Kostenlos

Bergrichters Erdenwallen

Text
0
Kritiken
Als gelesen kennzeichnen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Der Sturm läßt etwas nach, das Schneetreiben wird schwächer, so daß ein Umblick möglich ist.

Ambros erkennt in der Nähe ein Lebewesen, das mit Aufbietung aller Kräfte dem fesselnden Schnee zu entrinnen sucht. Ein Hirsch ist's, der seitlich durch den tiefen Schnee ausbrechen und einen schützenden Ort oder den Wald erreichen will. Der Hirsch zappelt und sinkt bis an die Lauscher ein, er arbeitet sich aber wieder hoch, durchrinnt dünnere Lagen, sinkt in eine Wächte und steuert endlich nach rechts hinüber.

„Ihm nach!“ flüstert der Franziskaner. Der tierische Instinkt wittert gewiß einen Schutzort und diesen sucht der Pater gleichfalls zu erreichen.

Eine gräßliche Wanderung ist es, bis Ambros, der den Buben hinter sich zieht, die breitgeschlagene Hirschfährte erreicht, auf welcher er nun gleichfalls alles durchmachen muß, wozu der Hirsch gezwungen war. Einsinken, herausarbeiten, wieder einfallen und emporklettern. Der Schnee dringt in die Habitärmel, am Halse ein, naß und klebrig sind die Füße, der um sein Leben kämpfende Priester schwitzt und dampft vor Überanstrengung, und kaum hält er inne, erschauert der Leib vor Kälte. Der Bub wimmert vor Frost.

Endlich gelingt das schwere Werk. Auf der Hirschfährte weiterstrebend, erreicht Ambros eine Breitfläche, an deren oberen Ende eine tiefverschneite Almhütte liegt, von Hochwild umstanden, das aus den Fugen und Ritzen des Futterstadels gierig Strohhalme und Heufäden zieht.

Plötzlich erdröhnt ein Schuß, ein Hirsch wird hoch und fällt nach kurzer Flucht, schlegelnd sinkt er in den Schnee. Aufstäubend jagt das Rudel davon.

Vor Schrecken ist Pater Ambros tief eingesunken und mühsam arbeitet er sich aus dem Schneeloch heraus. Wer wohl geschossen haben mag? Berufsjäger schießen nicht auf hungerndes Wild am Futterplatze; es wird ein Wilderer sein. Doch gleichviel, ein Mensch ist hier oben, ein Mensch, der Erbarmen haben muß mit einem todesmatten Priester und dem ohnmächtigen Kinde.

„Hilfe!“ ruft der Pater, und blitzschnell verschwindet die Gestalt im Walde.

„Hilfe in höchster Not! Ich bin's, der Einödpater!“

Jetzt erst findet sich die Gestalt mit geschwärztem Gesicht bewogen, näher zu kommen, und wie der Wilderer das Ordenskleid erkennt, watet er völlig heran, und hilft dem Pater.

„Verrat' mich fein nicht!“ flüstert er Ambros zu.

„Gewiß nicht! Bring' nur erst den Buben in die Hütte!“

Der Wilderer nahm den Zacher auf die Schulter und trug ihn zur Hütte, wo er den Kleinen mit Schnaps labte und zum Leben brachte.

Mittlerweile hat sich auch der Einödpater heraufgeschleppt, und völlig ermattet nahm er Platz am Herd.

„Nimm einen Schluck Birenen (Moosbeerschnaps), Pater, seller thut dir oh (auch) gut!“

Wie das erquickte!

Nach kaum halbstündiger Ruhe bat der Priester jedoch um das Geleite des Mannes zum Zacherhof, wo der Jochbauer im Sterben liege.

„Sell geaht heunt nimmer! Ischt ja schon völlig Nacht 'worden!“

„Ich muß hinüber, dem Sterbenden die heilige Wegzehrung bringen!“

„Ah so wohl. Hast aftn auch die Hostien bei dir?“

„Red' nicht lang' und hilf mir hinüber zum Zacher!“

„Sell geaht nit! Es ischt schon zu spät, der Schnee zu tief, wüßt' frei selm nit hinüber in der Nacht! Mußt ihn schon selm allein sterben lassen, den Zacher!“

Eine Müdigkeit überfällt den Pater, taumelnd wankt er und ist dankbar, daß der Wilderer ihm das eigene Heulager in der Ecke anbietet. Kaum liegt Pater Ambros, schlummert er auch schon ein. Die Anstrengung war zu groß.

Ruhig schläft auch der Bub auf einem Haufen Daxen.

