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Bergrichters Erdenwallen

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Ehrenstraßer kannte den Warnruf und wußte, daß eingeschritten werden müsse. „Im Namen des Gesetzes, Ihr seid verhaftet!“ rief Ehrenstraßer und bekannte sich als den Bezirksrichter aus der Amtsstadt.

Der Senne zuckte wohl etwas zusammen, blieb aber wie angewurzelt stehen, sein Blick galt keineswegs dem Beamten, sondern dem Schauspiel am Steig unten. Die Kommission war im Anstieg und die gefesselte Ursula bemühte sich, den Käuzchenruf zu wiederholen, während der Wachtmeister bestrebt war, der Sennerin den Mund zuzuhalten. Mit einem Male kam Leben in den kräftigen Burschen, in mächtigen Sätzen sprang er den Steig hinunter. Ehrenstraßer schrie gellend einen Warnungsruf nach, den der Wachtmeister sogleich hörte und beachtete.

Bevor noch der Senne den Angriff vollführen konnte, stand der Gendarm mit dem Gewehr schon schußfertig im Anschlag. Ursula mag jetzt zetern, so viel sie kann und will. Der Senne prallte zurück und ergab sich; willig ließ er sich die Kette um die Handgelenke legen.

Man begab sich nun völlig hinauf zur Kreuzalpe, in deren Hütte Ehrenstraßer die Hausdurchsuchung mit seinem Aktuar vornahm, während der Wachtmeister das gefesselte Paar bewachte.

So viel aber der erfahrene Richter nachforschen mochte, er fand nichts, absolut nichts vom Handwerkszeug des Falschmünzers. Schon wollte er den Aktuar beauftragen, den nahe der Hütte angelegten Düngerhaufen mit einer Mistgabel zu durchstochern, da fiel Ehrenstraßer an der Hängeuhr im Stübchen auf, daß die Uhrgewichte seltsamerweise in Gradelzeug eingenäht sind. Derlei hat der Richter noch niemals gesehen und sofort schnitt er den grauen Stoff mit dem Federmesser durch. Welche Überraschung! Statt der Gewichte hatte der schlaue Falschmünzer nagelneue Silberfalsifikate, lauter falsche Kronenstücke, eingenäht und dieselben als Uhrgewicht benutzt, die er vor Entdeckung wohl geschützt glauben mochte. Nun kann es keinem Zweifel mehr unterliegen, daß sich auf dieser Alpe auch der Prägestock und sonstige Utensilien vorfinden müssen. Aber wo?

Ehrenstraßer hielt inne im mühsamen Suchen und überdachte die Fälle aus der Praxis. Am häufigsten pflegen Leute zum Vergraben den Keller zu benutzen und die Alpe hat ein Kellerchen zur Aufbewahrung von Milch und Käse. „Aktuar, bringen Sie mir rasch einen Kübel Wasser!“ rief Ehrenstraßer.

Nach wenigen Augenblicken war das Gewünschte zur Stelle und der Richter begab sich damit in das Kellerchen, auf dessen Boden er reichlich und plötzlich die Wassermenge ausgoß und die Wirkung dieses Gusses auf das Erdreich scharf beobachtete. Richtig ist eine Stelle vorhanden, an welcher das Wasser sehr rasch einsank und zugleich Luftblasen ausfliegen.

Das beweist, daß hier die Erde lockerer, vor kurzem ausgegraben worden ist.

Nun ließ sich Ehrenstraßer eine Schaufel reichen, mit welcher er zu graben begann. Eine Viertelstunde später waren die hier vergrabenen Utensilien gefunden, das Geheimnis ist entdeckt.

Und beim Ansichtigwerden dieser Gegenstände und Vorzeigen der an der Uhr gefundenen Falsifikate legte der Senne ein volles Geständnis ab, das sofort zu Protokoll genommen wurde. Das Fälscherpaar transportiert der Wachtmeister hübsch zu Fuß nach der Amtsstadt, während der Aktuar im Auftrage seines Chefs den Gemeindevorsteher von der zwangsweisen Entfernung des Paares von den beiden Almen verständigte.

Es war nun Sache der betreffenden Alpbesitzer, schleunigen Ersatz zur Wartung des Almviehes &c. hinaufzusenden.

Mit voller Befriedigung über die erfüllte Dienstpflicht konnte Ehrenstraßer nach Hause fahren.

