Zen und die Kunst der Vogelbeobachtung

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II ZEN


Auf seiner langen Reise von Indien über China bis nach Japan – sie währte Jahrhunderte – verlor der Buddhismus fast alles an metaphysischem Gepäck und kam schließlich in Gestalt des Zen schlank und weltlich in Japan an. Weil der Zen-Buddhismus so rätselhaft und zugleich so literarisch ist, hat er viele moderne Schriftsteller von J. D. Salinger über Ray Bradbury und Robert Pirsig bis zu David Foster Wallace fasziniert. Er galt immer als der Buddhismus der Intellektuellen. Seine Aussagen stützen sich zu einem großen Teil auf die »Koan«. Es ist schwer, diese Anekdoten, Geschichten oder Rätselsprüche, die innerhalb des Zen-Buddhismus von Generation zu Generation weitergetragen wurden, zu definieren. Sie haben in den meisten Fällen einen narrativen Kern, und sie sollen verstanden oder zumindest in ihrer Rätselhaftigkeit akzeptiert werden. Es sind Rätsel, welche die Tradition des Zen durch die Generationen weitergeben und den Schülern, die sich mit ihren geheimnisvollen Botschaften herumschlagen, zur Erleuchtung verhelfen. Sie sind es, die den Zen-Buddhismus einerseits so »literarisch« (es sind ja Erzählungen mit einem bestimmten Sinn) und andererseits so geheimnisvoll machen, denn ihre Bedeutung lässt sich nur schwer erfassen und vermitteln. Auch wenn der Schüler erklärt, nun »erleuchtet« zu sein, hat das nicht immer mit einer Lösung des Koan-Rätsels zu tun, sondern oft mit einem rätselhaften Impuls, der von dem Koan ausgegangen ist.

C.G. Jung hat von dem »abstrusen Dunkel der Zen-Anekdoten«1 gesprochen. Dieses Dunkel aber zieht er den manchmal allzu erbaulichen Belehrungen des Buddhismus bei Weitem vor. Wenn man sich länger mit ihnen beschäftigt, festigt sich der Eindruck, man müsse die Koan erfühlen, erfahren, sie jedenfalls auf einem anderen Weg erfassen als mit dem logischen Denken. Es ist wahrlich kein Wunder, dass dies das Interesse der westlichen Literaten und Psychologen geweckt hat. Hier ist ein Beispiel:

Der Mönch geht über die Brücke. Unter der Brücke fließt der Fluss.

Der Mönch geht nicht über die Brücke. Unter der Brücke fließt kein Fluss.

Der Zen-Meister sucht für einen Schüler ein Koan aus, das etwa seinem Entwicklungsstand entspricht, und dieses Koan soll der Schüler nun betrachten, um das Rätsel, das in ihm liegt, zu lösen. Die Lösung, wenn man es so nennen kann, besteht allerdings nicht im logischen Denken, sondern in einem intuitiven Einfall, der über das Problem hinausgeht, es also weniger rational erfasst als in einen größeren Zusammenhang stellt, den der Erleuchtung. Man könnte also auch sagen, dass von dem Koan ein Impuls ausgeht, der zur Erleuchtung führt.

Das Koan, das Salinger so faszinierte, dass er es in einem seiner Bücher zitierte, lautet:

Wir kennen den Klang von zwei klatschenden Händen – aber was ist der Klang einer einzelnen Hand?

Wahrscheinlich ist dies das im Westen berühmteste Koan. Es stammt von Hakuin Ekaku, der von 1686 bis 1769 lebte und der bedeutendste zen-buddhistische Denker seiner Zeit war. Er bemühte sich darum, die Praktiken des Zen in breiteren Bevölkerungsschichten zu verankern. Überdies war er ein großer Künstler, ein Meister der Kalligrafie und der Malerei. Auf dieses Koan werden wir noch zurückkommen.

