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Bergrichters Erdenwallen

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„Vater! Alle sind fort! Es ischt schrecklich!“

Ehrenstraßer fand im ersten Augenblick kein Wort, sein Atem ging hastig, die seelische Erschütterung ist zu groß. Sein Weib hat ihn verlassen ohne ein Abschiedswort. Emmy umschlang mit den Armen den armen Vater und flüsterte: „Nun hast du nur noch mich und ich bleibe bei dir, lieber, guter, armer Vater!“

„Ja, du bischt ein braves Kind, das einzige Wesen, das bei mir aushält! Daß es so kommen mußte!“ —

XIX

Die fluchtartige Abreise der Richterin erregte im kleinen Städtchen Sensation, die stärker wirkte, als die Verunglückung der Doktorin. An Gesprächsstoff hatten die männlichen und weiblichen Klatschbasen sonach keinen Mangel, nur wußten sie die Reise nicht recht zu deuten. Begehrte Auskunftspersonen wurden daher die Dienstboten Ehrenstraßers, denen auf Schritt und Tritt aufgelauert wurde und von welchen zu erkunden war, daß Frau Bianca mit Kindern und Mutter wahrscheinlich für immer abgereist sei, weil sie in dem Nest nicht mehr bleiben wollte. Diese Mitteilung mußte den Lokalpatriotismus verletzen, sie bewirkte einen Umschwung der öffentlichen Meinung zu gunsten des allgemein verehrten, nun treulos verlassenen Richters. Ehrenstraßer litt schwer, doch ließ er sich durch den Schmerz nicht beugen, er suchte und fand Trost bei seiner wackeren Tochter und in treuer Pflichterfüllung. Lebte und arbeitete er gerne im Städtchen, das ihm zur zweiten Heimat geworden, so liebte er das traute Bergdomizil jetzt erst recht innig samt den damit verbundenen Entbehrungen. Eine wehmutsvolle Liebe! Verließ ihn doch die Gattin, weil sie zu wenig Vergnügen hatte im Städtchen.

Am Benehmen der Ortsbewohner konnte Ehrenstraßer erkennen, daß ihm eine gesteigerte Verehrung entgegengebracht wird, eine Art Dankbarkeit, daß doch er aushält im Städtchen, das seine genußsüchtige Frau geringschätzte und verließ. Ein kleiner Trost freilich, aber doch ein Trost. Der Dienst drängte die schmerzlichen Gedanken bald zurück, es giebt im Amt keine Ruhezeiten, für einen Untersuchungsrichter schon gar nicht, so dieser seinen Dienst genau nimmt und weiß, wie schwierig dieses Amt ist. Pflegte doch Ehrenstraßer jüngeren Kräften stets zu versichern, daß vom Gerichtsbeamten immer Kraft und frischester Eifer, ausdauernde Gesundheit, umfangreiches, stets gegenwärtiges juridisches Wissen in strafrechtlichem wie civilrechtlichem Fache, Menschenkenntnis, gewandtes Benehmen, offener Sinn und Energie, Takt und Mut verlangt werden, und daß erforderlichen Falles Gesundheit und Leben im Dienst eingesetzt werden müssen.

Nach solchen Grundsätzen arbeitete Ehrenstraßer und ward dadurch seinen unterstellten Beamten ein leuchtend Beispiel zur Nachahmung im schweren Amte.

Der Richter war längst im gewohnten Dienstgeleise, da im Städtchen die Wogen der Disputation noch hoch gingen, und ruhig amtierte er einen Fall nach dem anderen. Maldoner fand sich wieder ein, um zu berichten, daß er zwar den Dieb noch nicht abgefangen, dagegen einen seltsamen Fund gemacht habe und zwar steckten in einer Scheunenecke zwei Säcke mit Korn, gezeichnet M.W.

Ehrenstraßer horchte einigermaßen verwundert auf.

