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Bergrichters Erdenwallen

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XI

Ratschiller sen. steht totenbleich am Telephonapparat und zittert vor Schrecken. Kaum vermag er Antwort zu geben auf die Anfrage des Fabrikleiters, wo neue Sprengungen vorgenommen werden sollen. Heiseren Tones spricht Ratschiller auf die Membrane: „Sie haben doch kürzlich gemeldet, daß im Eibenberg ein großes Mergellager offen gelegt wurde!“

Hundertpfund telefonierte zurück: „Das wohl, Herr Chef! So lautete die Meldung des Sprengpaliers in der ersten Aufregung. Ich habe kurz darauf nachgesehen und Sie angerufen, konnte aber keine Antwort von Ihnen erhalten, weil vermutlich das Hörrohr an Ihrem Apparat ausgeschaltet war.“

„Was wollten Sie melden?“

„Dasselbe, was ich soeben zur Kenntnis gebracht: Die erste Meldung war unliebsame Übertreibung, sie muß leider bedeutend reduziert werden. Der Eibenberg erscheint mir erschöpft, zum mindesten haben wir ohne besondere Sprengversuche in absehbarer Zeit keinen Stein mehr zu brennen. Ich frage daher, ob kostspielige neue Sprengungen am Eibenberge vorgenommen werden sollen oder ob wir einen anderen Ihnen gehörigen Berg anbrechen sollen. Im letzteren Falle würde ich um Angabe des betreffenden Terrains bitten!“

„Allmächtiger Gott!“ jammerte der Fabrikherr.

„Ist Ihnen nicht wohl, Herr Chef?“

„Warum haben Sie mir nicht schon früher diese Meldung erstattet? Sie waren doch kurz darauf bei uns zur Verlobungsfeier!“

„Da war doch nicht die passende Gelegenheit, um solche Hiobspost vorzubringen! Bitte, was soll geschehen?“

„Lassen Sie am Eibenberg tiefer bohren und sprengen, es muß sich Mergel vorfinden. Das Gutachten lautet auf bedeutende Mergellager. Ich werde sobald als möglich selbst hinauskommen. Schluß!“

Mechanisch drehte Ratschiller die Kurbel und brachte den Fernsprecher in Ordnung. Dann aber wankte der Fabrikherr zu seinem Sorgenstuhl, in den er sich ächzend fallen ließ. Das Schlimmste, was einer Cementfabrik passieren kann, steht bevor. Mergelmangel! Und das in jenem Berg, der für schweres Geld gekauft wurde und die größte Ausbeute versprach. Sind die übrigen Terrainerwerbungen gleichfalls mergeltaub, so ist die Fabrik ruiniert, alles verloren.

Die schlimmen Träume, jene entsetzlichen Ahnungen kamen Ratschiller wieder in Erinnerung, in greifbare Nähe ist die Katastrophe gerückt. Und da soll noch Hochzeit gehalten werden!

Völlig verzweifelt holte der Fabrikherr wieder die Mappen hervor, um in den Katasterblättern und Besitzverzeichnissen nachzuschlagen. Kann ein Rechnungsfehler, ein Irrtum des Vermessungsbeamten von solch entsetzlichen Folgen möglich sein? Kann sich ein Bergingenieur so gräßlich irren? Der Eibenberg in seiner für die Fabrikanlage so überaus günstigen Situierung mergellos, das ist entsetzlich; mögen die übrigen angekauften Berge auch Brennstein enthalten, sie liegen zu weit entfernt, der Bruchstein müßte per Achse zur Fabrik geschafft, Bauernstraßen benutzt werden, und das ist seit Existenz der Luftseilbahn geradezu ausgeschlossen, die erbosten Bauern werden die Straßenbenutzung jetzt erst recht verweigern und die Fabrik muß den Betrieb einstellen.

Zitternd raffte Ratschiller die Papiere zusammen und verschloß sie im Panzerschrank. Dann arbeitete und hantierte er längere Zeit in den Schiebefächern seines Pultes. Bleichen Antlitzes verließ er hierauf die Geschäftsstube, um sich zur Fabrik zu begeben.

Unermüdlich bringt die Seilbahn durch die Luft die Cementfässer zum Magazin am Bahnhof und von da führen die kleinen Wagen die Grieskohle wieder zurück zur Fabrik. Die Anlage bewährt sich ausgezeichnet, der Betrieb funktioniert tadellos. Man hätte das Werk nicht besser inscenieren können. Ratschiller seufzte, sein Auge folgte den Fässern durch die Luft. Welches frohe Gefühl hat diese Anlage schon in ihm erweckt, doch mit welcher Bitterkeit betrachtet er die Luftbahn jetzt! Was nützt das prächtige Werk, wenn die Fabrik infolge Steinmangels wird stille stehen müssen! Wie konnte sich der Bergingenieur nur so fürchterlich irren! Der Eibenberg mergellos! Eine Riesensumme ist dadurch verloren!