XVII

Es kam fast nie vor, daß Herr Ehrenstraßer in seinem Hauswesen sich in die Küche verirrte, meist verbrachte er die wenige freie Zeit in seiner Studierstube oder im Wohnzimmer bei Gattin und Kindern, aus welch letzterem ihn freilich der Lärm seiner Mädels bald wieder verjagte. Eines Abends kehrte der Richter aus der Kanzlei nach Hause zurück, und im Korridor seiner Wohnung vernahm er ein lebhaftes Gespräch, das ihn veranlaßte, in die Küche zu treten. Frau Bianca dankte in ihrer südländischen Lebhaftigkeit eben einer Bäuerin für überbrachte Butter und einen mächtigen Topf Honig, worauf die Gebirglerin bat, es möge die gnädige Frau Richterin ein gutes Wort beim Bezirksrichter einlegen, auf daß er die Sache nicht so scharf nehme mit ihrem Sohne.

Ehrenstraßer stieg alles Blut zu Kopf beim Anhören dieser Worte, hastig trat er vollends ein und in flammender Entrüstung wies er jegliche Gabe zurück. Die auf den Tod erschrockene Bäuerin mußte augenblicklich ihre Sachen an sich nehmen und das Haus verlassen.

„Ma, prego carissimo!“ vermochte die überraschte Gattin noch zu rufen, dann verschlug es ihr die Rede, denn Ehrenstraßer nahm seine Frau am Arm und zog sie in seine Studierstube, um der Gemahlin den Standpunkt darüber klar zu machen, was es für einen Richter heißt, unbestechlich und unantastbar in seinem Privatleben zu sein.

Bianca stand betäubt, wie erstarrt; in solcher Entrüstung, so zornig hat sie den Gatten noch nicht gesehen. Was er alles gesagt, verstand sie nicht, aber sie fühlte es, daß der Gemahl ihr Verhalten aufs höchste tadelnswert findet, daß er nichts weniger denn höflich ist. Der Stolz bäumte sich in ihr auf und im Stolzgefühl fand sie auch die Sprache wieder, um mit welscher Verve zu protestieren, daß wegen einer solchen Bagatelle ein solcher Spektakel aufgeschlagen werde.

„Tace!“ schrie Ehrenstraßer, „schweig!“ Die Ehre ischt des Richters höchstes Gut, das kostbarste Juwel seine Unbestechlichkeit! Der Richter muß tadellos, unantastbar vor der Welt und in seiner Gemeinde stehen! Wenn du dieses Gebot nicht verstehst und fühlst, dann muß es dir begreiflich gemacht werden und zwar in einer Weise, daß du diese Stunde fürs ganze Leben nicht mehr vergißt!

Nicht die mindeste Kleinigkeit darf ohne Bezahlung angenommen werden! Die Entgegennahme auch nur einer winzigen Bagatelle schändet des Richters Ehre, macht ihn unwürdig seines heiligen Amtes! Ich beklage es tief, daß mein eigenes Weib sich herabwürdigt, Geschenke anzunehmen, den Versuch einer Bestechung zu dulden. Ich verbiete das auf das schärfste und erkläre dir, daß eine Wiederholung dieser häßlichen Handlung mich zwingen würde, die Konsequenzen in der schärfsten Art zu ziehen!“

„Sangue della Madonna!“ rief Bianca. „Das sein annuncio della divorzio, du wollen dich lassen scheiden!“ In einer Redeflut begann die lebhafte Frau ihren Gedanken Ausdruck zu geben, daß es unerhört sei, wegen solcher Bagatellsachen eine solche Scene zu machen und die eigene Frau zu mißhandeln. Und im Zorn regnete es Vorwürfe über das Jammerleben an der Seite eines Mannes, der nichts anderes kenne als sein Amt und die „Verfolgung armer Leute“. Das sei kein Leben mehr, wenn man selbst für Geld schier nichts bekomme, wenn man keinen Mann zum Spazierengehen und Vergnügen habe und gezwungen sei, jahraus und jahrein hinter den Mauern einer durchaus ungenügenden Wohnung zu vertrauern. Dazu habe sie nicht geheiratet! Und andere Leute seien froh, wenn ihnen von den Bauern etwas Nützliches ins Haus gebracht werde! Das Ehrgefühl dürfe nicht übertrieben werden, ein Happen Butter, für welches sie der Bäuerin ein abgelegtes Kinderkleidchen schenken wollte, verdiene nicht so ein Aufhebens. Überhaupt habe sie das Leben in der kleinen Stadt satt, schon lange satt. Die Mädels brauchen eine bessere Schule, die hiesige genüge keineswegs, und sie selbst in ihren besten Jahren sei nicht gewillt, in diesem langweiligen Neste zu verbauern und zu versauern. Wolle der Herr Gemahl in seinem übertriebenen Ehrgefühl weiter drangsalieren, gut, den Antrag auf Scheidung könne sie selbst stellen, doch werde sie diese Angelegenheit von einem welschen Gericht entscheiden lassen, ein deutsches Gericht sei hierin zu befangen. Und die Mädels werde sie selbst mitnehmen und dafür sorgen, daß sie in der Heimat der Mutter erzogen und der Muttersprache erhalten bleiben. Mit der thränenreichen Behauptung, daß diese Tedeschi immer Barbaren seien und bleiben, schloß die heftige Erörterung, auf welche Ehrenstraßer lediglich erwiderte, daß seine Kinder deutsch zu bleiben haben und seine Anordnungen auf das strengste beachtet werden müssen.

