Sherlock Holmes: Das Tal der Angst

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KAPITEL II SHERLOCK HOLMES DOZIERT

Es war einer jener dramatischen Augenblicke, für die mein Freund lebte. Es wäre eine Übertreibung zu sagen, dass er wegen der erstaunlichen Mitteilung erschüttert oder sogar aufgeregt gewesen wäre. Er war, ohne dass auch nur ein Hauch von Grausamkeit in seinem einzigartigen Geist zu finden gewesen wäre, durch die lange Überreizung zweifellos kaltschnäuzig geworden. Doch auch wenn seine Gefühle abgestumpft waren, war seine intellektuelle Auffassungsgabe überaus aktiv. Keine Spur des Schreckens, den ich selbst bei dieser knappen Mitteilung empfunden hatte, war an ihm zu erkennen; doch sein Gesicht zeigte eher den ruhigen und interessierten Ausdruck eines Chemikers, der zusieht, wie Kristalle einer übersättigten Lösung ausfällen.

„Bemerkenswert!“ sagte er. „Bemerkenswert!“

„Sie scheinen nicht überrascht zu sein.“

„Interessiert, Mr. Mac, aber kaum überrascht. Wieso sollte ich überrascht sein? Ich hatte vor einer Viertelstunde eine anonyme Nachricht erhalten, von der ich wusste, dass sie bedeutsam ist, und die mich warnte, dass eine gewisse Person in Gefahr sei. Innerhalb einer Stunde erfuhr ich, dass diese Gefahr Wirklichkeit geworden ist, und dass die Person tot ist. Ich bin interessiert, aber, wie Sie richtig bemerkten, nicht überrascht.“

In wenigen kurzen Sätzen erklärte er dem Inspektor die Fakten zu dem Brief und der verschlüsselten Nachricht. MacDonald saß da, das Kinn aufgestützt, und seine dichten, sandfarbenen Augenbrauen zogen sich zu einem gelben Büschel zusammen.

„Heute Morgen wollte ich nach Birlstone“, sagte er. „Ich war gekommen, um Sie zu fragen, ob es Ihnen etwas ausmachte mich zu begleiten – Sie und Ihr Freund. Aber nach dem, was Sie mir sagten, werden wir wohl in London mehr erreichen.“

„Das glaube ich nicht“, erwiderte Holmes.

„Zum Henker, Mr. Holmes!“ rief der Inspektor. „Die Zeitungen werden in ein oder zwei Tagen voll mit Berichten über das Rätsel von Birlstone sein. Doch was ist das für ein Rätsel, wenn hier in London ein Mann ist, der das Verbrechen schon ankündigt, bevor es begangen wurde? Wir müssen nur des Mannes habhaft werden und der Rest klärt sich von allein.“

„Zweifellos, Mr. Mac. Aber wie stellen Sie sich die Ergreifung des sogenannten Porlock vor?“

MacDonald drehte den Brief um, den Holmes ihm überreicht hatte. „Aufgegeben in Camberwell – das hilft uns nicht viel weiter. Der Name ist ein Pseudonym, wie Sie sagten. Das ist gewiss nicht viel für den Anfang. Sagten Sie nicht, Sie hätten ihm Geld geschickt?“

„Zweimal.“

„Und wie?“

„In Banknoten, hinterlegt beim Camberwell Postamt.“

„Haben Sie sich nie darum bemüht herauszufinden, wer sie abgeholt hat?“

„Nein.“

Der Inspektor sah überrascht und ein wenig bestürzt drein. „Wieso nicht?“

„Weil ich stets mein Wort halte. Nach dem ersten Brief, den er mir schrieb, hatte ich versprochen nicht nach ihm zu suchen.“

„Sie denken jemand steht hinter ihm?“

„Ich weiß, dass es so ist.“

„Dieser Professor, den Sie mir gegenüber einmal erwähnten?