In der staubigen und qualmigen Fabrik angelangt, suchte Ratschiller seinen Fabrikleiter auf, mit welchem er alsbald den Steinbruch am Eibenberge besichtigte. Ein trostloser Anblick für einen Cementmenschen, der Mergel braucht und nur wertlosen Schutt erblickt.

Hundertpfund erstattet Bericht über die inzwischen vorgenommenen Bohrversuche. Die Bohreisen gingen so leicht ins Bergesinnere, daß das Fehlen des Gesteins ganz zweifellos sein muß.

„Wie tief ischt gebohrt?“

„Etwas über vier Meter, Herr Chef!“

„Da bestünde noch eine Möglichkeit, daß sich in größerer Tiefe Mergel eingesprengt vorfindet. Geht es nicht im Schachtwege, so treiben wir Stollen, und sprengen!“

„Wie Sie befehlen! Nur dürfte der Stollenbetrieb ungleich teurer kommen!“

Ratschiller seufzte, sagte aber dann, es müsse alles versucht werden.

Um eine Probe in der Tiefe von vier Metern vorzunehmen, ließ der Chef am Eibenberge mit Janit sprengen. In gesicherter Entfernung wartete man den Sprengschuß ab. Während der Vorbereitungen hierzu hatte Ratschiller genügend Zeit, Umschau nach den ihm gehörigen Grundstücken und Bergen zu halten. Ein stattlicher Besitz, wenn ihr Inneres den benötigten Stein birgt. Wertlos freilich, wenn sich diese Voraussetzung nicht erfüllt. Da würde sich Wiesenwirtschaft noch besser lohnen als Abbau auf Cement.

Kann es möglich sein, daß die ganze Berggegend keinen Mergel hat, trotz der genauen Untersuchungen? Bisher konnte doch ganz flott Portlandcement erzeugt werden. Und jetzt auf einmal Mangel des Wichtigsten, der Existenzbedingung für eine Cementfabrik!

Eine gewaltige Explosion unterbrach den Gedankengang des gequälten Fabrikherrn. Eine ungeheure Wolke von Staub und Schutt stieg auf, knatternd und brausend, Steine flogen nach allen Seiten.

„Stein, Stein!“ wollte Ratschiller aufjubeln und hastig lief er in die Richtung, wo Steine niedergefallen waren. Doch auf den ersten Blick erkannte der Fachmann wertlosen Kalkstein, Marmorbruchteile, keine Spur vom heißersehnten Mergel.

Der Fabrikherr empfand einen bohrenden Stich im Herzen, ihm ist, als soll er niedersinken vor Schmerz. Dennoch rafft er sich auf und steigt zur Sprengstelle, die ein klaffendes riesiges Loch aufweist, doch kein offengelegtes Gestein. Ein trostloser Anblick für den Cementmann.

Hundertpfund starrt gleichfalls betrübt in das Riesenloch und trostlos klingt seine Frage. „Sollen wir wirklich im Stollenbau weitere Versuche machen?“

„Wir müssen! Doch hab ich selbst jetzt keine Hoffnung mehr! Lassen Sie aber gleichzeitig im Halberge bohren und sprengen.“

Ratschiller erledigte im Fabrikgebäude noch einige Geschäfte, so müde und niedergeschlagen er sich auch fühlte.

Unterdessen war es Abend und dunkel geworden. Der Chef entschloß sich zur Heimwanderung und zwar über den Bergsattel, wiewohl Hundertpfund davon abriet, denn der Weg sei steinig, die Brücke über den Bergbach in schlechtem Zustand.

„Ach was, Unsinn! Wie oft in meinem Leben bin ich doch schon über den Sattel gegangen!“ rief Ratschiller aus.