Der Eintritt Emmys gab der aufgeregten Frau sofort Anlaß, mit einer neuen Anklage vorzugehen, die in der Behauptung gipfelte, daß Ehrenstraßer seine Liebe den Kindern zweiter Ehe vorenthalte und ausschließlich Emmy zuwende, was beweise, daß er eben seine erste verstorbene Frau noch immer liebe und die zweite Frau gröblich vernachlässige, aus ihr lediglich einen Dienstboten machen wolle.

Erschrocken rief Emmy: „Aber, Mama! Bist du von Sinnen?“ Die Taktik ändernd, ging Frau Bianca sofort zum Angriff gegen die Stieftochter über, wissend, daß sie den Gatten in Emmy am schärfsten treffen könne. Und gleich der erste Hieb brachte die Stieftochter zum schmerzlichen Aufschreien, indem Bianca behauptete, das Heiratsprojekt habe den alten Ratschiller in den Tod getrieben.

„Kein Wort weiter!“ gebot Ehrenstraßer, dem die Adern schwollen. Der Anblick des Gatten mochte Bianca doch einschüchtern, sie schwieg und rauschte hinaus.

Weinend warf sich Emmy an des Vaters Brust und auch Ehrenstraßer zerdrückte eine Thräne im Auge. Langsam begann er dann zu sprechen, der Tochter zu schildern, was er gelitten während der Untersuchung im Falle Ratschiller, wie gräßlich es war, der Familie durch Aufdeckung des Selbstmordes solch' bitteren Schmerz und pekuniären Schaden bereiten zu müssen, und auch dem eigenen Kinde.

„Sprich nicht von mir, teurer Vater! Ich habe es überwunden!“

„Die Zeit wird den Schmerz lindern, vielleicht fügt der allmächtige Gott doch noch euch zusammen! Ich will gerne bei Gelegenheit sehen, wie sich bei Franz die Verhältnisse entwickelt haben!“

Ein inniger Kuß drückte den Dank und wohl auch eine stille Hoffnung aus. Emmy verließ den herzensguten Vater.

 

Im Richterhause verblieb eine Schwüle zwischen den Ehegatten, die einen schweren Sturm anzukündigen schien. Bianca brachte es fertig, zu schweigen, sich kühl zu verhalten, und die Mädels empfanden die Spannung so sehr, daß sie fast stumm umherschlichen und jeglichen Lärm unterließen. Dagegen schrieb die Richterin viel und trug ihre Briefe der Sicherheit halber selbst zur Post.

Wohl wurden die Mahlzeiten gemeinsam eingenommen, doch das Verweilen am Familientische war peinlich, man schwieg sich aus. Die fatale Situation wurde nicht besser durch eine erhebliche Qualitätsverminderung der Tischgerichte, die von der boshaft gewordenen Gebieterin absichtlich herbeigeführt ward.

Eine Woche ertrug Ehrenstraßer diese Vernachlässigung, eines Tages aber gestattete er sich eine diesbezügliche Bemerkung, auf welche sofort die schnippische Antwort erfolgte, daß um diese Jahreszeit in solchem Nest eben nichts Besseres zu haben sei. Genüge diese Kost dem unantastbaren Herrn Richter nicht, so möge der gnädige Herr auswärts essen.

„Bianca, sei vernünftig!“ mahnte Ehrenstraßer.

„Bin ich! Wird nicht mehr lange dauern!“

„Was soll das heißen?“

Bianca verließ, ohne Antwort zu geben, die Stube.

Ehrenstraßer kämpfte mit sich, die Entrüstung wollte ihn übermannen. Da war es Emmy, die seinen Zorn verscheuchte durch die liebreichen Worte: „Lieber Vater! Es ischt ja meine Mama trotz alledem!“

Diesem Auftritte sollte alsbald eine nicht gerade angenehme Überraschung folgen durch die Ankunft von Biancas Mutter. Frau Zuccatis Einzug in das Richterhaus vollzog sich geräuschvoll, mit echt welschem Lärm, der durch die Aufregung der alten Italienerin und deren Gejammer über die unmenschliche Behandlung, so ihre arme Tochter von dem deutschen Barbaren erlitten, noch gesteigert ward.