Wie der Wilderer den schlummernden alten Priester betrachtet, durchkreuzen seltsame Gedanken seinen Kopf. Gewiß will der einsame Mensch nichts Schlimmes beginnen, als Gebirgler empfindet er Achtung vor dem Priesterkleid des Mönches, aber ein Gedanke will den Ausgestoßenen nimmer verlassen. Wie hat doch der alte Holzer Christl einst gesagt: Das beste Mittel für einen Büchsler bleibe immer die geweihte Hostie, die man in eine selbst geschnittene Handwunde einlegen und einwachsen lassen soll, auf daß die besondere Kraft der Hostie sich auf den Büchsler übertrage, der dann schußfest wird.4 Schußfest werden, so daß alle Jägerkugeln abprallen am gefeiten Leibe, das wäre das Richtige für den armen Cajetan heroben. Schußfest gegen seine Feinde, welche nach ihm fahnden und ihn hetzen. Der Cajetan hat es nimmer ausgehalten in der fremden Kaserne, das Heimweh hat ihn gepackt, und eines Tages ist er durch und seitdem lebt er heroben in der Wildnis kümmerlich genug. Sommers über geht es ja noch gut, da helfen die Almerinnen und sorgen für ihn in jeder Weise; aber im Winter ist es hart leben. Freilich, so lange es so tüchtig schneit, können die Verfolger nicht herauf und der Cajetan hat Ruhe vor ihnen. Ist ein Wunder, daß der Franziskaner durch den Wehschnee heraufgekommen ist. Ein Wunder wahrhaftig! Und ob der Cajetan nicht von solchem Wunder profitieren soll? Er braucht ja bloß eine einzige Hostie für seinen Zweck, der Einödpater will den Zacher „versehen“, also hat der Geistliche sicherlich mehrere oder doch zwei Hostien bei sich. Der Zacher langt, wenn er morgen noch am Leben ist, gewiß mit einer Hostie, und ist er gestorben, braucht er gar keine mehr. Dem Cajetan aber wäre mit einer Hostie geholfen. Wenn er daher dem Franziskaner eine Hostie wegnimmt, könnte Cajetan morgen schon schußfest sein, gefeit gegen die Kugeln seiner Todfeinde. Aufmerksam betrachtete der Flüchtling den schlafenden Pater. Wo dieser wohl die Hostien verborgen haben mag? Das Fehlen einer einzigen wird er vielleicht gar nicht merken. „Und mir wäre geholfen!“ flüsterte Cajetan, dem ganz heiß wurde bei diesem Gedanken. Unwillkürlich ließ Cajetan sich auf den Boden nieder, zog die Schneestrümpfe und Schuhe aus, und kroch geräuschlos zum Lager des Paters hin.

Quält diesen ein beängstigender Traum, er wird unruhig, stöhnt und legt sich auf die linke Körperseite.

Cajetan liegt einer Schlange gleich vor dem schlafenden Priester, die Augen fest auf dessen Oberkörper gerichtet, spähend nach dem Behältnis der Hostien.

Nichts zu sehen, es ist noch zu finster in der Hütte.

Cajetan erhebt sich leise, um für die etwa nötig werdende Flucht sein Schießzeug gleich bei der Hand zu haben, und richtet dasselbe bereit. Dann kriecht er wieder zum Heulager und betrachtet den Franziskaner.

So vergeht Stunde um Stunde, und immer gieriger wird der Ausgestoßene nach dem Mittel zur Erzielung der Schußfestigkeit. Jetzt oder nie! So lange der Pater ruhig bleibt, soll ihm auch nichts geschehen. Wenn er sich aber wehrt? Soll er ihn wegen der Hostie umbringen?

Cajetan fröstelt bei diesem Gedanken. Nein, nein, das will er nicht thun. Aber freilich, wenn der Pater die Hostie nicht gutwillig hergiebt, so muß er dazu gezwungen werden.

Es wird mählich lichter in der Hütte. Cajetan hockt am Lager des Priesters und zieht leise seine Schuhe wieder an. Könnte ja sein, daß er flüchten muß, und dazu muß er die Schuhe haben.

Der Schlaf des Einödpaters wird leichter gegen Morgen, die Atemzüge ruhiger.

Wieder betrachtete ihn der Wilderer, und diesmal ist's ihm, als zeige die Brust eine Erhöhung, als sei unter dem Habit ein Gefäß geborgen.

Soll Cajetan etwa dort den Habit aufschneiden? Mit einem Schnitt des scharfen Knickers wäre das gethan, und dann könnte er das Gefäß mit den Hostien in alter Stille herausnehmen. Wenn sich aber der Pater in diesem Augenblick rührt, wenn er gar in die Höhe fahren will, so rennt er die Brust direkt in das Messer.