„Ich mein' decht, das Korn hat mir der Widschwenter Michel heimlicherweise in die Scheune gesteckt, aber die Möhren hat er mir decht gestohlen!“

„Dann sollten die zwei Säcke Korn wohl eine Entschädigung für die gestohlenen Rüben sein?“

„Sell könnt' schon möglich sein!“

„Entspricht der Wert des Kornes dem Verlust an Rüben?“

„Wohl, wohl!“

„Beharrt Ihr dann noch auf der Diebstahlsanzeige?“

„Na, na! Aber wissen möcht' ich decht, ob es der Widschwenter ischt!“

„Für mich ischt der Fall nun abgethan. Ihr könnt dem Widschwenter jedoch sagen, daß er zu mir kommen soll, ich hätte mit ihm zu reden!“

Bald nach Abgang Maldoners wurde die Post gebracht, amtliche Schriftstücke, unter welchen Ehrenstraßer auch einen an ihn gerichteten Privatbrief fand. Die leise Hoffnung, daß das Brieflein von Bianca sein könnte, zerstörte sofort die ungelenke Handschrift auf der Adresse. Und ebenso ungelenk war der Brief geschrieben, im Sinn wie in der Schrift folgenden Inhalts.

„Gehorsamster Herr Strafrichter! So leid es mir thuet, das Sie von Ihrer Frau verlasen worden sind, muß ich doch so freindlich sein und anfragen, ob Sie nicht vielleicht Kleider zum Ausbessern haben. Ohne Frau reißen oft leichter Knöpfe und Hosen. Ich bin Ihnen zwar nicht persönlich bekannt, aber dennoch Schneider von Profession, habe mich aber nebenbei immer mit dem Kriminal befaßt. Ich habe mir dadurch geistig zu sehr angestrengt und bin etwas nerviös geworden, im übrigen besitze ich einen guten Humor ohne Socialdemokrat zu sein. Nun aber die Abreise, was nicht schön ist von Ihrer Frau und meine Arbeitslosigkeit, von der Bauernschneiderei wird man niemals nicht fett, macht mir so viel Sorgen, bin erst 22 Jahre alt und besitze trotzdem eine tadellose Vergangenheit. Sie werden vielleicht denken, ich könnte beim Schneidermeister in hiesiger Stadt Arbeit finden, dem muß ich Ihnen entgegnen, ich bin im Kriminal gebildet, und möchte zur Heilung das Kneip'sche Verfahren anwänden, bin deswegen in die Nähe vom stedtischen Schwimmbad gezogen. Wenn Sie etwas Arbeit in Ihrer Einsamkeit für mich haben, so bite ich nochmals darum, lasen Sie mir dieselbe zukommen, vielleicht kann ich später einmal es vergelten. Für meinen erfüllten Wunsch im Voraus dankend zeignet Hochachtend Cyprian Tschiggfrei. Wenn Sie so gut sind, schicken Sie mir aber keinen Schandarmen, die wenn ich sehe, werde ich immer nerviös. Nochmals mit gehorsamster Hochachtung der Obige.“

„Den Brief heb' ich mir auf!“ flüsterte Ehrenstraßer. Eine Stunde mochte verflossen sein, da meldete der Amtsdiener den Bauer Michael Widschwenter.

„Soll hereinkommen!“

Durch die Thüre wand sich die hagere Gestalt Widschwenters, der in der rechten Hand ein Taschentuch hielt und sich beim ersten Schritt in die Amtsstube mit feierlicher Umständlichkeit das Gesicht damit abwischte. Ehrenstraßer stutzte; die Temperatur ist nicht danach, daß sich jemand Schweiß vom Gesicht abwischen könnte. Unwillkürlich mußte der Richter an Aberglauben denken, der bekanntlich mancherlei Variationen speziell vor Gericht aufweist und in dieser Erwägung achtete Ehrenstraßer scharf auf das Verhalten dieses Bauers. Widschwenter richtete sich nach dem Abwischen des Gesichtes etwas auf und knüpfte dann sofort einen Knoten in das Tuch, den er fest in der Hand hielt.12 Jetzt erst wagte es der Bauer, den Blick auf den Richter zu lenken, und zaghaft klangen die Worte: „Herr Stadtrichter! Ös habt's mich holen lassen!“

„Ganz richtig, Widschwenter! Ich möchte mit Euch etwas besprechen und zwar möchte ich von Euch erfahren, warum Eure Ross' so prächtig ausschauen!“

Der Bauer stand wie ein lebloser Holzklotz starr und blickte den Richter an, als ob dieser in einer fremden Sprache geredet hätte.