Der Zen-Buddhismus ist so radikal auf individueller innerer Erfahrung aufgebaut, dass viele Menschen, die sich mit ihm befasst haben, ihn gar nicht mehr als Religion im Sinne der anderen Glaubensrichtungen – also etwa des Christentums oder des Islam oder des Hinduismus – gelten lassen. Es gibt keinen Gott, keine Autorität, keine Gebote, keine Heilige Schrift. Es gibt den Glauben an die Wiedergeburt und das Nirwana, aber auch diese Elemente spielen im Zen nicht die maßgebliche Rolle, die Vorstellungen wie das Paradies oder die Auferstehung in anderen Religionen innehaben.

Im Grunde ist Zen eine von Generation zu Generation weitergegebene Erfahrung. Der Meister führt den Schüler zum »Satori«, zur Erleuchtung, und der Schüler gibt diese Erfahrung, wenn er selbst zum Meister geworden ist, an seine Schüler weiter. Dadurch entsteht eine Kette der Lehre, die bis auf den Begründer des Buddhismus, Gautama, zurückgeht. Wie der Meister seine Schüler belehrt, bleibt ihm überlassen, es existiert keine festgelegte Methodik. Der Zen-Buddhismus ist in diesem Sinne, um ein modernes Wort zu gebrauchen, äußerst pragmatisch. Er versucht, das Erleben zu vertiefen, innere Ruhe zu vermitteln, ohne zu etwas Höherem – etwa einem Gott – führen zu wollen. Zen ist seltsam: Es gibt keine Religion, keine Philosophie, die ihm gleicht – und vielleicht ist Zen weder Philosophie noch Religion.

Zen ist eine Abkürzung von »Zenna«, was dem chinesischen »Chan’na« entspricht. Abgeleitet ist es von der Übersetzung des Sanskrit-Wortes »Dhyāna«, was so viel wie Meditation oder geistige Sammlung bedeutet, und die Meditation steht tatsächlich ganz im Zentrum des Zen-Buddhismus.

»Zazen« ist japanisch und wird meist als »Sitzen« übersetzt, also als die Stellung, in der man meditiert. Neben der Methode der Meditation gibt es nicht viel, was im Zen Bestand hat. »Werde ich also gefragt, was Zen lehrt«, sagt Daisetz T. Suzuki, »so muss ich antworten, dass Zen nichts lehrt.«2

Diese Aussage ist bezeichnend für den Radikalismus des Zen, für seine geradezu subversive Schärfe. Nichts scheint wirklich zu gelten, nichts scheint heilig zu sein. Alles darf im Namen der subjektiven Erfahrung kritisiert, sogar verspottet werden. Wer sich also auf den Zen-Buddhismus einlässt, wird zunächst einmal auf eine zutiefst verwirrende, ja verstörende Vielfalt von Aussagen stoßen, deren Widersprüchlichkeit und Zweideutigkeit geradezu darauf angelegt scheinen, den Schülern jedes Fundament herkömmlichen logischen Denkens zu entziehen und jede geistige Gewissheit zu erschüttern. Suzuki spricht davon, der »Tyrannei der Logik«3 zu entrinnen. Es gibt keine Autorität, keine gültige Lehre, an die man sich klammern könnte. Stattdessen verweisen einen die Lehren des Zen auf einen selbst, auf die eigene Erfahrung. Wenn diese Lehren überhaupt einen erkennbaren Zusammenhang, eine Richtung besitzen, dann die, dass der Verstand trügerisch ist und dass der Weg zur Wahrheit über das innere Erleben führt. Das Verstehen richtet nach Meinung des Zen relativ wenig aus – erst wenn ein Gedanke in ein tiefes Empfinden übergeht, wenn also der Gedanke aufhört, Gedanke zu sein, kommt man den Zielen des Zen näher. Im Deutschen sagt man, dass einem etwas »in Fleisch und Blut« übergeht, wenn man eine Handlung nicht nur versteht, sondern sie zur zweiten Natur geworden ist, und diese Ausdrucksweise könnte dem Zen entstammen. Des »Gedankens Blässe« wird aufgegeben, um sich das Wesen des Gedankens in einer geradezu vegetativen Reduktion einzuverleiben. Wenn sich das alles sehr mystisch anhört, so ist das nicht verkehrt, denn in seinem Kern ist Zen Mystik. Allerdings eine Mystik der praktischen Übung, des Alltags, der Nüchternheit, eine Mystik ohne Gott – wenn es denn so etwas geben kann.