Cajetan erschauert. Seine Hände zucken, er weiß nicht wie ihm geschieht, wie von geheimnisvoller Macht geleitet, sind die Hände auf der Brust des Mönches, ein vorsichtiges Tasten beginnt, Cajetan befühlt den Behälter unter dem Habit, das heißbegehrte Gefäß ist vorhanden. Schon zieht er das Messer, der Habit muß auf der Brust aufgeschnitten werden.

Jäh schreckt der Priester zusammen, erwachend ruft er: „Was soll es? Wer ischt da? Was willst du?“ und richtete sich auf.

Blitzschnell ist Cajetan aufgesprungen, das offene Messer hinter dem Rücken verbergend, suchte er den Geistlichen zu beruhigen. „Nichts, Hochwürden! Nichts! Ich hab' nur geschaut, ob Ihr noch schlaft! Es ischt Tag worden draußen!“

Den Mönch befällt eine jähe Ahnung. Mit einem Handgriff an seine Brust überzeugt er sich, daß die Bursa unter dem Habit noch vorhanden ist. Pater Ambros erhebt sich, er erkennt die Betroffenheit des Wilderers, er ahnt dessen Absicht, den Frevel, und in heiliger Entrüstung, mit flammenden Worten, züchtigt er den schweren Frevel, den geplanten Raub einer heiligen Hostie. „Das ischt verruchter Gottesraub! Du bischt dem Teufel verfallen, verdammt und verworfen! Ausgestoßen sollst du sein und bleiben aus der Gemeinschaft der Christen!“

„Na, na, Pater! Nur das nicht! Nicht exkommunizieren, ich bin eh (ohnehin) schon elend genug! Schau, Herr! Ich hab' ein Leben, schlechter wie ein Hund, elendiger wie 's Wild im Wald. Ich hab' weiter nichts Schlechtes wollen, gleich nur ein wengl kugelfest möcht' ich sein!“

„Frevel, strafwürdiger Frevel ischt das! Mag alles übrige begreiflich erscheinen, solcher Frevel nie und nimmer! Was du gewollt, bleibt ohn' Verzeihen! Das kann dir nie und nimmer verziehen werden! Ich exkommuniziere dich! Verflucht bischt du, ausgestoßen aus der Gemeinschaft der Christen!“

 

Cajetan griff nach dem Schießzeug, mit einem Satz sprang er aus der Hütte.

Nicht länger will Pater Ambros in dieser Hütte bleiben; er weckte den Buben und trat in die Schneewüste hinaus. Klar ist das Firmament geworden, ein kalter Wintertag ist angebrochen, der Schnee haftig geworden.

An einzelnen Felsformationen des Gebirges ringsum vermag sich der Pater zu orientieren, der Bub erkennt auch die Richtung zum Joch, und so treten beide den Marsch an. Stundenlang heißt es waten im Schnee, dann endlich ist die Jochlhöhe erklommen, von welcher auf der anderen Seite abwärts nur noch ein Viertelstündchen bis zum Zachenhofe ist.

Müde und matt wird das Gehöft erreicht. Die weinende Bäuerin schließt ihr glücklich wiedererhaltenes, schon aufgegebenes Kind in die Arme, und dann geleitet sie den Mönch zum toten Zacher. Zu spät gekommen. All' die furchtbare Mühe war vergebens.

Pater Ambros segnete die Leiche ein und betete für den Heimgegangenen. Nach eingenommener Stärkung trat der Einödpater den Rückweg an, diesmal von zwei Knechten begleitet, die ihm den Weg voraus treten.

Sonnenwiederkehr ist heute; bei klarem Himmel sendet die Sonne erstmalig im neuen Jahr wieder ihr Licht auf das Klösterl in Latschwies. Ein frostiger Tag, dieser 22. Februar, doch er brachte die Sonne wieder, die der einsam in seiner Zelle sitzende Pater Ambros stillfreudig begrüßte. Die 87 sonnenlosen Tage sind vorüber, langsam geht es dem Lenz entgegen. Im Klösterl hat es in dieser Zwischenzeit eine Veränderung gegeben. Frater Marian ist auf die Bitte des Einödpaters nach dem Süden versetzt worden, in die sonnige, warme Heimat. Für ihn ist ein anderer Klosterbruder heraufgekommen in die Bergwildnis, ein kräftiger, junger Mann, wetterfest, von dem die Latschwieser gleich beim ersten Anblick sagten: „Der ischt der richtige, der vertragt was!“

Pater Ambros hüstelt in seiner Zelle. Jene Schreckensnacht durch die Schneewüste im furchtbaren Sturm, die kalte Nacht in der Hütte, all' dies hat ihm doch böse zugesetzt. Er ist ja kein Junger mehr, der Einödpater. Aber der „Auswärts“ (Frühling) wird es schon bessern.