Ehrenstraßer wiederholte den Satz, der Bauer gab kein Zeichen eines Verständnisses. Sollte der Mann taub sein?

Der Satz wurde nun geschrieen, Widschwenter stand regungslos. Nun machte der Richter die Probe auf Simulation der Schwerhörigkeit, indem er den eisernen Briefbeschwerer in die Hand nahm, in scheinbarer Absicht zur Thüre ging und im Rücken Widschwenters das schwere Eisenstück zu Boden fallen ließ.

Der Bauer rührte sich nicht, zweifellos ist er also Simulant. Denn ein wirklich Schwerhöriger hört solchen Lärm durch die Schallleitung des Bodens und Körpers doch oder fühlt wenigstens die Erschütterung, der Simulant aber glaubt, daß er dies auch nicht hören dürfe und wendet sich daher nicht um.

Ehrenstraßer hob den Briefbeschwerer vom Boden auf und begab sich wieder an den Schreibtisch.

Ersichtlich drückte der Bauer den Knoten im Taschentuch und richtete einen fragenden Blick auf den Gerichtschef.

„Also der Widschwenter will heute nicht gut hören! Da müssen wir ihn schon auf etliche Tage einsperren, vielleicht bessert sich dann das Gehör!“ sprach der Richter absichtlich leise.

Erschrocken platzte der Simulant heraus. „Ich bitt', Herr Stadtrichter, nur nit einsperren, ich hör' bloß auf einem Ohr nit b'sonders!“

„So, so! Also hörst jetzt doch besser, das ischt recht! Nun sag' mir, Widschwenter, wie ischt es mit deine Ross'? Selle fressen halt gestohlene Rüben gerne, nicht?“

„Wohl, wohl! Das ischt eine alte Sach'. Das Gras vom Nachbar macht die Küh' viel Milch und seine Rüben die Ross' stark und gerund!“

„Also hast du dem Maldoner die Möhren genommen?“

„I hun ihm dafür zwei Sack Korn 'geben, also hat er decht keinen Schaden!“

„Also Diebstahl aus Aberglauben! Na, der Maldoner hat die Anzeige zurückgenommen, du hast Ersatz geleistet, bleibst aber ein Dummkopf, weil du solche Sachen glaubst!“

„Kann schon sein, gnä' Herr! Aber helfen thuan selle Sachen decht und das ischt die Hauptsach'! Werd' ich jötzund nit eing'sperrt?“

„Nein! Aber wenn du noch eine einzige Möhre stiehlst, holt dich der Gendarm, merk' dir das, Widschwenter!“

„Saggra! Hätt's nit 'glaubt, daß selles Todtentüchel so wenig nutzt! Muß decht ein Tropf g'wesen sein, seller Todter!“

 

Ehrenstraßer entließ schmunzelnd diesen Originalmenschen, der hastig davontrollte, und wandte sich dann zur Erledigung der Aktenstücke.

Nachmittags sprach der Richter im Hause des Bezirksarztes Bauerntanz vor, um sich nach dem Zustand der Doktorin zu erkundigen. Der Bezirksarzt konnte mitteilen, die Brüche sind eingerichtet, Gipsverbände angelegt, die Patientin ist bei Sinnen, die Gehirnerschütterung nicht so schwer, als anfangs befürchtet wurde, doch dürfe niemand vorgelassen werden.