„Dann möchte ich noch sagen, es ist in letzter Zeit ein herabgekommenes Individuum hier in der Gegend gesehen worden, dessen Herumschleichen mir verdächtig erschien. Erst gestern abend sah ich den zweifelhaften Burschen beim Schnaps oben am Eibenberg-Wirtshaus hocken, gemieden selbst vom schlechtesten unserer Arbeiter. Wenn Sie erlauben, will ich Sie bis zur Sattelschneide oder zur Kapelle auf der anderen Seite begleiten.“

„Sie wollen mich wohl gruseln machen? Ich danke! Seit reichlich zwanzig Jahren gehe ich den einsamen Weg und noch niemals ischt etwas, auch nicht das Geringste passiert! Und dann bin ich immer noch Mann und stark genug, um es mit jedem Strolch aufzunehmen. Nein, nein, verschimpfieren Sie mir unser ehrliches Tirolerland nicht! Ein Raubanfall in Tirol? Unsinn! Schier könnte ich das als Beleidigung auffassen! Sie sind kein Tiroler, deshalb glauben Sie an eine solche undenkbare Möglichkeit! Gute Nacht!“

Langsam entfernte sich Ratschiller und schritt längs der Gebäulichkeiten dem Pfad zu, der in vielfachen Windungen auswärts dem waldigen Sattel zuführt. Da es nun sehr rasch dunkelte, konnte der Fabrikleiter den Aufstieg seines Chefs nicht weiter verfolgen. Achselzuckend begab sich Hundertpfund ins Gebäude, um für die Nachtschicht, sowie für morgen vorzunehmende Sprengungen Anordnungen zu treffen.

Die Seilbahn wurde außer Betrieb gesetzt über die Nacht. Die Brennöfen qualmten und sandten ihre brenzlichen Wolken zum nächtlichen Himmel. Wie lange noch?

Diese Frage fing für Hundertpfund gleichfalls an, bedeutungsvoll zu werden und seine Gedanken nahmen eine Richtung, die auf Erwerb einer neuen, sicheren Stellung hinausliefen. Hat Ratschiller keinen Stein mehr, so wird für den Fabrikleiter Fräulein Josephine auch bedeutungslos.

XII

Ratschillers erwarteten das Familienoberhaupt zu Tische am Abend. Fräulein Emmy, die Braut des glücklichen Franz, weilte im Hause und ließ sich gern bestimmen, zur Abendmahlzeit zu bleiben.

Während das Brautpaar zärtlich plauderte und koste, deckte Josephine den Tisch, und Frau Ratschiller die würdige Matrone stand an einem Fenster, das einen Blick auf den vom Sattel herabführenden Feldweg gestattete. In der Dämmerung ist freilich nicht viel mehr zu sehen. Eine bängliche Unruhe erfaßte die alte Dame, welche sie sich nicht zu erklären vermochte. Sollte dem Papa Ratschiller ein Unglück zugestoßen sein?

In ihrer Sorge trat die alte Frau vom Fenster zurück und wie sie in den Lichtkreis kam, den die hellbrennende Hängelampe ausstrahlte, fiel es Josephinen auf, daß Mama entsetzlich bleich sei.

„Was ist dir, Mama?“ rief die Tochter und eilte bestürzt herbei. Die Matrone sprach fast ächzend: „Ich weiß nicht – mir ischt so bang! Franz, spring' hinunter ans Telephon und frage, wann Papa von der Fabrik weggegangen ischt. So spät kam er noch niemals nach Hause!“

 

„Gleich, Mama! Doch beruhige dich! Vielleicht hat man gesprengt und Papa wird sich länger als sonst verhalten haben!“ Eilig ging der junge Herr hinunter und sperrte die Komptoirräumlichkeiten auf, um zum Telephon in Papas Arbeitszimmer zu gelangen. Lange dauerte es, bis sich am Fernsprecher in der Fabrik jemand meldete und Hundertpfund Bescheid gab, daß Herr Ratschiller sen. längst die Fabrik verlassen und sich über den Sattel nach Hause begeben habe.

Ob dieser Meldung wurde nun auch Franz besorgt. Hastig begab er sich in die Wohnung hinauf, erstattete der Mutter Bericht und eilte dann fort, dem Vater auf dem Feldweg entgegen zu gehen. Die Angst im Kreise der Familie wuchs, je länger nun auch Franz verblieb, der bis an den Fuß des Berges lief und ohne Ratschiller zurückeilte.

In der Nähe des „Ochsengasthauses“ fiel Franz ein, daß Papa sich vielleicht bei einem Glase Wein in der Wirtschaft stärke und schnell fragte Ratschiller jun. dort nach.

Der Vater ist nicht anwesend, auch von niemandem gesehen worden. Ob Franzens Bestürzung wurde der als Gast in der Wirtschaft anwesende Gendarmeriewachtmeister aufmerksam und sogleich erkundigte sich derselbe, ob etwas passiert sei.

„Der Vater ischt von der Fabrik weg und nicht heimgekehrt! Wir sind in Sorge! Mama befürchtet ein Unglück!“ erwiderte Franz.