Der neue Frater Willibald läutet das Ave; es ist Abend geworden in der Bergeinsamkeit. Unverschlossen ist in dieser kurzen Zwischenzeit die Klosterpforte. Wer wird auch eindringen wollen in diese Stätte der Armut und Entbehrung!

Und doch! Eine Gestalt huscht hinein und verbirgt sich.

Zur Matutin erhebt sich Pater Ambros vom Lager, entzündet eine Kerze und will eben seine Zelle verlassen, da wirft sich eine Männergestalt dem Pater zu Füßen und fleht um Barmherzigkeit. Ambros ist erschrocken zurückgewichen, doch der flehende Ton beruhigt ihn sogleich. „Wer bischt du und was willst du?“ fragte der Franziskaner und leuchtete dem Burschen in das Gesicht.

„Kennst mich nimmer, Pater? Ich bin der Cajetan, weißt noch?“

„Richtig, ja, jener Wilderer und Frevler! Was willst denn du Verworfener im Kloster?“

„Hilf mir, Einödpater! Die Sünd' möcht' ich los haben und Unterschlupf. Die Gendarmen hetzen mich, Herr! Ich bin oben nimmer sicher! Die Füß' erfroren, krank an Leib und Seel', hilf, Einöder! Hilf um Gottes und Jesu willen!“

Mitleidig sprach der alte Priester: „Das ischt freilich schlimm! Doch ein Gutes erkenne ich dabei, in dir ischt die Reue wach geworden! Das Gewissen regt sich, und das ischt der Anfang zur Besserung! Du willst wohl beichten?“

„Ja, Pater! Absolvier' mich um Gottes willen!“

„So sehst du es ein und bereust den furchtbaren Frevel?“

„Ja, Pater! Aber mach's geschwind, ich bin keine Stund' mehr sicher! Ein Gendarm ischt im Dörfl über Nacht 'blieben, der wird wohl mit Taganfang kommen!“

„Vor dem Altar und in der Kirche überhaupt bischt du sicher! Zur Beichte will ich dich lassen, aber kommunizieren kannst du nicht, denn es ischt nicht gewiß, ob du nicht abermals einen Frevel planst und die beim hl. Abendmahl empfangene Hostie verwenden willst zu abergläubischer That!“

„Nein, nein, gewiß nicht! Ich schwör's mit heiligem Eid! Bindet mir die Händ' an den Leib, doch laßt mich ans Speisgitter! Ihr könnt ja bei mir bleiben, bis die Hostie zerflossen ischt auf der Zung'! Ich bitt', sprecht mich los, lasset mich den Frevel wieder gutmachen!“

Der Priester erkannte die Zerknirschung des Ausgestoßenen, die Reue ist echt und tief empfunden. „So komm!“

Im Beichtstuhl des Klosterkirchleins hörte Pater Ambros die Beichte des Verfolgten, der dann tiefandächtig an das Gitter vor dem Altar kniete, um das heil. Abendmahl zu empfangen. Frater Willibald war zur Matutin ins Kirchlein gekommen und sah erstaunt, wie der Pater beim Schein einiger Altarkerzen den Tabernakel aufschloß und die heil. Handlung des Sakramentspendens vornahm.

Schon schritt Pater Ambros die Stufen des Altars herab, er reichte dem Büßer eben die geweihte Hostie mit den Worten: „Corpus Domine Jesu Christi custodiat animam tuam et vitam aeternam, Amen!“

Das Geräusch starker Tritte an der Kirchenthüre veranlaßte den Priester, forschend in jene Richtung zu blicken.

Eine uniformierte Gestalt ist eingetreten, die den Sturmhut in der linken Hand trägt und mit der Rechten sich andächtig bekreuzt. Ein Gendarm ist es.

Der greise Priester zittert vor Erregung. Ahnungslos kniet Cajetan vor ihm und harrt frommgläubig des Empfanges der heil. Hostie. Pater Ambros reicht dieselbe dem Kommunikanten und unwillkürlich flüstert er diesem zu. „Bleib' knieen, hinten wartet ein Gendarm!“

Cajetan zuckt erschrocken zusammen, die Angst macht ein Gebet unmöglich.

Der Gendarm mochte wohl auch in dem Kommunikanten den längst gesuchten Flüchtling erkannt haben, denn er näherte sich demselben bis zur ersten Kirchenbank, in welcher er Platz nahm, um hier zu warten.