„So besteht Hoffnung auf Wiederherstellung?“

„Möglich ischt es ja; das Gedächtnis ischt völlig verschwunden, meine Frau vermag sich an nichts zu erinnern, ich quäle sie selbstverständlich nicht mit weiteren Fragen. Wissen möchte ich aber, wie meine Frau auf den absurden Gedanken verfallen konnte, auf der Luftbahn eine Fahrt zu machen. Ob da nicht der Fabrikleiter dahintersteckt?“

„Zweifellos hat er die Gnädige dazu animiert.“

„Werde mir den Mann gelegentlich vorfangen!“

Weiter wollte Ehrenstraßer auf dieses Thema nicht eingehen, er empfahl sich unter Wünschen auf baldige Genesung der Doktorin. Der Sache auf den Grund zu gehen, ist der Richter fest entschlossen, er wittert etwas und vermag an einen Zufall nicht zu glauben. So kam es denn zu einer abermaligen Vernehmung; Hundertpfund wurde vorgeladen und erschien pünktlich, wenn auch in gedrückter Stimmung, in der Kanzlei des Gerichtsvorstandes. Ehrenstraßer, dem der Aktuar zur Protokollführung an der Seite saß, begann das Verhör ruhig – ernst mit der Frage, weshalb Hundertpfund die Dame zur Fahrt bewogen habe. Im verzweiflungsvollen Tone erwiderte der Fabrikleiter. „Verzeihen Herr Bezirksrichter: Ich kann diese Frage nicht beantworten!“

„Weshalb nicht?“

„Aus Gründen diskreter Natur!“

„Damit kommen wir nicht vom Fleck. Verweigern Sie die Antwort, so kann ich nicht an den von Ihnen behaupteten unglücklichen Zufall glauben!“

„Um Gotteswillen! Sie werden mich doch nicht für einen Verbrecher halten?“

„Um meine persönliche Meinung handelt es sich nicht! So lange nicht aufgeklärt ischt, ob die Möglichkeit der Absicht zur Herbeiführung des Sturzes besteht, ebensolange ischt der Verdacht gerechtfertigt!“

„O Gott, ich soll verdächtig sein!“ jammerte Hundertpfund.

„Es thut mir leid, doch kann ich es nicht ändern. Für das Gericht liegt der Fall zur Stunde ohne Ihre Aufklärung folgendermaßen: Sie unterhielten Beziehungen zur Dame, Sie lockten Sie hinauf, als Sie mutmaßlich des Verhältnisses überdrüssig geworden, —“

„Halten Sie ein! Ich kann dies nicht anhören! Nein, tausendmal nein! Sie verirren sich in Mutmaßungen!“

„So klären Sie die Sache auf! Oder ischt es Ihnen lieber, wenn ich nach erfolgter Gesundung die Dame vernehme?“

„Das wäre noch schrecklicher!“

„Ich muß aber klar sehen und erfahren, ob dem Falle Absicht zu Grunde liegt!“

„Sie wollen mich zu einer Indiskretion der Dame gegenüber zwingen!“

„Der Untersuchungsrichter darf übertriebene Rücksicht nicht üben!“

„Aber um Himmelswillen, ich kann doch nicht zugeben, daß öffentlich bekannt wird, was geheim bleiben muß.“

„Von einer öffentlichen Bekanntgabe ischt zunächst überhaupt nicht die Rede, es wird die Untersuchung durchgeführt. Ergiebt sich, daß der Verdacht hinfällig wird, so wird die Untersuchung geschlossen, und niemand erhält Kenntnis von den Aussagen der Vernommenen.“

Hundertpfund atmete auf. „So würde es ein Geheimnis bleiben, was unter vier Augen gesprochen wurde?“

„Unter sechs Augen! Der Aktuar muß die Aussage zu Papier bringen!“

„Dann bedaure ich, nichts aussagen zu können!“

„Die Folgen haben nur Sie selbst zu tragen!“

„Und welche würden dies sein?“

„Ihre Verhaftung und die Vernehmung der Dame nach ihrer Wiederherstellung!“

„Großer Gott! Wenn Sie nur glauben wollten, daß nur ein unglücklicher Zufall vorliegt. Unter vier Augen will ich Ihre Frage ja beantworten, um die Vernehmung der Dame unnötig zu machen!“

Ehrenstraßer gewährte diese Bitte und schickte den Aktuar auf kurze Zeit hinaus.