Diese Klagen und Verwünschungen fanden bereits auf der Treppe statt, so daß die Parterrebewohner gleich sozusagen aus erster Hand Kenntnis von den neuen Verhältnissen und einer drohenden Katastrophe bei Ehrenstraßer erhielten.

Den dramatischen Höhepunkt erreichten die Lamentationen natürlich in der Wohnung selbst, nachdem die Mädels die mitgebrachten Leckerli in die Mündchen gesteckt erhalten hatten. Dann hielten die welschen Damen Kriegsrat mit größter Zungengeläufigkeit, wobei beide immer gleichzeitig sprachen und keine auf die andere hörte.

Emmy erhielt von der Ankunft der Frau Zuccati durch das Dienstmädchen Kenntnis und im ersten Schrecken darüber flüchtete Emmy aus dem Hause zu Papa, der sich in der Kanzlei befindet und unbedingt verständigt werden muß.

Ehrenstraßer guckte verdutzt auf seine Tochter, das Ereignis wirkt auch auf ihn überraschend und ließ ahnen, daß Bianca mit solcher Verstärkung einen Schlag zu führen beabsichtige.

Der Richter hielt es für gut, sich sogleich ins Treffen zu stellen und damit zu verhindern, daß der unausbleibliche Streit etwa im Gerichtsgebäude zum Austrag kam. Von Emmy begleitet, begab sich Ehrenstraßer nach Hause, und kam eben recht, um einer Tierquälerei ein Ende zu machen, mit welcher seine Mädels eben angelegentlicht beschäftigt waren, indem die Kinder ein Kätzchen, dessen Pfoten sie mit Stricken gebunden hatten, „streckten“ und um so wilder jauchzten, je jämmerlicher das gepeinigte Tier schrie.

Ein paar Hiebe mit der Flachhand um die Ohren genügten zur Beendigung der Tierquälerei und heulend flüchteten die Mädels voraus und hinauf zur Mutter, um deren Schutz zu erflehen. Ehrenstraßer unterdrückte die ihm auf der Zunge liegende Bemerkung über solche Erziehungsresultate, und schritt mit Emmy die Treppe hinauf.

Wie eine Henne ihre Küchlein, so beschützte Frau Bianca ihre Töchterchen und hielt sie umschlungen, während Frau Zuccati sogleich den Kampf eröffnete durch die Mitteilung in gebrochenem Deutsch, daß sie gekommen sei, den unhaltbaren „skandalösen“ Zuständen ein Ende zu machen.

Der Ton dieser Ankündigung veranlaßte den Richter zur ironischen Erwiderung: „Wie's beliebt Frau Zuccati!“

„Come? Was wollen Sie?“

„Zunächst begrüße ich Sie in meinem Hause! Sind Sie zu Besuch Ihrer Tochter, meiner Frau, gekommen, heiße ich Sie willkommen! Wollen Sie aber versuchen, Zwietracht in mein Eheleben zu bringen, so diene Ihnen zur Kenntnis, daß ich nicht gesonnen und Mann genug bin, um jedem derartigen Versuche ein rasches Ende zu machen!“

„Molto bene! Meine Tochter haben mir geschrieben alles! Ich wissen alles und werden machen der misericordia eine finita! Ich Ihnen sagen, daß filia mia nicht mehr bleiben in loco! Ich nehmen meine Tochter und ihre Kinder mit —“

„Was wollen Sie?“ rief erregt Ehrenstraßer.

Bianca erhob sich und mit theatralischer Emphase rauschte sie auf den Gatten zu. „Si! Meine Mutter sprechen die verità! Ich werde gehen mit ihr! Ich habe das Leben hier satt!“

„Bianca!“ rief Ehrenstraßer in schmerzlicher Überraschung.

„Si! Gehen oder du kompetierst um Versetzung an ein Giudizio distretturale im Trento!“

Frau Zuccati unterstützte dieses Ultimatum mit vollster Lungenkraft und suchte die Forderung zu begründen durch den Hinweis, daß Bianca gemäß ihrer Nationalität ein Recht besitze, in einem Lande zu leben, dessen Sprache die ihrige sei.