„Stimmt genau!“

Inspektor MacDonald lächelte und als er mir einen Blick zuwarf, zwinkerte er mit einem Auge. „Ich möchte Ihnen nicht verhehlen, Mr. Holmes, dass wir in C.I.D. glauben, dass man Ihnen mit diesem Professor einen Floh ins Ohr gesetzt hat. Ich selbst habe in dieser Angelegenheit einige Untersuchungen angestellt. Er scheint ein sehr respektabler, gebildeter und begabter Mann zu sein.“

„Es freut mich, dass Sie immerhin sein Talent erkannt haben.“

„Menschenskind, das muss man doch erkennen! Nachdem ich Ihre Ansicht gehört hatte, machte ich es mir zur Aufgabe ihn zu treffen. Wir plauderten über Eklipsen. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie wir auf dieses Thema kamen. Aber er holte eine Lampe mit Reflektor und einen Globus hervor und machte mir in einer Minute alles klar. Er lieh mir ein Buch; aber ich schäme mich nicht zu sagen, dass es meinen Horizont ein wenig übersteigt, obwohl ich in Aberdeen eine gute Erziehung genoss. Er hätte einen großartigen Kirchenmann abgegeben, mit seinem schmalen Gesicht, den grauen Haaren und der feierlichen Art zu sprechen. Als er mir beim Abschied die Hand auf die Schulter legte, war das wie der Segen eines Vaters, bevor man in die kalte, grausame Welt hinausgeht.“

Holmes kicherte und rieb sich die Hände. „Großartig!“ sagte er. „Großartig! Sagen Sie mir, mein Freund MacDonald, fand dieses erfreuliche und bewegende Gespräch, wie ich vermute, im Studierzimmer des Professors statt?“

„So war es.“

„Ein schönes Zimmer, nicht wahr?“

„Sehr schön – wirklich sehr hübsch, Mr. Holmes.“

„Sie saßen vor seinem Schreibtisch?“

„Ganz recht.“

„Die Sonne schien in Ihr Gesicht und seines war im Dunkeln?“

„Nun ja, es war Abend; ich erinnere mich, dass die Lampe auf mich gerichtet war.“

„Ganz bestimmt. Haben Sie zufällig ein Bild über dem Kopf des Professors bemerkt?“

„Mir entgeht so leicht nichts, Mr. Holmes. Das habe ich wahrscheinlich von Ihnen gelernt. Ja, da war ein Bild – eine junge Frau, den Kopf auf den Händen, die einen von der Seite anschaut.“

„Das Gemälde ist von Jean Baptiste Greuze.“

Der Inspektor bemühte sich interessiert dreinzusehen.

„Jean Baptiste Greuze“, fuhr Holmes fort, legte die Fingerspitzen aufeinander und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, „war ein französischer Künstler, dessen Blütezeit in den Jahren 1750 bis 1800 war. Ich beziehe mich natürlich hier auf seine Schaffenskraft. Die neuzeitliche Kunstkritik hat die hohe Wertschätzung, die ihm von seinen Zeitgenossen zuteilwurde, mehr als einmal bestätigt.“

Die Augen des Inspektors nahmen einen abwesenden Ausdruck an. „Wäre es nicht besser…“ sagte er.

„Wir sind gerade dabei“, unterbrach ihn Holmes. „Alles, was ich jetzt sage, hat einen unmittelbaren und ausschlaggebenden Bezug auf das, was Sie als Birlstone Rätsel bezeichnen. Tatsächlich könnte man es in gewissem Sinne als den zentralen Angelpunkt bezeichnen.“

MacDonald lächelte schwach und sah mich flehend an. „Ihre Gedanken sind für mich ein wenig zu schnell, Mr. Holmes. Sie haben ein oder zwei Glieder ausgelassen, so dass ich Ihnen nicht folgen kann. Was in aller Welt kann den toten Maler mit dem Vorfall in Birlstone in Verbindung bringen?“

„Für einen Detektiv ist jedes Wissen nützlich“, bemerkte Holmes. „Sogar die banale Tatsache, dass im Jahr 1865 ein Gemälde von Greuze mit dem Titel ,La Jeune Fille à l’Agneau‘ eine Million zweihunderttausend Francs – mehr als vierzigtausend Pfund – bei der Portalis-Auktion erzielte, dürfte eine Reihe von Überlegungen bei Ihnen auslösen.“

Das tat sie offensichtlich. Der Inspektor sah ernsthaft interessiert aus.

„Ich darf Sie daran erinnern“, fuhr Holmes fort, „dass das Salär des Professors sich aus mehreren zuverlässigen Nachschlagewerken ermitteln lässt. Es beträgt siebenhundert Pfund pro Jahr.“

„Wie kommt er dann dazu…“

„Genau! Wie kommt er dazu?“

„Oh, das ist bemerkenswert“, sagte der Inspektor nachdenklich. „Sprechen Sie weiter, Mr. Holmes. Die Sache fängt an mir zu gefallen. Das klingt gut!“

Holmes lächelte. Aufrichtige Bewunderung ließ ihn immer auftauen – die Eigenschaft eines wahren Künstlers. „Was ist mit Birlstone?“ fragte er.