„Wissen Sie, auf welchem Wege Herr Ratschiller nach Hause gehen wollte?“

„Laut telephonischer Mitteilung des Fabrikleiters ischt der Vater über den Sattel heim!“

„Waren Sie im Berg schon suchen?“

„Nur bis zum Fuß des Sattels bin ich gelaufen, fand aber nichts!“

„So wollen wir doch vollends bis zur Sattelhöhe nachforschen. Kommen Sie mit?“ fragte der Gendarm und Franz erklärte sich sogleich bereit. Der Wirt lieh eine Laterne, welche der Wachmeister für alle Fälle mitnahm.

Im Laufschritt begaben sich beide über die Wiesen zum dichtbestockten Bergwald und stiegen, nachdem das Laternenlicht angesteckt war, langsam und forschend ausblickend, den dunklen Pfad hinan.

Unheimlich rauschte es im finsteren Walde und von ferne her donnerte der Fall des Bergbaches.

Franz empfindet eine wahre Todesangst, ihm ist, als sollte die nächste Viertelstunde etwas Entsetzliches bringen.

Stumm und stetig steigen beide den steinigen Weg hinan. Sorgsam leuchtet der diensterfahrene Wachtmeister zum Steilhang und die Böschung hinunter, sein Adlerauge ist bemüht, das Bett des unten tosenden wasserreichen Baches zu durchforschen. Findet sich auf dem Wege kein Anzeichen, so müssen das Bachbett und seine Ufer auf dem Rückmarsch noch besonders abgesucht werden.

Die Wanderer gelangten zur Brücke, die über den hier stark fallenden Bach führt. Kaum fiel der Laternenschein auf diese morsche Brücke, da schrie Franz vor Entsetzen auf. Dort liegt ein Menschenkörper…

Der Wachtmeister leuchtet vollends heran: Kein Zweifel, der Fabrikherr liegt hier in seinem Blute, tot, und wahrscheinlich ausgeraubt.

Vor Schrecken und Entsetzen sank Franz in die Knie, so daß der Wachtmeister ihm fürs erste beistehen mußte. Dann begann der Mann aber seines Amtes zu walten. Beim Schein der Laterne konnte auf den ersten Blick konstatiert werden, daß Ratschiller sen., der auf dem Gesichte lag, eine Schußwunde hinter dem rechten Ohr hat und daß am Knopfloch der ausgerissenen Weste der Befestigungsring der Kette noch vorhanden ist, die Kette selbst aber abgerissen worden sein mußte. Die Leiche war bereits kalt.

Franz jammerte in fassungslosem Schmerz.

Der Wachtmeister war erschüttert von solcher gänzlich unerwarteten Katastrophe, doch ging er streng dienstlich vor und beauftragte den jungen Ratschiller, zurückzueilen, dem Bezirksrichter Meldung zu erstatten und Träger mit einer Bahre herauszubringen.

Franz wankte den Steilpfad in der Finsternis hinunter…

Im schaurigen Bergwald hielt unterdessen der Wachtmeister an der Leiche des Ermordeten die Totenwache.

Über eine starke Stunde dauerte dieses Warten, dann vernahm das scharfe Ohr des Gendarmen Stimmen im Walde, das Geräusch von Schritten und knirschenden Steinchen.

Es ist die Gerichtskommission mit Ehrenstraßer an der Spitze und vier Träger mit der Bahre und Laternen. Franz folgte totenbleich und verstört hinterdrein.

Ehrenstraßer schüttelte den Kopf beim Anblick der Leiche, dieser jähe Tod wirkt fast lähmend auf den alten Richter. Doch nun beginnt der unerbittliche Dienst des Untersuchungsrichters. Beim Schein mehrerer Laternen konstatierte Ehrenstraßer den Einschuß hinter dem rechten Ohr und das Fehlen jedes Ausschusses, es muß daher die Kugel noch im Kopfe stecken. Der Gerichtsschreiber notierte das Diktat während der Untersuchung, die weiter das Fehlen einer Brieftasche, der Uhr und Kette ergab. Die innere Brusttasche ist an einer Naht aufgetrennt oder aufgerissen, die Uhrkette offenbar mit Gewalt abgerissen worden, der Befestigungsring steckt noch am Knopfloch der Weste, diese ist an mehreren Stellen offen, also aufgerissen worden.

„Mutmaßlicher Raubmord!“ konstatierte der Richter und stenographierte sich der Vorsicht halber das Untersuchungsergebnis in sein Taschenbuch. Dann erteilte er den Befehl, es solle der Wachtmeister die Nacht hindurch patrouillieren und in frühester Morgenstunde Erhebungen beim Fabrikpersonal, in allen Siedelungen der Umgebung und namentlich auch im Eibenbergwirtshause anstellen, das Resultat dann ehethunlichst zu Gerichtshänden bringen.