Die früheste historisch sichere Überlieferung aus der Anfangszeit des Buddhismus in Japan, dem 7. Jahrhundert, spricht von einem japanischen Mönch, Dosho. Er wurde von einem chinesischen Lehrer unterrichtet und brachte seinen Schülern nicht nur die Meditation bei, sondern bewirkte auf seinen Reisen, dass Brunnen gebohrt, Brücken gebaut und Fähren eingerichtet wurden. Das verweist bereits auf den Pragmatismus des Zen in Japan. Dosho war ein zupackender Mann, der sich um die Zivilisation in Japan verdient machte, wie Heinrich Dumoulin in seiner Geschichte des Zen-Buddhismus schreibt.4 Diese pragmatische, auf den Alltag gerichtete Seite des Zen wird immer wieder deutlich, wenn man die Koan liest, die Lehrgeschichten, in denen streng genommen die Überlieferung des Zen-Buddhismus in Japan besteht.

Neben der praktischen Ausrichtung des Zen stand von Anfang an der tiefe Bezug zur Natur. Ein zweiter großer Denker, der den Zen-Buddhismus in Japan einführte, hieß Dōgen und lebte von 1200 bis 1253. Noch heute wird er in Japan verehrt, Dumoulin nennt ihn sogar den vielleicht »stärksten und eigenwilligsten Denker, den Japan hervorgebracht hat«5. Dōgen kam aus einer vornehmen Familie, die ihm die damals übliche Bildung zukommen ließ. Dann aber trat er in ein Mönchskloster ein und widmete sich ganz der Suche nach der »Wahrheit«. Von großer Tragweite war für ihn offenbar eine Begegnung auf einer China-Reise. Als das Schiff in China eintraf, ging ein Mann aus dem Tempelkloster auf dem Ayuwang-Berg an Bord. Die beiden kamen ins Gespräch, und der tief beeindruckte Dōgen lud den Alten ein, länger auf dem Schiff zu bleiben, damit sie weiter miteinander reden konnten. Aber den drängte es zu seiner Arbeit zurück. Als Dōgen nach der Art seiner Arbeit fragte, stellte sich heraus, dass der Mann Koch war. Erstaunt wollte Dōgen wissen, warum ihm diese Arbeit denn so wichtig sei. Der Alte lachte und sagte, die Arbeit in der Küche sei seine Zen-Übung, und die bedeute ihm mehr als alles andere, durch sie finde er zum »erleuchteten Wandel«.6 Für Dōgen bedeutete diese Begegnung eine entscheidende Wendung. Er kehrte nach weiteren Reisen schließlich nach Japan zurück, ließ sich in der Nähe von Kyoto (damals die Hauptstadt Japans) nieder und verbreitete dort mit großem Erfolg seine Linie des Zen, welche die Wichtigkeit der alltäglichen Übung betonte. »Nur Zazen« nannte er diese Konzentration auf die Meditation, auf japanisch »shikan taza«, eine Meditation, zu der man auch die vermeintlich banalen Tätigkeiten erheben konnte, wie es der alte Koch gelehrt hatte. Dōgen glaubte, dass selbst die einfachsten Arbeiten wie die in der Küche oder das Fegen des Hofes zu meditativen Übungen werden konnten. Für ihn gab es keinen Unterschied zwischen den Arbeiten des Alltags und den Übungen in der Zen-Halle. »Die Lehre des Tempelkochs« lautet der Titel eines Bandes seiner umfangreichen Werke.