Verwirrt hatte der Priester den Hostienkelch wieder zum Altar getragen und im Tabernakel verschlossen. Der Gedanke, wie dem armen Burschen die Rettung ermöglicht werden könnte, bewegte den Einödpater so stark, daß er für die nächsten Augenblicke nicht wußte, was beginnen.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, trat Ambros nochmals zu dem zitternden Menschen und gebot ihm flüsternd, in die Sakristei zu kommen, indem der Pater zugleich das Speisgitter öffnete, um Cajetan in den für Priester und Ministrant reservierten Raum vor dem Altar einzulassen.

Schwerfällig folgte Cajetan, den die erfrorenen Füße schmerzten, vor dem Tabernakel verbeugte er sich tiefdemütig und schritt in die Sakristei, wohin ihm der Pater folgte, hinterdrein Frater Willibald.

In atemloser Spannung harrte der Gendarm in der Bank.

„Jetzt fort, Gott helfe dir!“ flüsterte der alte Pater, und Willibald öffnete die zum Klostergang führende Thüre.

Trotz der Fußschmerzen raste Cajetan in seiner Todesangst mit jähen Sätzen in den Gang hinaus und verschwand.

„Rasch das Meßgewand, Willibald, ich will gleich die Messe lesen!“ gebot Ambros.

Frater Willibald verstand diese Absicht nicht sofort und machte Einwendungen. Es sei zu früh zur Messe und noch keine Andächtigen erschienen.

„Heute ischt mit Gottes Hilfe eine Ausnahme! Rasch, rasch!“

Willibald gehorchte, und alsbald erschienen Priester und Ministrant wieder vor dem Altar.

Der Gendarm guckte, er wartete einige Minuten und als er merkte, daß der gesuchte Flüchtling nicht wieder aus der Sakristei hervorkam, ward der Verdacht zur Gewißheit. Schnell bekreuzte sich der Gendarm und verließ raschen Schrittes das Kirchlein. Für ihn beginnt der Dienst, er darf keine Minute länger weilen. Flink springt der Mann um das Kirchlein herum, nach dem Ausgang von der Sakristei zu forschen, mit einem Blick ist der Plan entdeckt; der Flüchtling kann nur durch den Verbindungsgang ins Klösterl entwichen sein. Soll der Gendarm nun in Abwesenheit der Klosterleute eindringen? Thut er das nicht, so wird er den Deserteur auch nicht erwischen. Die Pforte ist offen, also hinein, der Dienst ist unerbittlich.

Vom Flüchtling keine Spur; Cajetan ist wie vom Erdboden verschwunden. Alles Suchen von Zelle zu Zelle, im Dachboden, im Keller, ist vergebens. Der Häscher suchte nun nach Spuren beim Gärtchen und hier wird der Schnee zum Verräter, eine flüchtige Fährte zeigt den eingeschlagenen Weg über die verschneite Wiese hinter dem Klösterl hinan den Berg zum Hochwald. Die Menschenjagd beginnt.

Nach beendeter Messe kehrte Pater Ambros in seine Zelle zurück, nun eine Beute unangenehmer Gedanken. Hat er recht gehandelt, da er sich vom Mitleid leiten ließ, oder hat er seine Pflicht gegenüber Staat und Gesetz verletzt, indem er dem Verfolgten zur Flucht verhalf? Zweifel erfassen ihn, der greise Priester ist mit sich uneins, und selbst ein Gebet kann ihn von solchen Zweifeln nicht befreien.

Von erfolgloser Streife ist der Gendarm ins Amtsstädtchen zurückgekehrt, und sein erster Gang galt dem Bezirksrichter zur Berichterstattung.

Es war schon dämmerig und knapp vor Schluß der Amtsstunde. Eben wollte Ehrenstraßer die Lampe verlöschen, als sich der Gendarm meldete.

„Haben Sie den Flüchtling noch immer nicht?“ fragte der Bezirksrichter.

„Zu Befehl, Herr Bezirksrichter, nein! Unter den begehenden Verhältnissen ist es auch ganz unmöglich, den Deserteur zu fassen!“

„Wieso?“

Nun erzählte der Gendarm das Erlebnis im Latschwieser Kirchlein.