„Wir haben noch Zeit“, sagte der Inspektor und warf einen Blick auf seine Uhr. „Ich habe eine Droschke vor der Tür und bis zur Victoria Station brauchen wir nicht einmal zwanzig Minuten. Doch zurück zu diesem Bild: Mir ist, Sie hätten einst gesagt, dass Sie Professor Moriarty noch nie getroffen haben.“

„Noch nie.“

„Wie können Sie dann seine Räumlichkeiten kennen?“

„Das ist eine andere Geschichte. Ich war dreimal in seinen Räumen, zweimal wartete ich dort unter verschiedenen Vorwänden und ging, bevor er kam. Einmal – nun, das kann ich einem Kriminalbeamten wohl kaum erzählen. Es war bei der letzten Gelegenheit, dass ich mir die Freiheit nahm seine Papiere zu überfliegen – mit höchst unerwarteten Ergebnissen.“

„Sie fanden etwas Kompromittierendes?“

„Überhaupt nichts. Das war das Erstaunliche. Jedoch haben Sie jetzt den springenden Punkt erkannt – das Bild. Es zeigt, dass er ein sehr wohlhabender Mann ist. Wie gelangte er zu seinem Vermögen? Er ist unverheiratet. Sein jüngerer Bruder ist Bahnhofsvorsteher im Westen von England. Sein Lehrstuhl bringt ihm siebenhundert Pfund im Jahr. Und er besitzt einen Greuze.“

„Und nun?“

„Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand.“

„Sie meinen, er hat ein großes Einkommen, das er auf unrechtmäßige Weise verdient?“

„Richtig. Natürlich habe ich auch andere Gründe für diese Annahme – Dutzende kleiner Fäden führen kaum wahrnehmbar zum Zentrum des Netzes, in dem die giftige, regungslose Kreatur lauert. Ich bringe den Greuze nur deshalb ins Spiel, weil er in den Bereich Ihrer eigenen Beobachtungen fällt.“

„Nun, Mr. Holmes, ich muss zugeben, dass das, was Sie sagen interessant ist: mehr als interessant – geradezu wunderbar. Aber lassen Sie uns noch ein wenig genauer werden, wenn möglich. Handelt es sich um Fälscherei, Falschmünzerei, Einbrüche – oder woher kommt das Geld?“

„Haben Sie je etwas über Jonathan Wild gelesen?“

„Der Name kommt mir bekannt vor. Eine Person in einem Roman, oder? Ich mache mir nicht viel aus Detektiven in Romanen – Kerle, die einem nie verraten, wie sie etwas herausgefunden haben. Das ist alles nur Eingebung, aber keine richtige Arbeit.“

 

„Jonathan Wild war kein Detektiv und kommt in keinem Roman vor. Er war ein meisterhafter Verbrecher und lebte im vorigen Jahrhundert, so um 1750.“

„Dann nützt er mir wenig, ich bin ein praktisch veranlagter Mensch.“

„Mr. Mac, das Beste, was Sie je für Ihre Praxis tun könnten, wäre sich drei Monate zurückzuziehen und täglich zwölf Stunden in den Annalen der Verbrechensgeschichte zu lesen. Es ist ein ewiger Kreislauf – selbst Professor Moriarty. Jonathan Wild war die verborgene Kraft der Londoner Verbrecher, denen er fünfzehn Prozent an seiner Intelligenz und seiner Organisation verkaufte. Das alte Rad dreht sich weiter und die gleiche Speiche kommt wieder zum Vorschein. Es war alles schon einmal da und wird wieder kommen. Ich werde Ihnen ein paar Dinge über Moriarty erzählen, die Sie interessieren dürften.“

„Sie haben meine volle Aufmerksamkeit.“

„Zufällig kenne ich das erste Glied in seiner Kette – einer Kette mit diesem fehlgeleiteten Napoleon an einem Ende und hundert abgehalfterten Schlägern, Taschendieben, Erpressern und Falschspielern am anderen, mit jeder Art Verbrechen dazwischen. Sein Stabschef ist Colonel Sebastian Moran, so unnahbar und wachsam und für das Gesetz unantastbar wie er selbst. Was, denken Sie, zahlt er ihm?“