„Ah! Der Nationalitätenstreit nun gar in die Ehe verpflanzt! Es wird ja immer schöner! Warum hat denn Bianca meine Werbung um ihre Hand nicht gleich in der ersten Stunde aus Nationalitätsgründen abgelehnt?“

Frau Zuccati sprudelte heraus. „Weil sie wollte kommen unter Hauben!“

„Sic! Also erstickte dieses Streben das Nationalitätsgefühl! Bravo! Ich bin Ihnen dankbar für dieses Geständnis! Aber die Ehe ischt ein festes Band! Den Wohnsitz zu ändern steht nicht in meiner Macht, ganz abgesehen davon, daß ich keine Lust verspüre, als deutscher Beamter im Welschland zu domizilieren. Auch beherrsche ich die italienische Sprache nicht, um ein Gericht in diesem Idiom zu leiten! Übrigens ischt alles Gerede hierüber völlig zwecklos! Bianca ischt mein Eheweib, hat am Altar gelobt, in Leid und Freud' mit mir durchs Leben zu gehen, ihr Platz ischt an meiner Seite und dabei bleibt es!“

„No, no!“ zeterte die Richterin. „Ich bleibe nicht mehr in diesem Nest! Ich werde gehen! Wenn schon nicht nach dem Süden, so gehe ich mit den Kindern in größere Stadt! Ich wollen nicht versauern und verbauern in loco!“

Frau Zuccati wollte wieder eine Rede loslassen, da machte Ehrenstraßer der Scene ein Ende durch die Eröffnung, daß er kraft seiner Würde und Macht als Familienoberhaupt sich jede Einmischung verbitte und hiermit Frau Zuccati ernstlich auffordere, binnen 24 Stunden das Haus zu verlassen.

Ehrenstraßer ging und ließ die welschen Damen in Verblüffung zurück.

XVIII

Die trüben Gedanken Ehrenstraßers wurden zurückgedrängt durch einen Besuch in der Kanzlei. Ein Bauer, namens Maldoner, dessen Gehöft in nächster Nähe des Städtchens liegt, stolperte unbeholfen und verlegen in die Amtsstube, drehte den Hut im Kreise und blieb vor dem Richter stehen.

„Nun, Maldoner, was bringt Ihr oder was wollt Ihr von mir?“

„Herr Stadtrichter! Ich hätt' eine große Bitt'!“

„So sprecht nur frei von der Leber weg!“

„Schon! Aber es ischt eine heikle Sach'! Wissen S', Herr Stadtrichter: Ich hunn öppas (etwas) Ruben (Rüben) an'baut, schöne Möhren sind's worden, aber fechsen kann ich selle nit!“

„Warum denn nicht?“

„Gleich nit zum glauben! Selle Möhren werden alleweil weniger und decht hun ich selle nit geholt!“

„Ihr meint also, daß sie Euch gestohlen werden?“

„Könnt' schon sein! Ich hätt's auch nit gedenkt, daß es möglich wär' vom Nachbar!“

„Wer ischt Euer Nachbar?“

„Der Widschwenter Michel war' es, wenn Euer Gnaden nix dagegen hätten!“

„Ihr glaubt also, dieser Widschwenter stiehlt Eure Rüben! Wenn ich nicht irre, ischt besagter Widschwenter ein gutsituierter Mann, von dem ich nicht glauben kann, daß er Rüben stiehlt!“

„Gesehen hun ich ihn freilich nit beim Stehlen! Wenn ich aber mein Rubenfeld anschaue, kann's decht nit anders sein, als daß die Möhren gestohlen werden!“

„Kann der Diebstahl nicht von anderer Seite verübt werden?“

„Ich glaub' nit!“

„Warum nicht?“

„Weil ein anderer Dieb decht zu weit zu gehen hätt'!“

„Habt Ihr sonst keinen Verdacht?“

„Gleich nur auf den Widschwenter!“

„Warum soll dieser anständige Mann just ein Möhrendieb sein?“

„Weil seine Rosse gar so viel gut ausschauen!“

Ehrenstraßer blickte den Bauer verwundert an; solche Folgerung überrascht den alten Richter, dessen weitere Fragen und Folgerungen jedoch keinen Erfolg haben.

Maldoner bleibt bei seiner Mutmaßung und seine Äußerungen drehen sich im gleichbleibenden Kreise.

Der Richter notiert sich den Fall und belehrt den Bauer dahin, daß alle Vorbereitungen getroffen werden sollen, um den Dieb in flagranti abzufassen. Einige Nächte werde Maldoner doch wohl opfern können und aufpassen. Gelingt es, den Dieb zu erwischen, so solle sogleich Anzeige erstattet werden. Damit war Maldoner entlassen.

Den Richter beschäftigte die seltsame Äußerung Maldoners, das sonderbare Motiv eines Rübendiebstahles zu recherchieren und eine oder mehrere Nachtpatrouillen in der Weise einzuleiten, daß jene zwei Gehöfte überwacht werden.

„Herr Bezirksrichter! Haben S' das Unglück schon gehört?“ Mit diesen Worden stürzte Perathoner, der dicke Amtsdiener in die Kanzlei und fuchtelte erregt mit den Armen in der Luft.