Ehrenstraßer fühlte zum erstenmale in seiner Dienstpraxis eine Beklommenheit. Der Fall ist ihm neu und nichts weniger denn angenehm. Zunächst entließ er den Gendarm mit der Ordre, daß die Patrouillen gegen den Deserteur vermehrt und auch die Jagdgehilfen aufgeboten werden sollten. Weiteres werde dem Wachtmeister noch zugemittelt werden. Unschlüssig verblieb Ehrenstraßer noch in der Kanzlei und überlegte den Fall. Daß der ihm gut bekannte Einödpater aus rein menschlichem Mitleid so gehandelt, steht außer allem Zweifel. Aber wie qualifiziert sich diese Handlungsweise? Ist es Begünstigung, um einen Verbrecher der Bestrafung zu entziehen? Dazu gehört das Bewußtsein beim Pater, daß Cajetan ein Deserteur ist, also eine bestimmte strafbare That begangen hat, vor deren Folgen der Begünstiger ihn retten wollte. Hatte der Pater dieses Bewußtsein? Kann und soll man überhaupt gegen einen Ordensgeistlichen, gegen einen wahrhaftigen Märtyrer seines Berufes vorgehen? Von einem Vorteil für den Begünstiger kann ja ohnehin keine Rede sein. Und übergroß ist die Schädigung auch nicht, und für den Staat kann es ziemlich gleichgültig ein, ob der Flüchtling um einige Tage früher oder später eingefangen wird. Unangenehm bleibt der Kasus jedoch immer, denn der Gendarm hat dienstlich hierüber Anzeige erstattet, und der Untersuchungsrichter ist verpflichtet, der Sache nachzugehen.

„Ja, das werde ich wohl thun müssen, aber heute nimmer!“ murmelte der Richter, nahm Hut und Überrock, blies die Lampe aus, und verließ das Gerichtsgebäude.

VIII

Es lenzte in der Bergwelt unter üblichen Stürmen und dem Wechsel von Schneetreiben und Regengüssen. Zeitweilig luegte aber auch die wärmer werdende Sonne zwischen den Wolken hervor und bestrahlte die braungelben Flächen. Um diese Vorfrühlingszeit ging man bei Ratschiller daran, das große Werk der Luftbahn in Scene zu setzen. Ungeheure Mengen von Eisenteilen für die Seilbahnwagen, Ausrückerschienen &c. lagen in den Magazinen, einer ungeheuren Riesenschlange gleich das Seil selbst in einer Länge von 3740 m, angefertigt aus besten Tiegelgußstahldrähten.

Auf der Angerwiese erhebt sich bereits das erste Stützgerüst aus massigen Holzblöcken, fertig montiert bis auf das noch zu spannende Seil, angestaunt von den Leuten, die über die Bedeutung sich nicht klar zu werden vermochten. Der Vorbesitzer dieses von Ratschiller durch Pfahlers Vermittelung gekauften Grundes bekundete die größte Neugierde, denn es wollte ihm nicht einleuchten, daß ein so schweres Holzgerüst zum Bau der Hochzeitsvilla nötig sei. Als Angerer aber durch die Arbeiter der Cementfabrik endlich doch den Zweck erfuhr, da wollte er protestieren, denn er habe den Grund wohl zur Villa-Erbauung verkauft, nicht aber zur Errichtung einer Teufelsbahn durch die Luft. Natürlich erreichte der Mann mit dem Protest nichts, verkauft bleibt verkauft, doch alarmierte sein Gezeter alsbald die der Ratschillerschen Fabrik aufsässigen Straßenbauern, die nun gegen das Projekt einer Luftbahn mobil machten, und Gericht und Bezirkshauptmannschaft überliefen, um mit verdutzten Gesichtern heimzukehren. Nichts zu machen, alles in Ordnung, genehmigt, hieß es bei der Behörde. Also darf Ratschiller unerhörterweise seinen Cement über die Köpfe der Menschheit hinweg durch die Luft herausbringen, er braucht die Straße nimmer und daher auch den Bauern nichts mehr für die Straßenbenutzung zu bezahlen. Der letztere Umstand wurmt die Bauern natürlich am meisten, und zornig rannten sie nun zur Konkurrenz Ratschillers, um bei dieser Rat zu erholen. Aber die Direktoren dieser Aktiencementfabrik gaben zur Antwort, daß jetzt nichts mehr zu wollen sei, Ratschiller wäre der Schlauere gewesen und künftig werde auch die Aktiencementfabrik sein Beispiel nachahmen und durch die Luft verfrachten, was bedeutend billiger komme als das Straßenfuhrwerk. Also nichts mehr zu wollen! Die Bauern mußten sich zufrieden geben, das heißt, ein Oppositionsmittel giebt es noch: der neuen Luftbahn allen Schaden und alles Unglück zu wünschen und das Verderben anzubeten.

 

Bis die Tracenführung erledigt, die Bauten für die Unterstützungen erstellt, für die Laufbahn alle Spannvorrichtungen und Verankerungen angebracht, die Stationen mit den Ausrückern und Telephonen versehen wurden, verflossen viele Wochen in emsigster Arbeit, doch die sächsischen Monteure wurden zur rechten Zeit fertig, das Riesenseil hing endlos, d.h. in sich geschlossen, mit vorgeschriebener Spannung und verbindet das Magazin am Bahnhof über Wiesen und Berg hinweg mit der Ratschillerschen Fabrik auf eine Entfernung von 3650 m durch die Luft. Dann wurden die eigens konstruierten Wagen für den Transport von Cement und Kohle im Seil angekuppelt, ebenso die sog. Mitnehmer, und endlich konnte angetrieben werden mit einer Kraft von elf Pferden.