Nach Verlauf einer Viertelstunde war Hundertpfund entlassen, und der Richter teilte dem herbeigerufenen Aktuar mit, daß das angefangene Vernehmungsprotokoll vernichtet werden könne.

Verwundert blickte der Aktuar auf seinen Chef.

„Ja, ich habe mich geirrt! Seit vielen Jahren wieder einmal! Unfehlbar ischt kein Untersuchungsrichter und mir soll dieser Fall selbst im Alter eine Witzigung sein. Man muß nicht immer Verbrechen wittern wollen! Besorgen Sie die Vernichtung durch Verbrennen des Protokolls in meinem Ofen hier!“

Das geschah rasch, die Flamme verzehrte gierig den Papierbogen. Bei dieser Gelegenheit geriet der Aktuar in unsanfte Berührung mit den zersprungenen Kacheln des wackeligen, alten Ofens, und krachend stürzte dieser ein.

„Gott sei Dank!“ rief Ehrenstraßer. „Wie oft habe ich um Bewilligung eines neuen Ofens petitioniert und immer vergeblich. Die Rauchqualen werden nun für immer ein Ende haben. Schreiben Sie einen Bericht an das Obergerichtspräsidium, daß mein Ofen eingestürzt ischt! So hat denn alles auch eine gute Seite, damit auch mein Irrtum!“

XX

Der Weihnachtsabend war gekommen mit strenger Kälte und viel Schnee, in welchem das Amtsstädtchen schier erstickte. Kaum die nötigsten Steige waren eingeschaufelt, wer die Straße überqueren wollte, mußte waten. Das bißchen Leben auf den erstarrten Straßen erstarb völlig, bis auf Schneeballen werfende Jungens und wenige Gebirglerfuhrwerke zeigte sich niemand im Freien; das Schneetreiben war zu arg.

Still ging es im Hause des Richters zu; Emmy waltete ihres Amtes als Haushälterin, die nur ein Mädchen zur Verrichtung der groben Arbeit hielt. Verstummt der einstige Kinderlärm, es ist still geworden wie in einem Kloster.

Emmy richtete die wenigen Geschenke für den Vater zurecht, auf daß doch ein klein wenig Weihnachten gefeiert werde. Die reichsdeutsche Weihnachtsfeier mit Kerzenschimmer im Tannenbäumchen und all dem wonnigen Zauber kannte man in Ehrenstraßers Familie nicht. Und für die diesmaligen Weihnachten ist ja gar keine besondere Veranlassung zu einer besonderen Feier gegeben. Der Vater einsam und verlassen wie die Tochter, ferne die Gattin und die Kinder.

Ehrenstraßer kam früher am Nachmittag nach Hause als sonst, es war ihm am heiligen Abend denn doch zu kahl in der Amtsstube, zu öde und einsam bei seinen Akten. Die Geschenke für Emmy hatte er in der Kanzlei verwahrt und trug selbe jetzt ins Haus.

„Stille Weihnachten heuer!“ meinte der Richter mit wehmütigem Lächeln und legte die Paketchen auf den Tisch der Wohnstube.

„Verzage nicht, Vater! Es geschieht alles nach Gottes heiligem Willen und Gott legt dem Menschen nicht mehr auf, als der Sterbliche tragen kann!“

„Ja, ja! Muß schon so sein! Wie ischt's, Emmy, soll ich dir dein Weihnachten jetzt gleich oder beim Lampenschein übergeben?“

„Bitte, lieber Vater! Es ischt traulicher beim Lampenschein!“

„Dann sorge aber, daß wir heute Punsch bekommen! Hat der Fischer den gewünschten Karpfen geliefert?“

„Nein! Er ließ sagen, bei dieser Kälte könne er überhaupt keinen Fisch liefern!“

„Macht auch nichts! In der Großstadt sind wir ja nicht und der Mensch muß sich bescheiden. Aber ein Fläschchen Punsch haben wir doch?“

„Ja, ein einziges vermochte ich aufzutreiben, es war glücklich das letzte beim Krämer!“

„Es geht nichts über eine weise Verproviantierung! Eigentlich leben wir doch in einem richtigen Landnest!“

„Willst du fort von hier, Vater?“

„Wie kommst du auf diesen Gedanken?“

„Weil Väterchen auf unser Städtchen zu schelten beginnt, genau wie —.“

Emmy brach plötzlich ab.