„Was ischt geschehen?“

„Grad hab' ich's gehört! Das Drahtseil der Luftbahn soll gerissen sein, oder sonst ein Unglück und die Frau von Bauerntanz ischt aus einem Luftwägele herabgefallen!“

„Nicht möglich! Tot?“

„Ich weiß sonst nichts Näheres!“

Eine Flut von Gedanken stürmte auf den betroffenen Richter ein, welcher zum Gendarmerielokal eilte, um Näheres über die Unglücksstelle zu erfahren. Wie kam die Doktorin in einen Luftbahnwagen? Welches Motiv liegt da zu Grunde? Ist es ein Unglücksfall? Oder ist ein Verbrechen verübt worden? Im Gendarmerielokal erfuhr Ehrenstraßer von der Wachtmeisterin lediglich, daß ihr Mann bereits zur Fabrik geeilt, Sittl jedoch auf Patrouille sei. So blieb dem Richter nichts anderes übrig, als zu Ratschiller zu gehen und dort Erkundigungen zu erheben. Aber im Komptoir wußte man nichts. Ratschiller jun. ist nicht anwesend, von der Fabrik keine Meldung da.

Ehrenstraßer ließ einen Komptoiristen telephonisch in der Fabrik anfragen, doch erfolgte keinerlei Antwort. Somit entschloß sich der Richter sogleich, über den Sattel bergeinwärts zu gehen, schickte aber vorsichtshalber zum Bezirksamt und ließ Träger requirieren.

Ein Stündchen später langte Ehrenstraßer schier atemlos in der Cementfabrik an, deren Arbeiter zum Teil anwesend, zum anderen Teil auf den Stadtberg zur Hilfeleistung geeilt sind. Genaues wußte niemand anzugeben, und Hundertpfund, der Fabrikleiter, ist nicht da. Es hieß lediglich, daß die Frau von Bauerntanz von einem Arbeiter blutüberströmt unweit des Verankerungsgebäudes am Stadtberg aufgefunden wurde. Ein Streckenarbeiter sei mit dieser Meldung zur Fabrik gelaufen, der andere Arbeiter hingegen zur Stadt gelaufen, um den Wachtmeister zu verständigen.

Von Bruch des Drahtseiles könne keine Rede sein, denn die Luftbahn funktioniere tadellos und sei ununterbrochen im Betriebe.

Auf dem Wege zum Stadtberg kam dem Richter der Transport entgegen: Arbeiter trugen die arme Frau auf einer aus Fichtenstämmchen hergestellten Bahre, und an der Spitze des Zuges schritt Hundertpfund, ersichtlich verstört, an der Seite des Wachtmeisters.

„Um Gotteswillen, was ischt geschehen?“ rief ihm Ehrenstraßer entgegen.

„Herr Bezirksrichter! Ein tiefbedauerliches Unglück!“ stammelte der Fabrikleiter und trat zur Seite, um die Arbeiter mit der Tragbahre vorbeischreiten zu lassen. Hintendrein folgte nun Hundertpfund mit Ehrenstraßer, der Mühe hatte, seiner Erregung Herr zu werden.

„Wie kam die Doktorin auf die verrückte Idee, in einem Luftwagen spazieren zu fahren?“ forschte der Richter.

Hundertpfund erwiderte befangen und bebenden Tones: „Ich zeigte der Frau von Bauerntanz, die sich für unsere Luftbahn lebhaft interessierte, die Hauptverankerung auf der Schneide des Stadtberges und animierte sie, die an sich bei ruhigem Verhalten im Wagen gefahrlose Fahrt vom Stadtberg hinunter zur Fabrik mit mir zu unternehmen!“

„Sie sind aber nicht herabgestürzt?“

„Ich fuhr ja nicht mit!“

„Warum nicht?“

„Wir standen im Durchlaufsraum des Verankerungsgebäudes. Frau von Bauerntanz empfand Vergnügen an der Sache und hüpfte plötzlich in einen durchlaufenden Wagen, der im normal raschen Laufe mit ihr davonrollte, ehe ich mich hineinschwingen konnte. Lachend fuhr die Dame durch die Luft im Rollwagen davon.“

 

„Und was thaten Sie nun?“

„Ich empfand nun doch Angst, verließ das Verankerungsgebäude und lief dem Luftwagen nach, soweit das bestockte und bergige Terrain dies erlaubte. Ein gellender Schrei belehrte mich, daß ein Unglück geschehen sein mußte; ich eilte dem Gehör nach in der Richtung der Seilbahn und fand die Dame abgestürzt am Waldboden liegen.“

„Wie erklären Sie sich diesen Sturz?“

„Mutmaßlich ein Schwindelanfall oder ein unvorsichtiges Hinausbeugen, wodurch der Wagen umkippte!“

Ehrenstraßer fühlte sich durch diese Angaben nicht befriedigt, seine Gedanken kehrten immer wieder zu der Frage zurück. Wie kommt die Dame allein mit dem Fabrikleiter in jene einsame, entlegene Gegend und auf den Gedanken, eine so waghalsige Fahrt durch die Luft zu unternehmen?