Die Leiche wurde nun auf die Bahre gelegt, mit einem mitgebrachten Tuch verdeckt und von den vier Trägern auf die Schultern gehoben. Langsam erfolgte der traurige Transport zu Thal.

Ehrenstraßer vermochte in seiner Erschütterung dem weinenden Ratschiller jun. nur die Hand zu drücken, das Sprechen war dem alten Beamten in dieser Stunde unmöglich. Beide folgten hinterdrein, während der Wachtmeister vollends zur Sattelhöhe hinanstieg und jenseits hineinschritt in die nachtverhüllte Bergwelt.

Wie Flugfeuer verbreitete sich am frühen Morgen im Städtchen die schreckliche Kunde, das Wort „Raubmord“ erregte die Bevölkerung im höchsten Maße, und die innigste Anteilnahme am entsetzlichen Geschick gab sich für die Familie Ratschiller kund. Emmy eilte zur alten Frau, die so jäh zur Witwe geworden, zum Bräutigam, der auf schreckliche Weise den Vater verloren. So nahe dem höchsten Glück auf Erden, steht das Brautpaar nun im tiefsten Jammer, vernichtet die Hoffnung, die Zukunft.

Das Gericht muß in doppelter Hinsicht einschreiten. Mit den Geschäften der Regulierung der Hinterlassenschaft betraute Ehrenstraßer den Gerichtsadjunkten Hörhager, die Untersuchung des Falles selbst führte der Richter, dem das Ereignis trotz aller langen Praxis unfaßlich ist.

So viel Ehrenstraßer nachdachte, prüfte und überlegte, der Gedanke, daß in absolut sicherer Gegend, kaum dreiviertel Stunde von einer dichtbevölkerten Fabrik entfernt, zu verhältnismäßig früher Abendstunde ein Raubmord sich ereignen konnte, will dem Richter nicht in den Kopf gehen. Ehrenstraßer wartete das Resultat der gerichtsärztlichen Untersuchung ab, das bis Mittag schriftlich im Gericht vorlag und dahin lautete, daß die Kugel (Rundkugel aus einer Pistole) durch das Gehirn gedrungen und im Stirnknochen über dem linken Auge stecken geblieben sei, daher der Ausschuß fehle.

Dieser Befund veranlaßte den Richter, nun sogleich in der Fabrik Recherchen vorzunehmen.

Auf dem Wege zum Sattel verhielt sich Ehrenstraßer längere Zeit auf der Unglücksstätte, um ein Bild der Thatmöglichkeit zu gewinnen. Der Räuber muß auf den Fabrikherrn aus nächster Nähe geschossen haben, wofür die Schußwunde knapp hinter dem rechten Ohre spricht. Bei der vorhandenen Dunkelheit konnte von regulärem Zielen keine Rede sein.

Mußte der einsam gehende Ratschiller aber die Annäherung nicht hören? Hat er sie gehört, so mußte er sich doch nach dem herantretenden Menschen umwenden; that er das, so war der Schuß auf der rechten Kopfseite unmöglich, die Kugel hätte linksseitig eindringen müssen.

Ehrenstraßer achtete im besonderen auf den Lärm des im starken Gefäll niederbrausenden Baches und thatsächlich ist das Geräusch so groß, daß Schritte leicht überhört werden können. Der Bach bildet unter der Brücke einen Tümpel, von dem das Wasser in weiterem kleinen Sturzfall niederströmt. Zu sehen ist hier nichts.

Eine Stunde später verhörte der Richter den Fabrikleiter, und fragte im besonderen, ob der Ermordete etwa einen größeren Geldbetrag bei sich geführt habe.

Hundertpfund konnte darüber keine Auskunft geben, er bezweifelte das überhaupt, denn es fehle jeder Anlaß, zur Fabrik persönlich Geld herauszubringen oder nach Hause zu tragen. Das Kassawesen wird ja im Komptoir erledigt.

„Pflegte Ratschiller überhaupt eine Brief- recte Geldtasche bei sich zu tragen?“

„Das thut wohl jeder Geschäftsmann hiesiger Gegend, doch dient ein solches Buch mehr zum Notieren, als zur Geldbewahrung.“

„Ein solches Portefeuille fehlte!“

Hundertpfund zuckte die Achseln, er vermochte den Fall nicht zu denken.