„Genau wie – ja, ich weiß, was du sagen wolltest! Nein, nein, ich empfinde keine Sehnsucht, von hier wegzukommen!“

Mehr für sich flüsterte Ehrenstraßer: „Die ersten Weihnachten seit der Trennung! Wie es ihnen wohl ergehen mag drunten im Süden?! Außer den Anwaltsbriefen kein Lebenszeichen! Wer hätte solchen Starrsinn für möglich gehalten?“

Emmy näherte sich dem Vater und bat schmeichelnd, es möge Papa keine trüben Gedanken aufkommen lassen am heiligen Abend. Noch seien ja Vater und Tochter beisammen!

„Du bischt ein gutes Kind, Emmy! Aber versauern sollst du nicht in unserer Einsamkeit, ich kann das nicht verantworten!“

Lächelnd erwiderte Emmy: „Vaterle will mich doch nicht gewaltsam fortschicken?“

Die Korridorschelle begann zu klingeln, sie mußte energisch von Männerhand gezogen worden sein.

„Doch nicht Besuch?“ meinte Ehrenstraßer und zündete für alle Fälle die Hängelampe an, während Emmy in den Korridor hinausging, wo das Dienstmädchen bereits die Thür geöffnet hatte und den Besucher einließ.

Trotz des schwachen Scheines des Korridorlämpchens erkannte Emmy sogleich Herrn Ratschiller und bestürzt rief sie aus: „Franz, du?!“

„Ja, ich! Gott zum Gruß, Emmy! Ischt der Vater schon zu Hause?“

„Du willst zum Vater?“

„Ja! Und selbstverständlich auch zu dir!“ lächelte Franz Ratschiller, entledigte sich des Mantels und Hutes, schüttelte die letzten Schneespuren von den Stiefeln und bat munter um gnädigen Einlaß. Verwundert öffnete Emmy die Thüre zum Wohngemach und rief hinein: „Vater! Herr Ratschiller will uns besuchen!“

„Ei der Tausend! Willkommen!“ Dem Besucher entgegenlachend, reichte ihm Ehrenstraßer herzlich die Hand zum Gruße und bat, Platz zu nehmen.

Franz blieb stehen und begann in feierlichem Tone zu sprechen: „Verzeihen Herr Bezirksrichter mein spätes Eindringen! Ich kann den heiligen Abend nicht vorübergehen lassen, ohne Ihnen, Fräulein Emmy, eine innige und herzliche Bitte zu unterbreiten! Ich bitte heute um mein Christkindl, um die Hand Emmys zum zweiten Male!“

Emmy schluchzte, überrascht stand der Vater.

„Ich kenne kein größeres Glück auf Erden als die eheliche Verbindung mit Emmy! Gewähren Sie mir dieses Glück als Weihnachtsgabe! Meine Verhältnisse seit jener Katastrophe kennen Sie zur Genüge, ich kann beifügen, daß das Geschäft besser denn je geht und blüht, daß meine Mutter völlig einverstanden ischt und von meinem Werbegang Kenntnis hat! Ich bitte in dieser weihevollen Stunde inniglichst um Ihr ‚Ja‘, um Ihren Vatersegen!“

Tiefe Rührung hatte sich des alten Mannes bemächtigt, zitternd sprach er: „Ihr wiederholter Antrag ehrt mich, doch wollen Sie bedenken, was inzwischen in meinem Hause sich ereignet hat.“

„Tief beklage ich dieses Ereignis, doch kann dasselbe mich keinen Augenblick beirren, um die Tochter eines Ehrenmannes im edelsten Sinne des Wortes zu bitten!“

„Ich danke Ihnen! Die Antwort selbst soll Emmy Ihnen geben!“

Ratschiller wandte sich an die Tochter, die in Thränen ausbrach.