 

Schüler strömten ihm zu, aber das weckte auch den Widerwillen der Mönche eines anderen Klosters in der Nähe. Jede Art von Rivalität und Neid war Dōgen zuwider, also zog er sich in die Berge der Provinz Echizen zurück. Unterstützt von einem Laienjünger und Freund baute er dort ein neues Kloster auf. Sein Ruf hatte sich in ganz Japan verbreitet, man bat ihn, in die Hauptstadt zurückzukehren, aber eine Krankheit ließ nur einen Aufenthalt über den Winter zu. Dann kehrte er nach Echizen zurück. »Natur und Dichtung« trösteten sein Herz, schreibt Dumoulin und zitiert zwei Gedichte, welche die Naturnähe des Zen wunderbar ausdrücken. Der Herbst ist in der japanischen Dichtung – wie auch in der deutschen – ein Vorbote des Endes, des Winters, des Todes. Dōgen schrieb diese Gesänge kurz vor seinem Tode:

Auf Blatt und Gräsern

harrend der Morgensonne

rasch hinschmilzt der Tau.

Eile nicht so, du Herbstwind,

der auf dem Feld sich erhebt!

Und fast noch schöner, dieses Gedicht oder Lied:

Wem vergleich ich wohl

Welt und des Menschen Leben?

Dem Mondesschatten,

wenn er im Tautropf berührt

des Wasservogels Schnabel.7

Über die Übung des Zazen, des Sitzens, schreibt Dōgen:

Wenn du die Erleuchtung zu erlangen wünschst, so übe eilends Zazen. Für das Zazen ist ein stilles Zimmer gut, Speise und Trank seien mäßig. Wirf alle Bindungen von dir, beruhige die zehntausend Dinge, denk nicht an Gut und Böse, urteile nicht über richtig und falsch, halte den Lauf des Bewusstseins an, mach die Tätigkeit des Wünschens, Vorstellens, Urteilens aufhören!8

Faszinierend ist Dōgens Auffassung der Zeit. Dass diese aus der Vergangenheit durch die Gegenwart in die Zukunft fließe, hielt er für einen Irrtum »der Unerleuchteten«. Sie meinen, so Dōgen, wenn sie einen Berg erstiegen oder einen Fluss durchquert haben, dass diese nun hinter ihnen liegen und versunken seien: »Als ob jene Berge und Flüsse jetzt nicht mehr da wären, weil ich sie überschritten habe und jetzt im Perlenpalast wohne.«9 Das ist ein wunderbares Bild, das sagen will, dass die Vergangenheit nicht vergangen ist, sondern dem Menschen bleibt – als ein währender Eindruck. Es ist ein wenig wie eine Vorwegnahme der Zeitauffassung des französischen Philosophen Henri Bergson, der der Überzeugung war, dass die wirklich einschneidenden Erfahrungen in der »Dauer« geschehen, die für ihn im Gegensatz zur mechanischen »Zeit« stand. In Dōgens Augen war die Zeit eine Totalität, die alles, auch die Vergangenheit umfasst. »Was wir gestern und heute nennen, ist nur eine Zeit.«10 Wenn Sein und Zeit eines ist, so sagt Dōgen, ist es »Sein-Zeit«, und diese »Sein-Zeit besitzt das Vermögen des Währens«.11

Dōgen brachte bereits eine Handschrift einer Koan-Sammlung aus China nach Japan. Die zwei für die Zen-Übung maßgeblichen Sammlungen, »Mumonkan« und das »Hekiganroku«, wurden aber wahrscheinlich erst im 14. Jahrhundert nach Japan gebracht. Neben diesen chinesischen Koan gab es aber auch rein japanische, die verbreitet wurden, bevor die beiden wichtigsten Sammlungen im 17. Jahrhundert gedruckt wurden.