Da der Zug eben in der Fabrik anlangte, konnte Ehrenstraßer nicht weitere Fragen an Hundertpfund richten; die bewußtlose Dame wurde in die Dienstwohnung des Fabrikleiters gebracht und dieser selbst verlangte telephonisch ärztliche Hilfe und Leute aus dem Krankenhause. Unterdessen traf aber schon Dr. von Bauerntanz selbst ein, der in größter Bestürzung an die Lagerstätte seiner Gattin trat und sich von Ehrenstraßer eine kurze Schilderung des Thatbestandes erbat. Hundertpfund hatte sich still entfernt.

Der ärztliche Befund ergab zunächst Arm- und Beinbruch; wahrscheinlich auch eine Gehirnerschütterung; starke Quetschwunden am Kopf. Der Bezirksarzt bemühte sich um seine Gattin und ein bald erschienener Stadtarzt unterstützte ihn dabei. Ehrenstraßer besprach den Fall mit dem Wachtmeister, welcher nur rapportieren konnte, daß er in dem Augenblick zur Unglücksstelle gekommen sei, als der Fabrikleiter die Dame auf die Bahre legte.

„Wie hat er sich dabei benommen?“

„Sehr aufgeregt!“

„Haben Sie etwa wahrgenommen, daß ihn Ihr Erscheinen erschreckte?“

„Mir ischt nichts Diesbezügliches aufgefallen.“

„Halten Sie es für angezeigt, daß eine Dame solche gefährliche Luftfahrt allein unternimmt?“

„Nein, Herr Bezirksrichter!“

Ehrenstraßer begab sich, vom Wachtmeister begleitet, abermals hinauf zum Verankerungsgebäude, um die Situation zu studieren. Regelmäßig kamen auf dem einen Drahtseil die mit Cementfässern beladenen Wagen herauf, liefen durch das Holzgebäude durch und rollten weiter zur großen Spannung, die zum Bahnhofmagazin führt; auf dem anderen Seil bewegten sich in fixierten Abständen die Wagen mit Grieskohle, wovon jedoch auch viele leer zur Fabrik liefen. Das Durchlaufen durch das Verankerungsgebäude vollzieht sich in kaum einer Minute. Diese Spanne Zeit würde aber vollständig genügen, um einer Person, die bereits im Wägelchen sich befand, das Herausspringen im allerletzten Augenblick zu gestatten, falls diese Person eben nicht mitfahren wollte.

Hundertpfund – so kalkulierte der Richter – konnte also im durchlaufenden Wagen gewesen sein, gleichsam um durch seine Mitfahrt die Dame zu beruhigen, er konnte aber ebensogut auf die Rampe herausgesprungen sein, bevor dieser Luftwagen die Station verließ.

Welches Motiv konnte er zu solchem Verhalten gehabt haben? Weshalb ließ er die Dame die grausige Fahrt allein machen? Welchen Gewinn konnte er erhoffen, wenn der Dame beispielsweise der Sturz das Leben kostete?

Ehrenstraßer stellte sich in Gedanken diese Fragen, doch fand er keine Antwort darauf es hapert in der Prämisse.

Man kehrte in die Fabrik zurück; die noch immer bewußtlose Doktorin wurde nun in die Stadt getragen. Es fiel dem Richter auf, daß sich Hundertpfund ferne hielt; der Mann weicht also aus, doch wem gilt dies? Will der Fabrikleiter mit dem Gatten der Doktorin nicht in Berührung kommen oder weicht er dem Richter aus? Gesetzt den Fall, er scheut die Begegnung mit dem Gatten, so fragt sich, weshalb er mit diesem nicht zusammenkommen will?

Ein jäher Gedanke schoß Ehrenstraßer durch den Kopf und dieser Gedanke läßt sich ausspinnen, an ihn reiht sich logisch die Situation im einsamen Berge, im Verankerungsgebäude, doch reißt der Faden im Moment, da der Richter sich fragt, weshalb der Mann die Dame allein die Fahrt antreten ließ. Ist das Zufall oder Absicht gewesen?

Hierüber muß Klarheit geschaffen werden, wenn nicht augenblicklich, so später.