Obwohl von einer feierlichen Eröffnung Abstand genommen war, wohnte die halbe Bevölkerung des Städtchens dem Schauspiel bei und besah staunend das Werk der Luftbeförderung zunächst der leeren Eisenwagen hinauf zur schwindelerregenden Höhe und über das Gebirge hinweg.

Hundertpfund befand sich bei der Familie Ratschiller, welche anfangs die Drehscheibe im Magazin, um welche das Riesenseil sich drehte, besichtigte und dann sich zum Stützgerüst auf der Angerwiese begab. Hier hatten sich verschiedene Honoratioren mit ihren Damen des Städtchens aufgestellt, die aufmerksam den Erläuterungen des Ingenieurs vom Bleichertwerk lauschten. Insbesondere widmete der Richter Ehrenstraßer diesen Ausführungen volles Interesse, wie er das allen Neuerungen gegenüber that, um sein Wissen immer wieder zu erweitern.

Der Ingenieur erklärte zunächst die Tracenführung, wonach die Tragseile beim Bahnhof eine Seehöhe von 486 m haben; diese Höhe beträgt im Scheitel der Bahnstrecke bereits 856 m, um sich dann bei der Fabrik drinnen auf 538 m zu senken. Die Steigung der Drahtseilbahn schwankt zwischen Null und 580 pro mille, die horizontale Länge beträgt 3640 m. Das Wesentliche der Luftbahn besteht darin, daß die eigentliche Laufbahn der Wagen durch ein starkes ruhendes Stahldrahtseil gebildet wird, welches in eine seinem Querschnitt und dem Material entsprechende Spannung versetzt und in gewissen Entfernungen durch Unterstützungen getragen wird. Die Wagen sind derart am Tragseil aufgehängt, daß ihre tief ausgekehlten Laufräder auf dem Tragseil rollen, während das Wagengehänge seitlich von demselben und das zur Aufnahme der Güter bestimmte Gefäß unter demselben hängt und die Unterstützungen der Tragseile ungehindert passieren kann. Unter den Tragseilen und von den Wagen getragen befindet sich das endlose Zugseil, welches in gewissen Entfernungen durch den Kuppelapparat mit den Wagen verbunden und durch einen feststehenden Motor in Bewegung gesetzt wird, so daß Zugseil und Wagen dieselbe Geschwindigkeit haben. Bei der Ankunft eines Wagens auf der Station wird diese Verbindung durch eine daselbst angebrachte Vorrichtung (den sog. Ausrücker) selbstthätig gelöst, und der Wagen kommt zum Stillstand, während sich das Zugseil weiterbewegt. Diese Seilbahn ist eine doppelgeleisige und für kontinuierlichen Betrieb eingerichtet, so daß sich auf dem stärkeren Tragseil immer die mit dem schwereren Cement beladenen Wagen von der Fabrik zum Bahnhof und gleichzeitig auf dem schwächeren Tragseil immer die mit Kohle beladenen oder leeren Wagen zur Fabrik zurückbewegen. Die eigentliche Laufbahn ist durch auf der freien Strecke angeordnete Verankerungen und Spannvorrichtungen in mehrere Abteilungen zerlegt, deren jede unabhängig von der anderen gespannt und dadurch möglichste Solidität der Laufbahn erreicht wird. Das stärkere Drahtseil hat einen Durchmesser von 32 mm und eine geringste Bruchbelastung von rund 33270 kg; es wird durch das angehängte Spanngewicht mit ca. 6600 kg, also ungefähr 1/5 der Bruchbelastung, gespannt. Das schwächere Tragseil hat einen Durchmesser von 26 mm und wird bei einer geringsten Bruchbelastung von ca. 21900 kg mit ca. 4300 kg, also ebenfalls höchstens 1/5 seiner Bruchbelastung, durch das angehängte Gewicht gespannt.

Auf den Stationen ist mit jedem Tragseil noch eine aufgehängte Schiene verbunden, die nach der Außenseite der Bahn abgebogen ist. Der vom Zugseil abgekuppelte Wagen wird durch einen Arbeiter vom Tragseil hinweg über die Schiene auf die Weiche geschoben. Auf jeder der beiden Endstationen sind diese Schienen derart angeordnet, daß die an das Tragseil der einen Bahnseite anschließende in diejenige, welche auf der anderen Bahnseite anschließt, übergeht, so daß der Wagen von dem einen Tragseil, die Weiche durchlaufend, auf das andere Tragseil gelangt.