„Ich bin ganz Ohr.“

„Sechstausend im Jahr. Ein guter Kopf hat seinen Preis, wie Sie sehen – das amerikanische Geschäftsprinzip. Dieses Detail erfuhr ich zufällig. Das ist mehr als der Premierminister verdient. Das verschafft Ihnen eine Vorstellung dessen, was Moriarty verdient und in welchem Umfang er seine Geschäfte macht. Noch ein weiterer Punkt: Vor kurzem machte ich es mir zur Aufgabe einige von Moriartys Schecks nachzuverfolgen – ganz normale, harmlose Schecks, mit denen er seine Haushaltsrechnungen bezahlt. Sie waren auf sechs verschiedene Banken ausgestellt. Was für einen Eindruck macht das auf Sie?“

„Einen sonderbaren natürlich! Aber was schließen Sie daraus?“

„Dass er keine Gerüchte über sein Vermögen aufkommen lassen will. Keiner darf erfahren wie viel er besitzt. Und ich hege keinen Zweifel, dass er bestimmt zwanzig Bankkonten hat; der Großteil seines Vermögens dürfte jedoch im Ausland bei der Deutschen Bank oder Crédit Lyonnais deponiert sein. Eines Tages, wenn Sie ein oder zwei Jahre Zeit haben, rate ich Ihnen Professor Moriarty zu studieren.“

Im Laufe des Gesprächs war Inspektor MacDonald mehr und mehr beeindruckt worden. Er war in seiner Aufmerksamkeit völlig aufgegangen. Doch sein praktischer schottischer Verstand brachte ihn mit einem Schlag zum vorliegenden Fall zurück.

„Er kann noch warten“, sagte er. „Sie haben uns mit Ihren spannenden Anekdoten vom Thema abgebracht, Mr. Holmes. Was wirklich zählt ist Ihre Bemerkung, dass zwischen dem Professor und dem Verbrechen eine Verbindung besteht, was Sie aus der Warnung folgern, die Sie von einem Manne namens Porlock erhielten. Gibt es für unsere derzeitigen Bedürfnisse sonst noch etwas Brauchbares?“

„Wir können daraus zumindest eine Vorstellung der Motive dieses Verbrechens ableiten, das, so entnahm ich Ihrer ursprünglichen Bemerkung, ein unerklärlicher oder zumindest ein ungeklärter Mord ist. Nun, angenommen die Quelle des Verbrechens ist so wie wir vermuteten, dann könnte es zwei unterschiedliche Motive geben. Zuallererst möchte ich Ihnen sagen, dass Moriarty mit eiserner Faust über seine Leute herrscht. Seine Disziplin ist schrecklich. Es gibt nur eine Bestrafung in seinem Kodex: den Tod. Nun können wir annehmen, dass der Ermordete – dieser Douglas, dessen bevorstehendes Ende einem der Untergebenen dieses Erzverbrechers bekannt war – auf irgendeine Weise den Boss hintergangen hatte. Seine Strafe folgte auf dem Fuße und alle werden davon erfahren, und sei es nur, um ihnen Todesangst einzujagen.“

„Das ist eine Vermutung, Mr. Holmes.“

„Die andere ist, dass Moriarty die Sache im Zuge eines ganz gewöhnlichen Geschäftsgangs durchgeführt hat. Wurde etwas geraubt?“

„Nicht dass ich wüsste.“

„Falls ja, würde das der ersten Hypothese widersprechen und die zweite begünstigen. Moriarty könnte demnach mit der Durchführung gegen Zusicherung eines Beuteanteils beauftragt worden sein, oder man hat ihn bezahlt die Sache zu regeln. Beides ist möglich. Aber was auch immer zutreffen mag, oder wenn es eine dritte Konstellation gibt, finden wir die Lösung nur in Birlstone. Ich kenne unseren Mann zu gut, als dass er irgendetwas hier hinterlassen hätte, was uns zu ihm führen könnte.“

„Dann müssen wir nach Birlstone!“ rief MacDonald und sprang von seinem Stuhl auf.

„Du lieber Himmel! Es ist später als ich dachte. Ich kann Ihnen, meine Herren nur fünf Minuten geben, um sich fertig zu machen, mehr nicht.“

„Das reicht vollkommen“, sagte Holmes, sprang auf und beeilte sich den Schlafrock gegen seinen Mantel einzutauschen. „Unterwegs werden Sie mir alles darüber erzählen müssen, Mr. Mac.“

„Alles darüber“ erwies sich als enttäuschend wenig, und doch war es genug, um uns zu bestätigen, dass der Fall, der vor uns lag, der größten Aufmerksamkeit eines Fachmanns würdig war. Er strahlte und rieb sich die dünnen Hände, als er den mageren, aber doch bemerkenswerten Details lauschte. Hinter uns lag eine lange Reihe unerquicklicher Wochen, und hier bot sich endlich eine Gelegenheit für die außergewöhnlichen Fähigkeiten, die wie alle besonderen Gaben, für ihren Besitzer belastend werden, wenn sie nicht genutzt werden. Sein rasiermesserscharfer Verstand wurde durch Untätigkeit stumpf und rostete ein.