„Emmy, willst du mich glücklich machen am Weihnachtsabend, glücklich für ein ganzes Leben?“

„Franz! Ich liebe dich wie vordem, aber ich kann dir nicht angehören!“

Ein Wehruf entrang sich der Brust des jungen Mannes und in leidenschaftlicher Aufwallung fragte er: „Emmy! Um Himmelswillen, warum nicht?“

Emmy umarmte den Vater, an seiner Brust liegend, schluchzte sie: „Ich kann doch meinen guten, alten Vater jetzt nicht verlassen! Ich bin ja das einzige Wesen, das ihm in der Einsamkeit verbleibt!“

Ehrenstraßer küßte in tiefer Rührung den Kopf seines Lieblings und sprach: „Nein, nein! Dieses Opfer nehme ich nicht an! Meinetwegen darf mein Kind nicht auf ein Lebensglück verzichten! Ob ich allein bleibe oder nicht, das hat nichts zu sagen. Viel wichtiger ischt mir, meinen Liebling glücklich zu wissen! Herr Ratschiller, ich nehme Ihre Werbung an und gebe meinen Segen!“

Sanft wollte Ehrenstraßer die Umarmung lösen, doch Emmy umschlang den Vater leidenschaftlich: „Ich lasse meinen guten Vater nicht allein!“

„Sei vernünftig, Emmy! Schau, ich verliere ja dich nicht, im Gegenteil, ich bekomme einen Sohn zur Tochter!“

Franz dankte bewegt und fügte bei, daß der Schwiegervater ja nur ins Ratschillerhaus zu ziehen brauche, um nicht allein zu sein.

Da blinzelte Emmy zum Vater empor: „Will Väterchen das thun?“

Was wollte der liebe alte Herr in diesem Augenblick thun: er nickte. Und nun wirbelte Emmy überglücklich zu Franz und gab ihm den Verlobungskuß.

„Na, also! Braucht das Arbeit, bis junge Leute glücklich werden!“ lachte gutmütig spöttelnd der Richter und zerdrückte eine Thräne im Auge.

Nun holte Franz sein Weihnachtsgeschenk für die liebe, schöne Braut aus der Tasche, eine Perlenkette, bei deren Überreichung er bat, auf den Aberglauben, daß Perlen Thränen bedeuten, nichts zu geben.

Auch für Papa Ehrenstraßer hatte Franz eine Gabe, ein Virginieretui aus feinem Leder, doch der Richter lehnte das Geschenk höflich und dabei bestimmt ab unter dem Hinweis, daß seine Stellung ihm nicht gestatte, Geschenke, gleichviel von wem sie kommen, anzunehmen.

 

„Aber! Ich bin doch Ihr Schwiegersohn!“

„Noch nicht de facto! Sind Sie es, dann kann allenfalls über die Möglichkeit disputiert werden! Heute muß ich dankend ablehnen!“

Die Leutchen wollten nicht streiten und ließen den alten Herrn gewähren.

Es folgte die gegenseitige Bescherung zwischen Vater und Tochter, dann wurde mit Punsch die Verlobung gefeiert.

Auf die Bitte Franzens, nun die geliebte Braut seiner Familie zur Bescherung zuführen zu dürfen, nickte Ehrenstraßer und bald stapften die Verlobten ins Ratschillerhaus.

Der alte Richter saß nun allein und verlassen zu Hause.

12Ein Aberglaube südslavischen Ursprungs, der weit herauf in das Gebirge reicht, lautet dahin, daß man bei Citirung vor Gericht ein Tuch, mit welchem einem Verstorbenen das Kinn aufgebunden wurde, bei sich führen mußte. Wischt man sich vor dem Richter damit das Gesicht ab, so unterliegt man nicht, und solange der Knoten im Tuche nicht aufgelöst ist, kann einem das Gericht „nichts anhaben“. Vergl. Dr. Groß „Handbuch für Untersuchungsrichter“ I.