Betrachtet man die Koan, so wird man häufig auf einen inneren Vorgang gestoßen, der mit der Abwendung von jeder Art des logischen Denkens beginnt: Das Urteil über Vorgänge und Dinge, die den Schüler umgeben, wird zum Schweigen gebracht. Die Handlungen des Alltags werden zu Ritualen, die mit großer Achtsamkeit ausgeführt werden und dem Schüler in Fleisch und Blut übergehen sollen. Wenn das in endlosen Übungen geschehen ist, wird er aufs Neue von seinem Meister mit den Dingen seiner Umgebung konfrontiert, um sie aus anderer Sicht bewusst zu erleben. Es ist also eine Art von Dreischritt: Unterdrückung des Gedankens, innere Sammlung, intuitives Erfassen der Dinge. Ein Zen-Meister sagte:

Bevor ich erleuchtet wurde, waren die Flüsse Flüsse und die Berge Berge. Als ich den Weg zur Erleuchtung beschritt, waren die Flüsse keine Flüsse und die Berge keine Berge mehr. Jetzt, da ich erleuchtet bin, sind die Flüsse wieder Flüsse und die Berge wieder Berge.

Offenbar geht es nicht unbedingt darum, das Geheimnis eines Koan zu lösen, denn meist gibt es keine Lösung oder sie wird vom Meister geheim gehalten, um das Potenzial dieser Rätsel, ihre geheimnisvolle Widersprüchlichkeit, aufrechtzuerhalten.

Im meditativen Betrachten des Koan soll der Schüler möglichst über die Grenzen der Ratio hinausgelangen und die Aufgabe intuitiv erfassen. Nach Auffassung des Zen liegt die Antwort, also die erleuchtende Erkenntnis, immer schon im Unbewussten des Schülers. Er muss den Zugang finden, und das ist keine leichte Aufgabe, denn der Zugang ist nur möglich, wenn er die ihn behindernden Gedanken, das logische, analytische Denken ablegt und damit dem Unbewussten Raum lässt. Er soll sich ganz auf seine Empfindung verlassen und auf das, was in seinem Inneren angelegt ist. Gelingt ihm die Befreiung dieser »innersten Kräfte«, wie Suzuki es nennt, kommt er der Erleuchtung nahe.12

Dieses Verhältnis von bewusstem und unbewusstem Denken und Handeln hat auch Psychoanalytiker wie C. G. Jung oder Erich Fromm angezogen, die sich auf ihre Art mit dem Zen-Buddhismus auseinandergesetzt haben. C. G. Jung meint, dass es auf die paradoxen Fragen oder Herausforderungen, die ein Koan dem Schüler stellt, keine Antwort des Verstandes geben kann. Zunächst, so glaubt er, sei es klüger, sich deren dunklem Sinn anzuvertrauen, ohne zu versuchen, ihn aufzuhellen:

»Man tut gewiss viel besser daran«, schreibt er in einem Vorwort zu Suzuki, »sich vorderhand einmal vom fremdartigen Dunkel der Zen-Anekdote tief beeindrucken zu lassen.«13 Es geht also darum, das Koan in sich aufzunehmen, ohne seinen Sinn zu verstehen. Eine wichtige Rolle spielt dabei das absolute Vertrauen des Schülers zum Meister. Fehlt es, so wird die bizarre Widersprüchlichkeit des Koan zunächst Zweifel und schließlich Verzweiflung auslösen. Dazu gibt es ein ungewöhnlich anschauliches Koan, in dem es um nichts Geringeres als die Erläuterung des Zen-Buddhismus selbst geht:

Te-Khan, der beste Schüler Chouei-Iens, sagte einmal zu seinem Meister: »Meister, ich habe viel von Euch gelernt, doch jetzt halte ich es für unerlässlich, durch China zu ziehen, um meine Kenntnisse des Buddhismus zu vollenden.«

So verließ Te-Khan das Kloster mit dem Segen Chouei-Iens. Mehrere Jahre zog er kreuz und quer durch China und kehrte schließlich zu seinem Meister zurück.