Sherlock Holmes Augen glänzten, seinen fahlen Wangen bekamen einen wärmeren Ton und sein erwartungsvoller Gesichtsausdruck wurde von einem inneren Feuer erleuchtet, wenn ihn die Arbeit rief. Während der Fahrt hatte er sich in der Droschke nach vorne gebeugt und lauschte angestrengt MacDonalds kurzer Beschreibung des Problems, welches uns in Sussex erwartete. Der Inspektor selbst war, wie er uns erklärte, auf eine gekritzelte Notiz angewiesen, die ihm in den frühen Morgenstunden mit dem Milchzug zugesandt worden war. White Mason, der örtliche Beamte war ein persönlicher Freund und hatte aus diesem Grund MacDonald früher benachrichtigt als dies bei Scotland Yard der Fall ist, wenn Provinzbeamte Hilfe brauchen. Normalerweise ist die Fährte schon erkaltet, die der aus der Hauptstadt herbeigerufene Fachmann zu verfolgen hat.

„Lieber Inspektor MacDonald“, lautete der Brief, den er uns vorlas:

„Der offizielle Antrag für Ihre Dienste befindet sich in einem separaten Umschlag. Dieser hier ist nur für Sie persönlich. Telegraphieren Sie mir, mit welchem Zug Sie heute Vormittag nach Birlstone kommen können, und ich werde Sie abholen oder abholen lassen, wenn ich zu beschäftigt bin. Dieser Fall ist ein Mordsding. Verlieren Sie keine Sekunde und machen Sie sich sofort auf den Weg. Wenn möglich bringen Sie bitte Mr. Holmes mit, denn er wird hier etwas ganz nach seinem Geschmack finden. Man könnte meinen, dass die ganze Sache als dramatischer Effekt fürs Theater inszeniert sei, gäbe es nicht mittendrin einen Toten. Glauben Sie mir, das ist wirklich ein Mordsding.“

„Ihr Freund scheint kein Dummkopf zu sein“, bemerkte Holmes.

„Nein, Sir, White Mason ist ein sehr gewiefter Mann, wenn ich mich nicht irre.“

„Nun, was haben Sie noch?“

„Nur dass er uns jede Einzelheit berichten wird, wenn wir ihn treffen.“

„Woher wissen Sie dann, dass Mr. Douglas auf schreckliche Weise ermordet wurde?“

„Das stand in dem offiziellen Bericht. Dort hieß es nicht ,schrecklich‘, weil das kein offiziell anerkannter Ausdruck ist. Es war der Name John Douglas angegeben. Es war vermerkt, dass er Verletzungen am Kopf hatte, die von einer Schrotflinte stammten. Ferner ist noch der Zeitpunkt des Alarms erwähnt worden, der kurz vor Mitternacht losgeschlagen wurde. Es wurde noch hinzugefügt, dass es sich zweifellos um einen Mordfall handelt, der einige sehr verblüffende und ungewöhnliche Züge aufweist. Das ist im Moment alles, was wir haben, Mr. Holmes.“

„Dann wollen wir es mit Ihrer Erlaubnis dabei belassen, Mr. Mac. Die Versuchung vorschnelle Theorien auf unzureichenden Daten aufzustellen ist der Fluch unseres Berufes. Ich kann im Augenblick nur zweierlei mit Gewissheit erkennen – ein großes Gehirn in London und ein toter Mann in Sussex. Die Verbindung zwischen beidem müssen wir ausfindig machen.“

KAPITEL III DIE TRAGÖDIE VON BIRLSTONE

Für einen Augenblick bitte ich um die Erlaubnis, meine eigene unbedeutende Persönlichkeit in den Hintergrund treten zu lassen und die Ereignisse im Lichte unserer späteren Erkenntnisse zu beschreiben, die sich noch vor unserer Ankunft am Schauplatz zugetragen hatten. Nur auf diese Weise kann ich dem Leser dazu verhelfen die betroffenen Personen zu verstehen und die bizarre Kulisse, vor der sich ihr Leben abspielte.

