirtschaft auf den Einfluß der Sozialdemokraten und überhaupt der Städter zurück. Die Radikalisierung der Bauern trug 1917 zur Linksschwenkung des Zentrums bei. Ebenso wurde im Laufe des Krieges eine kleine örtliche Bauernpartei, der Bayrische Bauernbund, immer mehr in die Opposition gedrängt. Die unzufriedene Stimmung der norddeutschen evangelischen Landbevölkerung fand parteipolitisch keinen Ausdruck. Aber es gab ein Gebiet, wo die Arbeiter- und Bauernopposition gegen das bestehende System sich treffen konnte, und das war das allergefährlichste, nämlich die Armee9.

Im Heere stand das aristokratisch abgeschlossene Offizierskorps einer einheitlichen Soldatenmasse gegenüber. Die alten, vorwiegend adligen Frontoffiziere waren zwar meistens in den ersten Kriegsmonaten gefallen. Das Offizierskorps des Millionenheeres von 1915 bis 1918 trug höchstens in den höheren Stäben den alten Charakter. Die unteren Chargen besetzten vorwiegend Reserveoffiziere und Kriegsleutnants. Das waren Männer, die im Frieden als Studenten, Kaufleute, Lehrer usw. sich niemals zu einem aristokratischen Herrentum gerechnet hatten und die bereit waren, wenn sie den Krieg überlebten, in ihre bescheidene Friedensstellung zurückzukehren. Aber mit der Ernennung zum Offizier war notwendig auch die aristokratische Absonderung verbunden, die nach dem preußischen Staatssystem den Offizier von der Mannschaft trennte. Das deutsche Offizierskorps, als Stand betrachtet, war im Kriege auf keinen Fall moralisch oder menschlich schlechter als das französische oder englische. Der erbitterte Haß, der sich in Deutschland im Laufe des Krieges in weitesten Volksschichten gegen die Offiziere richtete, ist nur aus den eigenartigen Gesellschafts- und Verfassungszuständen Deutschlands zu erklären.

Die Masse des Volkes hatte nicht das Gefühl, daß der Staat ihr mitgehöre und daß sie über den Staat mitbestimme. Sie fühlte sich von oben herab regiert, und zwar im Kriege sehr schlecht regiert. Die Gewalt- und Befehlsträger waren aber im Kriege überall die Offiziere. So wurde das Kriegsoffizierskorps der – menschlich vielfach unschuldige – Blitzableiter für allen sozialen Groll, der in den Volksmassen steckte. Es ist schon oben betont worden, wie dieser Gegensatz sich im Fronterlebnis abschwächte, aber wie er um so stärker dort hervorbrach, wo nicht direkt gegen den Feind gekämpft wurde. Im Laufe des Krieges fand sich im Gegensatz zu den Offizieren in immer stärkerem Grade der Bauernsoldat mit den Leuten zusammen, die im Zivilberuf Arbeiter und Handwerker waren. 1918 hat der bäuerliche Soldat die Revolution zwar nicht gemacht, aber doch geschehen lassen, vielfach sogar gern geschehen lassen. Der bayrische Bauernsoldat, 1914 der Stolz der Armee, war 1918 unter den ersten, die sich unter die rote Fahne stellten.

 

In den Jahren 1915 bis Sommer 1918 empfanden die Massen des Volkes trotz der stets wachsenden Nöte und trotz aller Verbitterung die Verteidigung des Vaterlandes noch als unbedingte Pflicht. Aber sie wünschten, daß der Krieg so schnell wie möglich beendet werde.

Die wirtschaftliche Lage der städtischen Kaufmannschaft war im Kriege, je nach der Stellung des einzelnen, ganz verschieden. Aber sie fühlte weniger den Gegensatz zu den Arbeitern als den zu der Landwirtschaft. Sie wünschte, gemäß ihren Traditionen aus der Vorkriegszeit, die Neuorientierung Deutschlands. So begrüßten es die Fortschrittler, daß Bethmann-Hollweg diese Losung herausgab. Sie drängten auf die preußische Wahlreform. Es lag ihnen aber ganz fern, von sich aus die Initiative zur Störung des Burgfriedens zu ergreifen und der Regierung Schwierigkeiten zu machen. Erst die Schwenkung des Zentrums im Jahre 1917 hat auch die Haltung der Fortschrittspartei verändert.

Wie stand die kaiserliche Regierung zu der immer tiefer gehenden politischen und sozialen Zerklüftung des deutschen Volkes in den Jahren 1915/16? Wilhelm II. selbst zog sich mit Kriegsausbruch aus der politischen Aktivität zurück. Der Kaiser litt immer schwerer unter der Riesenverantwortung, die im Kriege bei der geltenden deutschen Verfassung auf ihm lastete. Von dem stolzen Selbstbewußtsein, das er bis 1914 gegenüber allen Fragen und Personen gezeigt hatte, blieb nichts übrig. Er hielt es für seine Pflicht, in militärischen Fragen dem Rat des Generalstabschefs und in politischen den Vorschlägen des Reichskanzlers zu folgen. So führten erst Moltke und dann Falkenhayn, ohne nennenswerte kaiserliche Eingriffe, das Armeekommando, und Bethmann-Hollweg gewann eine politische Stellung, wie sie kein Kanzler Wilhelms II. seit 1890 besessen hatte.