Schon wollte der Richter die Fabrik verlassen, da fand sich der Wachtmeister ein, der sogleich Rapport erstattete, auf Grund dessen Ehrenstraßer den Fabrikleiter wieder vernahm und befragte, ob Ratschiller von der Existenz eines Stromers im Fabrikbezirk verständigt worden sei. Hundertpfund bejahte dies und bemerkte, daß Ratschiller ausdrücklich gewarnt worden sei, die Begleitung bis zur Sattelhöhe aber rundweg abgelehnt habe.

„War Ratschiller auf solchen Gängen bewaffnet?“

„Ich glaube nicht, wenigstens habe ich niemals beim Chef eine Waffe gesehen. Er führte gewöhnlich nicht einmal einen Stock mit.“

Der Gang war somit vergeblich. Ehrenstraßer kehrte in die Stadt zurück, begleitet vom müden Wachtmeister, der nichts weiter zu erzählen wußte, als daß der gesuchte Vagabund am Eibenbergwirtshause war bis etwa eine Stunde vor der That. Wohin sich der Stromer gewendet, konnte der Wachtmeister nicht eruieren.

In seiner Erregung wollte Ehrenstraßer nicht zu Hause speisen, er fürchtete den Anblick seiner so schwer getroffenen Tochter Emmy und noch mehr deren Fragen nach dem Zerstörer ihres Glückes, den der Richter ja noch gar nicht kennt. Bevor Ehrenstraßer aber dazu kam, sich in ein Gasthaus zu begeben, lieferte einer der Gendarmen einen Burschen ein, der wegen Landstreicherei unweit des Städtchens aufgegriffen worden war.

Sogleich rief der Richter telephonisch Herrn Hundertpfund herbei und in der Zwischenzeit wurde der Stromer nochmals körperlich wegen Waffenbesitz &c. kontrolliert und alsdann verhört. Es fand sich aber weiter nichts, als ein Arbeitsbuch vor, das besagte, daß der Eigentümer ein Schreinergeselle sei, und welches ersichtlich in betreff der Arbeitsnachweise einige Falsifikate enthält.

Als Hundertpfund, erschöpft vom eiligen Marsche in der Kanzlei des Richters erschien und den gefesselten Burschen erblickte, erklärte er sofort, daß derselbe mit dem verdächtigen Landstreicher identisch sei. Unwillkürlich rief der Fabrikleiter aus: „Und wahrscheinlich auch der Raubmörder!“

Wie verzweifelt wehrte sich der Schreinergeselle gegen diese furchtbare Anschuldigung.

Ehrenstraßer nahm das Verhör wieder auf, nachdem Hundertpfund entlassen war: „Wo haben Sie die vergangene Nacht zugebracht?“

„In einem Heustadl!“

„Können Sie diesen nach der Örtlichkeit genauer bezeichnen?“

Der Verhaftete schwieg.

Dafür rapportierte der Eskorteur, daß der Geselle auf dem Transport auf Vorhalt jenen Heustadel nicht zu zeigen vermochte.

Dieser Umstand veranlaßte den Richter, abermals eine Lokalaugenscheinnahme an der Brücke am Sattelwege vorzunehmen, und wurde zu diesem Behufe angeordnet, daß der Verhaftete an die Mordstelle zu eskortieren sei.

Nach Verlauf einer Stunde war man auf der Brücke, und scharf beobachtete Ehrenstraßer den Burschen, der jedoch ruhig blieb und keine besondere Angst oder Aufregung äußerte.

Der Gendarm mit aufgepflanztem Bajonett stand am Brückenende zur Bewachung.

Mit peinlicher Sorgfalt suchte Ehrenstraßer nach weiteren Anzeichen, insbesondere möchte er den Verbleib der Mordwaffe entdecken. Zufällig trat der Richter an das hölzerne, wettergraue, alte Brückengeländer und musterte dasselbe.

Seltsamerweise zeigte dasselbe just über der Stelle, wo am Boden Blutspuren ersichtlich sind, eine kleine, ganz frische Beschädigung, etwa wie wenn man dort am oberen Rande mit einem festen, kantigen Instrument heftig angestoßen hätte. Eine starke Kerbung des verwitterten Holzes ist dies, doch weiter absolut nichts zu sehen. Ehrenstraßer ward ob der ganz frischen Beschädigung dieses Geländerteiles nachdenklich. Dieser Umstand könnte vielleicht doch mit dem Mord in irgend einem Zusammenhange stehen und verdient daher Beachtung. Der Gedanke erweiterte sich denn auch sogleich zu der Mutmaßung, daß hier der Mörder etwas, vielleicht die Waffe, in das Wasser geworfen und dabei das Brückengeländer beschädigt hat. Ist dem so gewesen, so muß die Pistole im Tümpel oder sonst wo im Bachbett aufzufinden sein.