Die Ortschaft Birlstone ist eine kleine und sehr alte Ansammlung von Fachwerkhäusern an der Nordgrenze der Grafschaft Sussex. Jahrhundertelang hatte sich dort nichts verändert, doch in den letzten Jahren zog das pittoreske Erscheinungsbild und die Lage eine Anzahl wohlhabender Leute an, deren Landhäuser heute aus den umgebenden Wäldern hervor lugen. Diese Wälder gelten als der äußerste Zipfel des großen Weald-Waldes, der sich in Richtung der nördlichen Kalkhügel immer mehr lichtet. Eine Anzahl kleiner Läden wurde eröffnet, um den Bedürfnissen der angewachsenen Bevölkerung entgegenzukommen und es scheint, dass Birlstone die Aussicht hat sich von einem alten Dorf zu einer modernen Stadt zu entwickeln. Es bildet das Zentrum eines beträchtlichen Gebiets dieser Gegend, da die nächstgelegene Ortschaft Tunbridge Wells zehn oder zwölf Meilen östlich jenseits der Grenze der Grafschaft Kent liegt.

Etwa eine halbe Meile vom Ort entfernt steht in einem alten Park, der für seine riesigen Buchen berühmt ist, das alte Herrenhaus von Birlstone. Teile dieses ehrenwerten Gebäudes reichen zurück bis in die Zeit des ersten Kreuzzuges als Hugo de Capus eine kleine Festung in der Mitte des Landguts erbaute, das ihm Wilhelm der Rote verliehen hatte. Sie wurde 1543 durch einen Brand zerstört und einige rauchgeschwärzte Grundsteine wurden zu der Zeit von König James I. verwendet, als auf den Ruinen der feudalen Feste ein Landhaus aus Ziegeln errichtet wurde.

Das Herrenhaus mit seinen vielen Giebeln und den kleinen Rautenfenstern war immer noch so, wie es der Erbauer im frühen siebzehnten Jahrhundert zurückgelassen hatte. Von den beiden Doppelgräben, die einst den eher kriegerischen Vorgänger beschützt hatten, war einer trockengelegt worden und erfüllte nun die bescheidene Funktion eines Küchengartens. Der innere Graben war immer noch vorhanden, und zog sich mit einer Breite von vierzig Fuß, allerdings nur noch wenige Fuß tief, um das gesamte Haus. Ein kleiner Bach speiste ihn und floss jenseits des Grabens weiter, so dass das Wasser zwar trüb, aber nie brackig oder ungesund war. Die Fenster des Erdgeschoßes befanden sich einen Fuß über der Wasseroberfläche.

Den einzigen Zugang zum Haus bildete eine Zugbrücke, deren Ketten und Winde seit langem verrostet und zerbrochen waren. Die neuen Bewohner des Herrenhauses hatten jedoch mit bezeichnender Energie die Schäden behoben und die Zugbrücke ließ sich nicht nur wieder hochziehen, sondern wurde tatsächlich jeden Abend hochgezogen und am Morgen wieder herabgelassen. Durch die Wiederbelebung des alten Brauchs aus der Feudalzeit wurde das Herrenhaus während der Nacht in eine Insel verwandelt – ein Umstand, der sich unmittelbar auf das Rätsel auswirkte, das bald die Aufmerksamkeit ganz Englands auf sich ziehen sollte.

Das Haus war einige Jahre unbewohnt geblieben und drohte zu einer malerischen Ruine zu verfallen, bevor die Familie Douglas es in Besitz nahm. Die Familie bestand nur aus zwei Personen – John Douglas und seiner Frau. Douglas war ein bemerkenswerter Mann, sowohl hinsichtlich des Charakters als auch der Person. Er war um die fünfzig, hatte ein verwittertes Gesicht mit prägnanten Kieferknochen und einen graumelierten Schnurrbart, und seltsam stechende graue Augen. Seine drahtige, kraftvolle Gestalt hatte nichts an Stärke und jugendlicher Aktivität eingebüßt. Er war fröhlich und freundlich zu jedermann, doch in seinem Benehmen lag etwas Lässiges, das den Eindruck vermittelte er habe das Leben in gesellschaftlichen Schichten kennengelernt, die weit unter dem Niveau der Gutsherren von Sussex lagen. Obwohl er mit gewisser Neugier und Zurückhaltung von seinen kultivierteren Nachbarn betrachtet wurde, erwarb er alsbald große Beliebtheit unter den Bewohnern des Dorfes, da er bereitwillig alle Unternehmungen im Ort unterstützte und die Herrenabende mit Musikdarbietungen und sonstige Aktivitäten besuchte, bei denen er mit seinem volltönenden Tenor gerne ein Lied zum Besten gab. Es schien, als verfüge er über jede Menge Geld, das er, so hieß es, auf den kalifornischen Goldfeldern gemacht hatte und aus seinen Gesprächen und denen seiner Frau ging deutlich hervor, dass er einen Teil seines Lebens in Amerika verbracht hatte.