Die ersten beiden Generalstabschefs im Kriege hatten so viele militärische Sorgen, daß sie sich um die Politik nicht kümmerten. Bethmann-Hollweg wiederum griff niemals in die militärische Kriegführung ein. So ist es in den ersten beiden Kriegsjahren zu ernstlichen Konflikten zwischen der militärischen und Zivilleitung nicht gekommen. Zwar lag die oberste Exekutivgewalt im Reich auf Grund des Belagerungszustandes bei den stellvertretenden Generalkommandos. In jeder deutschen Landschaft hatte der zuständige Kommandierende General die oberste Verfügungsgewalt. Für die Bevölkerung hatte dies den Anschein einer Militärdiktatur. Aber wenn auch Bethmann-Hollweg nicht mit jeder Einzelverfügung eines jeden Kommandierenden Generals einverstanden gewesen sein wird, alle wesentlichen politischen Entscheidungen hatte der Reichskanzler dennoch in der Hand. Das zeigte sich besonders klar im Jahre 1916 beim Streit um den unbeschränkten U-Boot-Krieg10. Die Marine, an der Spitze der Staatssekretär von Tirpitz, war für die unbeschränkte Einsetzung der U-Boote. Der Generalstabschef von Falkenhayn schloß sich mit militärischen Gründen der Forderung der Marine an. Bethmann-Hollweg war entgegengesetzter Meinung, aus Rücksicht auf Amerika. Wilhelm II entschied zugunsten des Reichskanzlers, und Tirpitz nahm seinen Abschied. Die Erschütterung der Stellung Bethmann-Hollwegs kam erst im Gefolge der einschneidenden Veränderungen, als die Oberste Heeresleitung Hindenburgs und Ludendorffs ihr Amt antrat.

Innerpolitisch war Bethmann-Hollweg davon überzeugt, daß er den Krieg ohne und gegen die organisierte Arbeiterschaft nicht führen könne. So suchte er im Reichstag die Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten aufrechtzuerhalten. Die sozialdemokratischen Führer hatten beim Reichskanzler jetzt eine ähnliche Vertrauensstellung wie die Zentrumsführung im Frieden. Wie vor 1914 die Zustimmung von Spahn notwendig war, damit die Reichsmaschine ohne äußere Reibung funktionierte, so suchte Bethmann-Hollweg jetzt die Fühlung mit Scheidemann11. Zwar hat die Sozialdemokratie von Bethmann-Hollweg nichts weiter als wohlwollende Worte und Versprechungen für die Zukunft erhalten. Aber schon dies genügte, um das Mißtrauen der militärischen Aristokratie und der Industrie zu erwecken, die sich um so unsicherer fühlten, je länger der Krieg dauerte. Bald nach Kriegsausbruch zeigte sich eine gewisse Mißstimmung der Konservativen und Nationalliberalen gegen Bethmann-Hollweg. Als dazu der Streit um die Kriegsziele kam, verwandelte sich das Mißtrauen in erbitterte Feindschaft.

Alle Klassengegensätze, wie sie an sich im modernen Europa vorhanden sind und wie sie in Deutschland die besondere Verfassungs- und Kriegslage verschärfte, brachen in dem Streit um die Kriegsziele hervor. So ist die Frage der Kriegsziele die zentrale Frage der deutschen Innen- und Verfassungspolitik im Kriege geworden. Wilhelm II. und Bethmann-Hollweg hatten den Krieg nicht gewollt und nicht vorbereitet. Deshalb gingen sie ohne ein klares politisches Ziel in den Krieg hinein, und sie haben im Verlauf der langen Kriegsjahre sich auch kein klares Kriegsziel gebildet. Das Urteil über den Krieg und seinen Zweck hing davon ab, wie sich Deutschland zu den drei feindlichen Großmächten in Europa künftig stellen würde.

Über das Ziel eines kommenden deutsch-französischen Krieges hatte sich Bismarck in den achtziger Jahren dahin geäußert, daß eine weitere Schwächung Frankreichs nicht im Interesse Deutschlands liege. Er, Bismarck, würde den Franzosen nach der ersten gewonnenen Schlacht den Frieden anbieten, und zwar einen Frieden, wie ihn Preußen mit Österreich 1866 geschlossen hat, das heißt einen Frieden ohne Schädigung Frankreichs und ohne Verlangen nach Landabtretung (s.o. S.58 [dieser Ausgabe]). Hätte Bethmann-Hollweg im Geist Bismarcks gehandelt, so hätte er um den 1. September 1914 den Franzosen einen solchen Frieden angeboten. Ob Frankreich darauf eingegangen wäre, ist heute mit Sicherheit nicht festzustellen. Immerhin hätte vor der Marneschlacht ein solcher großzügiger deutscher Vorschlag gewisse Aussichten gehabt. Denn die Stimmung in Frankreich war damals, infolge der Niederlagen und des Vormarsches der Deutschen auf Paris, sehr gedrückt, und die Hilfe des kleinen englischen Landheeres fiel in jenen Tagen nur wenig ins Gewicht. Die Aussichten auf einen deutsch-französischen Sonderfrieden sanken, als die Marneschlacht die Wendung in der Kriegslage brachte und als das englische Millionenheer in Frankreich aufmarschierte, wodurch Frankreich auch in seinen Kriegszielen in größere Abhängigkeit von England geriet.