Schon wollte Ehrenstraßer den Rückmarsch antreten, da erschien Hundertpfund arg verstaubt an einem der Brennöfen. Die Bitte um eine kurze Begleitung konnte der Fabrikleiter nicht gut abschlagen und so ging Hundertpfund an der Seite des Richters ein Stück Weges mit.

„Wenn nur der unglückselige Sturz keine anderen Folgen als Knochenbrüche haben wird!“ meinte im Gespräch Ehrenstraßer.

„Gott gebe es! Ich kann Ihnen nicht sagen, welche Vorwürfe mich quälen!“

„Interessierte sich die Doktorin denn so sehr für die Luftbahn?“

„Gewiß! Schon seit längerer Zeit! Indes war es bisher nicht zu einem Ausflug auf den Stadtberg gekommen. Und gerade die heutige erste Besichtigung mußte ein solches Ende finden!“

„Sie haben wohl die Doktorin am Fuße des Berges erwartet?“

„Ich bitte, Herr Bezirksrichter, wollen Sie mich verhören?“

„Geben Sie rückhaltslos Antwort auf meine Fragen, so wird der Fall am ehesten zum Abschluß gebracht werden können!“

„Sie glauben doch nicht an eine Absicht meinerseits?“

„Glauben heißt hier nichts wissen! Ich kann nicht wissen, wie sich die Sache abgespielt hat, weil ich ja nicht dabei war. Es ischt aber meine Pflicht Klarheit zu schaffen.“

„Großer Gott! Sie halten mich doch nicht für einen Verbrecher!“

„Wo trafen Sie die Doktorin?“

„Am Fuße des Stadtberges!“

„Zufällig?“

Hundertpfund zögerte mit der Antwort.

„Ich halte eine zufällige Begegnung nicht wahrscheinlich!“ bemerke der Richter. „Nehmen wir also Verabredung an. Eine Verabredung setzt eine Korrespondenz oder ein früheres Rendezvous voraus. Sie verkehrten häufig im Doktorhause?“

„Ja, früher! Dann erfolgte eine Unterbrechung.“

Ehrenstraßer erinnerte sich jetzt an jenes seltsame Verhalten der Doktorin und ihren jähen Abgang aus der Gesellschaft bei Ratschiller, und forschte weiter: „Weshalb wurde der Verkehr abgebrochen?“

„Bitte, Herr Bezirksrichter, erlassen Sie mir die Antwort aus Gründen privater Natur!“

„Gut! Wann nahmen Sie den Verkehr wieder auf?“

„Zur Zeit der Ratschiller-Katastrophe infolge einer zufälligen Begegnung.“

„Haben Sie nicht die Empfindung, daß der Aufenthalt einer verheirateten Dame oben auf dem Stadtberge, im Gebäude in Gegenwart eines ledigen Herrn etwas sonderbar ischt?“

Hundertpfund bat jetzt, aus dienstlichen Gründen in die Fabrik zurückkehren zu dürfen und diesem Ansuchen willfahrte Ehrenstraßer, der nun auf dem Wege zur Stadt sich ganz in diesen Fall vertiefen konnte.

Der Marsch hatte Hunger und Durst erzeugt, weshalb der Richter im „Ochsen“ zusprach und sich eine „Jause“ gönnte. In gleicher Absicht fand sich kurz darauf der Bezirkskommissär im Gasthause ein, wiewohl dieser Beamte auf den Richter wegen des damaligen Ausdruckes „Rabulistik“ eine Art Privathäßle hegte. Der Kommissar gönnte sich daher ein Spottwort, indem er auf die Anwesenheit der Ehrenstraßerschen Schwiegermutter anspielte und beifügte, daß die welsche Gnädige wohl eine Leidenschaft für Spazierfahrten hege.

„Wieso?“ fragte Ehrenstraßer.

„Na, vor einer Stunde ist ja Ihr ganzer Harem, Fräulein Emmy ausgenommen, zu Wagen fort!“

„Ja, ja, ich weiß!“ log Ehrenstraßer, den ein unbehagliches Gefühl beschlich, dann trank er das Glas aus, zahlte und entfernte sich unter höflichem Gruß.

Jetzt langsam nach Hause zu gehen, mußte sich der Richter zwingen, er weiß, daß ihn die neugierigen Augen jenes Beamten verfolgen und will jeden Anschein vermeiden, als ob jene Anspielung auf die Spazierfahrt ihm flinke Beine machen würde.

Endlich aber im Hause angekommen, macht Ehrenstraßer die Stufen doppelt und stürmte hinauf. Welche Bescheerung!

Emmy steht in höchster Bestürzung vor geleerten Kasten, es ist kein Zweifel möglich, daß die Stiefmutter Bianca mit den Kindern und mit Sack und Pack das Haus verlassen hat.