 

Der gute Eindruck, den er durch seine Großzügigkeit und seine demokratische Haltung hinterlassen hatte, wurde noch dadurch verstärkt, dass er im Ruf stand unerschrocken zu sein. Obgleich ein miserabler Reiter, fand er sich zu jeder Fuchsjagd ein und nahm in seiner Entschlossenheit, es den Besten gleichzutun, die erstaunlichsten Stürze in Kauf. Als das Pfarrhaus Feuer gefangen hatte, zeichnete er sich durch Furchtlosigkeit aus, indem er immer wieder das Gebäude betrat, um Eigentum zu retten, nachdem die örtliche Feuerwehr das Haus als unrettbar aufgegeben hatte. So kam es, dass sich John Douglas aus dem Herrenhaus innerhalb von fünf Jahren in Birlstone einen Namen gemacht hatte.

Auch seine Ehefrau war bei denjenigen beliebt, die ihre Bekanntschaft gemacht hatten. Nach englischer Gepflogenheit kamen jedoch nur wenige Besucher zu einem Fremden, der sich in der Grafschaft ohne offizielle Einführung niedergelassen hatte und wenn, dann in großen Abständen. Das kümmerte sie weniger, da sie von Natur aus zurückhaltend war, und allem Anschein nach von ihrem Gatten und ihren häuslichen Aufgaben vollkommen in Anspruch genommen wurde. Es war bekannt, dass sie eine englische Dame war, die Mr. Douglas in London zu der Zeit kennengelernt hatte als er Witwer war. Sie war eine schöne Frau, groß, dunkelhaarig und schlank und gut zwanzig Jahre jünger als ihr Mann, ein Altersunterschied, der in keiner Weise der Harmonie ihres Zusammenlebens abträglich schien.

Jedoch wurde mitunter von denjenigen, die sie am besten kannten, bemerkt, dass das Vertrauen zwischen den beiden nicht vollkommen zu sein schien, denn seine Frau war entweder sehr wortkarg, was die Vergangenheit ihres Mannes betraf oder, was wahrscheinlicher war, unvollständig darüber informiert. Ein paar Aufmerksamen war auch aufgefallen, was sie kritisch vermerkten, dass auf Seiten von Mrs. Douglas mitunter Zeichen einer nervlichen Anspannung zu beobachten waren, und dass sie ein heftiges Unbehagen an den Tag legte, wenn ihr Gatte besonders lange ausblieb. In einer ruhigen ländlichen Gegend, in der jeder Klatsch willkommen ist, konnte diese Schwäche der Dame des Hauses nicht achtlos übergangen werden und in der Erinnerung der Leute nahm diese Schwäche an Gewicht zu, als Ereignisse eintraten, die dieser Eigenschaft eine besondere Bedeutung verliehen.

Unter dem Dach des Herrenhauses lebte noch eine weitere Person, die sich allerdings nur zeitweise dort aufhielt, deren Anwesenheit jedoch zu der Zeit der seltsamen Vorfälle, von denen ich jetzt erzählen werde, ihren Namen in das Interesse der Öffentlichkeit rückte. Es handelte sich dabei um Cecil James Barker aus Hale Lodge in Hampstead.

Cecil Barkers hochgewachsene, schlaksige Gestalt war in den Hauptstraßen von Birlstone wohl bekannt, denn er war ein häufiger und willkommener Gast im Herrenhaus. Man nahm von ihm umso mehr Notiz, als er der einzige Freund aus der unbekannten Vergangenheit von Mr. Douglas war, der jemals in dessen neuer englischer Umgebung gesehen ward. Barker war zweifellos Engländer; aber aus seinen Bemerkungen war klar hervorgegangen, dass er Douglas in Amerika kennengelernt hatte, wo er mit ihm in enger Vertrautheit gelebt hatte. Er schien ein Mann von beträchtlichem Vermögen zu sein und galt als Junggeselle.