»So hast du also ganz China durchquert?«

»Ja, Meister.«

»Dann fasse mir den Zen-Buddhismus in ein paar Worten zusammen.«

Te-Khan konzentrierte sich und erklärte nach einer Weile:

»Bleiben die Wolken an den Gipfeln der Bergkette hängen, durchdringt das Mondlicht nicht das Wasser des Sees.«

»Ah«, erwiderte der Meister. »Deine Haare sind grau geworden, du hast ein paar Zähne verloren. Du gehst gebeugter. Und obwohl du älter geworden bist, ist das alles, was du über das Zen gelernt hast? Was für eine Enttäuschung!«

Da fing Te-Khan an zu weinen und fragte Chouei-Ien:

»Und Ihr, Meister, wie fasst Ihr das Zen zusammen?«

»Gut, hier meine Zusammenfassung: Bleiben die Wolken an den Gipfeln der Bergkette hängen, durchdringt das Mondlicht nicht das Wasser des Sees.«

Überwältigt von dieser Antwort, erklärte der Schüler: »Danke, Meister, ich bin erleuchtet!«

C. G. Jung hat eine interessante Theorie zu »Satori« – zu dem, was die Zen-Buddhisten Erleuchtung nennen. Er glaubt, dass die Erleuchtung das plötzliche Erleben einer Totalität ist, des Gefühls, »ganz« zu sein. Unter »Ganzheit« versteht er den Durchbruch des Unbewussten, das ansonsten vom kontrollierenden »Ich« des Menschen mittels der bewussten Gedankenwelt unterdrückt wird. Die rationalen Gedanken sind wie ein Riegel, der das Unbewusste aussperrt. Im jahrelangen Einüben der Meditation geht es nach Jung darum, diese Sperre zu schwächen, also das unaufhörliche Geschwätz der bewussten Gedanken auszuschalten und eine Leere herzustellen, um dem Unbewussten die Möglichkeit zu geben, seinen »Durchbruch« zu erleben. Geschieht das, so hat dieser Durchbruch eine ebenso plötzliche wie gewaltige Wirkung. Das ist, sagt Jung, die Erleuchtung.

Die Aufsplitterung in Einzelnes, das Einseitige, der fragmentarische Charakter eignet dem Wesen des Bewusstseins. Die Reaktion aus der Disposition hat stets Ganzheitscharakter, da sie einer durch kein diskriminierendes Bewusstsein aufgeteilten Natur entspricht. Daher ihre überwältigende Wirkung. Es ist die umfassende, völlig einleuchtende Antwort, die um so mehr als Erleuchtung und Offenbarung wirkt, als das Bewusstsein sich in einer aussichtslosen Sackgasse festgerannt hat.14

Es lohnt sich, im Licht dieser Theorie noch einmal auf Te-Khan, den Schüler Chouei-Iens, zurückzukommen. Fasst man das Koan von der Erleuchtung Te-Khans in andere Worte, kann man es vielleicht so ausdrücken: Über einen See am Fuße der Berge ziehen Wolken hinweg. An der hohen Gebirgskette jenseits des Sees bleiben sie hängen, stauen sich, sodass sich der Himmel mehr und mehr bezieht. Als der Mond in der Nacht aufgeht, wird er von einer dichten Wolkendecke verhüllt. Sein Licht kann das Wasser des Sees nicht erreichen. Es ist naheliegend, das Licht des Mondes mit der Erleuchtung in Verbindung zu bringen. Die Wolken, die dieses Licht nicht zum Wasser des Sees durchdringen lassen, sind dann die Folge des gedanklichen Riegels, der Bergkette. Diese Sperre lässt einen »Durchbruch des Unbewussten«, wie C. G. Jung es ausdrücken würde, nicht zu. Ist diese Deutung zulässig, hat Te-Khan das Wesen des Zen erfasst, was ihm sein Lehrer Chouei-Ien dann auch bestätigt.

Und noch eins ist an dieser Geschichte so interessant: Der Lehrer stürzt seinen Schüler zunächst in tiefe Verzweiflung, bevor er ihn mit seiner überraschenden Zustimmung wieder aufrichtet. Diese emotionale Achterbahnfahrt ermöglicht erst die Erleuchtung, weil sie – wie in vielen anderen Koan berichtet – den Schüler aus seiner Gedankenwelt herausreißt und ihn mit einer vollkommen unerwarteten Wendung konfrontiert.