 

Neugierig hatte der Verhaftete dem Richter zugesehen und trat nun gleichfalls zu jener Stelle am Geländer.

„Was wollen Sie?“ fragte Ehrenstraßer barsch.

„Mit Verlaub, gnä' Herr! Wenn Ihnen die Sach' da am Geländer verinteressiert, so kann ich, mit Verlaub, schon Auskunft geben; ich bin nämlich Schreiner und versteh' 'was vom Holz!“

Gewohnt in langer Praxis, die geringste Kleinigkeit zu beachten, wies Ehrenstraßer die Einmengung des Verhafteten keineswegs zurück, sondern fragte ihn vielmehr, ob der Geselle die Kerbe im Holz des Geländers für frisch gemacht halte.

Der Bursche besah sich die Beschädigung genau und erklärte sie älteren Datums. „Wie alt dann?“

„Von heut' ist sie sicher nicht!“

Jetzt war Ehrenstraßer fest entschlossen, im Bachbett auf das Genaueste zu forschen, der Gründlichkeit halber persönlich. Der Gendarm wurde mit dem Verhafteten in die Stadt zurückgeschickt. Ehrenstraßer erledigte sich des Rockes, der Schuhe und Socken, und kletterte nun hinab. Durch Steinwürfe in den Falltümpel unter der Brücke konnte die Tiefe einigermaßen taxiert werden; das Wasser wird bis zu den Knieen reichen. Leider ist nicht auf den Grund zu sehen, das Wasser schäumt und strudelt zu viel.

Bevor der Richter einstieg, begab er sich zum Tümpelrand, über welchem das Wasser erneut in etwa klafterhohem Falle niederstürzt. Sorgsam betrachtete Ehrenstraßer diesen brausenden Wassersturz und kombinierte dabei, daß die ins Wasser geworfene Mordwaffe entweder im Tümpel liegen oder vom Sturzfall weggerissen sein müsse, daher weiter unten irgendwo liege.

Wieder blickte der Untersuchungsrichter auf den Schaumsturz. Zu seiner größten Überraschung flattert zeitweilig ein Stück einer Schnur aus der Gischtflut, welches das Wasser alsbald wieder einfängt, worauf das Baumeln in der Luft für einige Sekunden wieder erfolgt.

Kein Zweifel, die Schnur ist an etwas befestigt und dieses Etwas muß sich im Tümpel hart am Rande befinden. Flink eilt Ehrenstraßer die Steilböschung wieder hinan, streift die Hemdärmel so hoch als möglich an den Armen auf und steigt nun in den Tümpel hinein.

Was liegt jetzt an Nässe und Kälte, da sich eine Spur bietet.

Langsam tastet Ehrenstraßer Schritt für Schritt dem Tümpelrande zu, beugt sich so tief als möglich nieder, und sucht mit den Händen den Tümpelgrund ab. Nichts weiter zu greifen, als Steine. Die erhoffte Schießwaffe liegt also nicht im Grunde. Was hat aber die Schnur dann zu bedeuten? Der Richter hebt Stein um Stein aus der Tiefe und wirft sie dann wieder weg. Doch schon der nächste Stein, ein Stück Bruchmergel in Dreieckform, bietet, was der Beamte sucht. Der Stein ist mit einer Schnur umwickelt und deren Ende flattert im Sturzfall. Was kann das bedeuten? War am Ende der Schnur vielleicht die Pistole gebunden, die von den Sturzwellen abgerissen und weggeschleudert worden ist?

Ehrenstraßer schreitet aus dem Tümpel zur Böschung und verwahrt den Fund in seinem Rock. Es gilt jetzt, die Waffe zu suchen und zu finden.

Unterhalb des letzten Schaumsturzes wird die Suche aufgenommen. Im Eifer achtet Ehrenstraßer gar nicht, daß der Gischt ihn durchnäßt und die scharfkantigen Bachsteine seine Füße ritzen. Er sucht thatsächlich mit Händen und Füßen im Wasser des zweiten Tümpels, als wollte er Krebse fangen. Nichts zu finden als Steine und faulende Holzstücke, Astwerk.

Schon will der Richter die Suche aufgeben, da stößt sein Fuß auf einen harten Gegenstand und im Nu wird dieser herausgefischt – es ist die Pistole.

Wie ein kostbar Kleinod trägt Ehrenstraßer diese Waffe, welche es ermöglichen wird, den Mörder zu finden. Rasch macht der Beamte wieder Toilette, birgt die Pistole nebst Stein und Schnur in seiner Rocktasche und eilt zurück in die Stadt.