Er war etwas jünger als Douglas – fünfundvierzig höchstens – ein hochgewachsener, aufrechter, breitschultriger Mann mit einem glattrasierten Preisboxergesicht, dichten, kräftigen schwarzen Augenbrauen und gebieterischen schwarzen Augen, die ihm, auch ohne die Hilfe seiner überaus tüchtigen Hände den Weg durch eine feindselige Menge hätten bahnen können. Er war kein Reiter und ging auch nicht auf die Jagd, sondern verbrachte seine Tage mit Spaziergängen durch das alte Dorf, die Pfeife dabei im Mund, oder unternahm mit seinem Gastgeber, oder in dessen Abwesenheit mit seiner Gastgeberin Ausfahrten in die wunderschöne Umgebung. „Ein angenehmer großzügiger Gentleman“, sagte Ames der Butler. „Aber bei Gott, ich möchte nicht in der Haut desjenigen stecken, der ihm in die Quere gerät!“ Barker hatte einen herzlichen und vertraulichen Umgang mit Douglas, und war zu dessen Frau nicht weniger freundschaftlich – eine Freundschaft, die mehr als einmal bei ihrem Gatten eine gewisse Verärgerung hervorrief, so dass sogar die Dienstboten seine Verstimmung bemerkten. Das war also die dritte Person, die zum Zeitpunkt der Katastrophe zur Familie gehörte.

Was die sonstigen Bewohner des alten Gemäuers angeht, so genügt es aus dem großen Hauspersonal den förmlichen, achtbaren und tüchtigen Ames zu erwähnen, und Mrs. Allen, eine dralle und fröhliche Person, die der Dame des Hauses einige ihrer häuslichen Pflichten abnahm. Die anderen sechs Dienstboten im Haus sind für die Ereignisse in der Nacht des sechsten Januars ohne Belang.

Es war Viertel vor zwölf als der erste Alarm die kleine örtliche Polizeiwache erreichte, die Sergeant Wilson vom Sussex-Polizeibezirk anvertraut war. Cecil Barker war höchst aufgeregt zur Tür gestürzt und hatte wie wild die Glocke geläutet. Eine schreckliche Tragödie habe sich im Herrenhaus ereignet und John Douglas sei ermordet worden. Das war die Kernaussage seiner atemlos übermittelten Botschaft. Dann eilte er zum Herrenhaus zurück. Wenige Minuten später folgte ihm der Polizeisergeant, der am Tatort kurz nach Mitternacht eintraf, nachdem er unverzüglich Schritte unternommen hatte, die Behörden der Grafschaft zu benachrichtigen, dass etwa Ernstes im Gange war.

Als der Sergeant das Herrenhaus erreichte, fand er die Zugbrücke heruntergelassen vor, die Fenster hell erleuchtet und das ganze Haus im Zustand wilden Durcheinanders und Aufruhrs. In der Empfangshalle drängten sich die bleichgesichtigen Diener und an der Tür stand händeringend der erschrockene Butler. Nur Cecil Barker schien sich selbst und seine Gefühle unter Kontrolle zu haben; er hatte die Tür, die nächst dem Eingang lag, geöffnet und dem Sergeant ein Zeichen gegeben ihm zu folgen. In diesem Augenblick traf Dr. Wood ein, ein forscher und tüchtiger Arzt aus dem Dorf. Die drei Männer betraten zusammen den Raum des Todes, während der vom Entsetzen gepackte Butler ihnen auf den Fersen folgte und die Tür hinter sich schloss, um den Dienstmädchen den grausigen Anblick zu ersparen.

Der Tote lag mit ausgestreckten Gliedmaßen in mitten des Raums auf dem Rücken. Er war nur mit einem rosa Schlafrock bekleidet, der sein Nachtgewand verdeckte. An seinen nackten Füßen steckten Filzpantoffel. Der Arzt kniete sich an seiner Seite nieder und hielt die Lampe, die auf dem Tisch gestanden hatte, über ihn. Ein Blick auf das Opfer genügte, um dem Heilkundigen zu zeigen, dass seine Anwesenheit überflüssig war. Der Tote wies schreckliche Verletzungen auf. Quer über seiner Brust lag eine merkwürdige Waffe, eine Schrotflinte, deren Lauf etwa dreißig Zentimeter vor den Abzügen abgesägt worden war. Es war klar, dass die Waffe aus nächster Nähe abgefeuert worden war, und Douglas die ganze Schrotladung ins Gesicht bekommen hatte, was seinen Schädel fast zerschmettert hatte. Die Abzüge waren mit einem Draht zusammengebunden, damit die gleichzeitige Entladung eine noch verheerendere Wirkung erzielen konnte.