Für Nebenweichen ist in der Weise gesorgt, daß nach Belieben ein einzelner Wagen aus der Reihenfolge herausgenommen oder außer Betrieb gestellt werden kann.

Das Zugseil hat 20 mm Durchmesser und eine Bruchbelastung von ca. 17300 kg; die im Zugseil vorkommende größte Spannung beträgt ca. 2100 kg, so daß es also ca. 8½fache Sicherheit bietet.

Bei gleichmäßiger Besetzung der Bahn mit Kohlen- und Cementwagen bei einer stündlichen Leistung von 36 Tonnen Kohle und 30 Faß Cement beträgt die erforderliche Betriebskraft ca. 6½ Pferdestärken; beim Anlassen der Bahn erhöht sich der Kraftbedarf auf ca. 11 Pferdestärken.

Die Drahtseilbahnwagen sind dauerhaft, ganz aus Eisen und Stahl hergestellt und die durch längeren Betrieb der Abnutzung unterworfenen Flächen mit patentierten Schmiervorrichtungen für konsistentes Öl versehen, welche einen sehr sparsamen Verbrauch bedingen. Die Laufräder sind aus bestem Tiegelgußstahl hergestellt, so daß sie selbst nach Jahren keine Abnutzung erleiden.

Besondere, hier wohl nicht zu erläuternde Vorrichtungen garantieren das Innehalten gewisser Entfernungen der einzelnen Wagen untereinander und zwar einen Abstand von 150 m von Wagen zu Wagen, ein Nachrutschen ist ebenso ausgeschlossen, wie eine größere Geschwindigkeit im Laufe eines einzelnen Wagens. Eine spezielle Einlaufbremse, die auf die Räder der Wagen automatisch wirkt, vermindert sowohl bei großem Gefäll wie beim Einlauf in die Stationen die Geschwindigkeit.

Hier unterbrach der sich für die geniale Anlage sehr interessierende Richter den Vortragenden mit der Frage. „Wieviel Personal ischt denn zur Bedienung dieser Seilbahn nötig?“

„Auf jeder Endstation und an jedem Ende einer Zwischenstation sind je 1-2 Mann erforderlich zum Zwecke des Ankuppelns der abgehenden Wagen sowie zum Auskuppeln und zur Schiebung auf die Weiche.“

„Danke! Darf man noch fragen, wie sich die Leistung der Bahn gestaltet?“

„Sehr gerne zu Diensten! Die mittlere Geschwindigkeit der Wagen und somit des Zugseiles beträgt 1,25 m in der Sekunde und werden die Wagen in Entfernungen von 150 m angekuppelt und gehalten; sie folgen sich also im Zeitabschnitt von 120 Sekunden, so daß stündlich 30 Wagen auf der Endstation eintreffen. Da die Ladung der Wagen je 120 kg Kohle oder ein Faß Cement beträgt, so beziffert sich die stündliche Leistung der Drahtseilbahn auf 36 Tonnen Kohle bezw. 30 Faß Cement.“

„Großartig erdacht und ausgeführt!“ sagte der Richter, und meinte dann: „Es könnte sonach ein Mensch ohne besondere Gefährdung in einem solchen Wagen die lustige Fahrt mitmachen!“

„Dem Gewicht nach ohne Anstand! Doch wer nicht völlig schwindelfrei ist, soll das Wagnis lieber unterlassen. Natürlich müssen die Aufsichtsorgane zur Kontrolle der Seile zeitweilig die Strecke befahren und hierzu werden nur absolut schwindelfreie Seilbahnaufseher zur Verwendung kommen!“

„Wirklich interessant. Fast könnte einen die Lust anwandeln, eine solche Fahrt zu wagen!“ erwiderte Ehrenstraßer und verfolgte scharfen Blickes die Wanderung durch die Luft. Inzwischen hatte Ratschiller sen. telephonisch den Befehl in die Fabrik geben lassen, es solle nun Cement geladen und herausbefördert werden.

4Dieser Aberglaube ist heute noch im Bergvolk verbreitet, man glaubt an die unfehlbare Wirkung, doch bringe solcher Frevel, weil ein Bund mit dem Teufel, einen schweren Tod mit sich. Der Betreffende könne erst dann sterben, wenn ein Priester die Hostie wieder aus der Hand herausschneide, in welchem Moment die Schußsicherheit verloren gehe und der Bund mit dem Teufel wieder aufgehoben werde. Näheres hierüber bei Dr. Höfler, Volksmedizin und Aberglaube, 1888.