In seiner Kanzlei eingeschlossen, begann Ehrenstraßer die Waffe zu untersuchen. Die einläufige Pistole ist abgeschossen, so wenig oder gar nicht abgenützt. Wem mag sie gehören?

Aus einem Schächtelchen nimmt der Richter die wenig deformierte Kugel, die der Gerichtsarzt aus dem Schädel Ratschillers losgelöst hatte und probiert es, dieselbe in den Lauf zu stecken. Das Kaliber paßt genau.

„Großer Gott! Es ischt – Selbstmord!“ stammelte Ehrenstraßer, vor dessen geistigem Auge sich nun klar die Situation abspiegelt. Es kann keinen Zweifel geben, daß Ratschiller absichtlich den Mergelstein mit der Schnur umwickelt, die Pistole darangebunden, auf der Brücke am Geländer den Stein nach abwärts gehängt und sich die Kugel hinter dem rechten Ohr ins Gehirn gejagt hat.

Unmittelbar nach dem Schuß muß er die Pistole aus der Hand gelassen haben, der Stein riß sie im Fallen über das Geländer hinunter in den Tümpel. Hierbei muß die Pistole am Geländer heftig angeschlagen und jene Beschädigung im verwitterten Holz erzeugt haben. Durch den Wellenschlag wurde der Knoten aufgerissen, die Pistole in den zweiten tieferliegenden Tümpel geschleudert, während der umwickelte Stein im ersten Tümpel liegen blieb und das Schnurende im Schaumsturz baumelte, bis es Ehrenstraßer entdeckte und herauszog.

Wie gelähmt sitzt der Untersuchungsrichter in seinem Sessel, die Wucht dieser Entdeckung drückt ihn nieder.

Was mag den alten Fabrikherrn in den Tod getrieben haben? Weshalb versuchte Ratschiller den Selbstmord so zu gestalten, daß man an Raubmord glauben sollte?

Das muß eruiert werden; ebenso wie es der Feststellung bedarf, daß die Waffe Eigentum des Fabrikherrn gewesen.

Unwillkürlich mußte Ehrenstraßer seiner Tochter Emmy gedenken, und ein tiefer Seufzer entstieg seiner Brust. Wie schmerzlich, daß er, der Vater, das Glück seiner Tochter in seiner Eigenschaft als Untersuchungsrichter vernichten muß und wahrscheinlich auch die Existenz der Ratschillerschen Familie.

Wie freute es ihn, in allen bisherigen Fällen, wenn die sorgsam geführte Untersuchung erfolgreich durchgeführt werden konnte. Und diesmal bereitet die Untersuchung namenlose Qual.

Muß der Selbstmord amtlich und öffentlich klargelegt werden? Der Jurist bejaht die Frage; der gefühlvolle Mensch möchte sie verneinen.

Ehrenstraßer will vor allem das Motiv kennen lernen und deshalb ließ er den Gerichtsadjunkten zu sich bitten, der die Hinterlassenschaft dienstlich zu ordnen hat.

Hörhager war damit so weit gekommen, um aus den Papieren Ratschillers konstatieren zu können, daß Bargeld knapp ist.

„Passiv?“ fragte schier ängstlich der Richter.

„Nein! Die Außenstände sind sehr bedeutend. Alle Fälligkeiten der Firma in nächsten Zeiten sind mir noch nicht genügend bekannt.“

„War Ratschiller in einer Lebensversicherung?“

„Ja, und auffallend hoch versichert!“

„Bei welcher Gesellschaft?“

„Bei der Triestiner!“

„Die Triestiner zahlt meines Wissens Todesfälle durch Selbstmord nicht aus; ich werde in die Police Einsicht nehmen!“

„Es soll doch Raubmord vorliegen, nicht?“ warf Hörhager ein.

„Ich kann im jetzigen Stadium der Untersuchung keinen Aufschluß geben!“ erklärte Ehrenstraßer ausweichend.

„Bitte sehr! Ich dachte nur, unter Amtskollegen —!“

„Bedauere, heute ischt mir dies thatsächlich noch nicht möglich. Hingegen bitte ich um alle Papiere Ratschillers und überhaupt um den ganzen Akt, sobald Sie fertig sind!“

„Ich stehe zu Diensten, Herr Bezirksrichter!“ sagte Hörhager und entfernte sich etwas verstimmt.

Spät am Abend begab sich Ehrenstraßer nach Hause und sein erstes war, der armen Tochter Emmy Trost zuzusprechen, die sich in ihr Kämmerlein zurückgezogen hatte.