Die Paradoxie des Koan führt also in einer blitzartigen Erleuchtung zur Entfesselung des Unbewussten, das sozusagen aus sich heraus auf eine Frage antwortet, die gar nicht gestellt worden ist. Auch bei Suzuki findet sich eine ähnliche Argumentation: »… das Zen-Bewusstsein muss sich bis zur Reife entwickeln. Ist es voll ausgereift, so bricht es mit Sicherheit durch in Gestalt des Satori, das ein Einblick in das Unbewusste ist.«15

Das erklärt auch, warum die Zen-Meister ihre Schüler immer wieder auf sich selbst verweisen. In Koan auf Koan findet sich die Mahnung, dass die Antwort im Schüler selbst liegt und nicht in irgendeiner Lehre, die er empfangen mag. Die Strenge der Meditation, die jahrelange Askese, die ständigen Wiederholungen, die Eintönigkeit des mönchischen Lebens – sie alle haben ein Ziel: den Schüler auf sich selbst zu verweisen und ihn für dieses Erlebnis empfänglich zu machen, indem das bewusste Denken zurückgedrängt wird. C. G. Jung wird da fast poetisch: »Die Antwort darauf, die anscheinend aus dem Leeren kommt, das Licht, das aus schwärzester Finsternis aufleuchtet, ist stets als wunderbare, beglückende Erleuchtung empfunden worden.«16

Erich Fromm kommt zu einem ähnlichen Schluss, wenn er den Zen-Buddhismus mit der westlichen Psychoanalyse vergleicht. Er betont vor allem die »Wachheit«, die Zen von seinen Anhängern fordert, das Erwachen aus dem »Halbschlaf«, in dem der »Durchschnittsmensch« sein Leben führt. Auch Fromm sieht in der Besinnung des Menschen auf sich selbst, auf die eigenen Kräfte, den einzigen Ausweg aus der Krise des westlichen Menschen. Es ist die missverstandene Vernunft, die in seinen Augen den Menschen daran hindert, seine kreativen Möglichkeiten auszuleben und zu verwirklichen. Er glaubt sich dem, was ihm von Kind an als »vernünftig« beigebracht wird, unterwerfen zu müssen.17

 

Denn das Bewusstsein, in dem der Mensch lebt, ist nach Fromm nicht etwa ein Weg zur Aufklärung, sondern ein gesellschaftlich geprägter Filter, der nur durchlässt, was die westliche Zivilisation als sozial nützlich erachtet. Das Bewusstsein repräsentiert nach Fromm den sozialen Menschen – das heißt den sozial funktionierenden, also gesellschaftlich konditionierten Menschen. Das bedeutet zugleich, dass diese Filterfunktion nur so viel an Empfindung zulässt, wie das soziale Leben erfordert. Dies ist aber nach Fromm nur ein kleiner Ausschnitt der menschlichen Daseinsmöglichkeit, eine letztlich krank machende Verengung. Bleibt es dabei, ist der Mensch dazu verdammt, fragmentarisch zu leben, Fromm sagt sogar, als »ein Krüppel«, der nur einen kleinen Teil von dem empfindet und verwirklicht, was ihm möglich wäre.18 Der kreative Reichtum des Unbewussten bleibt ihm verwehrt. Damit steht Fromm manchen Theorien des modernen Künstlertums nahe, die davon ausgehen, dass nur die vitale Kraft des Unbewussten der Kunst Authentizität und Tiefe verleihen kann. Und er spiegelt den Gedanken von C. G. Jung, der wie Fromm glaubt, dass die Vernunft bis zu einem Stadium entwickelt werden müsse, »in dem sie den Menschen nicht mehr daran hindert, die Natur unmittelbar und intuitiv zu erfassen«.19 »Damit meine ich die Tatsache«, schreibt Fromm, »dass ich zu sehen glaube – aber nur Worte sehe; dass ich zu fühlen glaube, aber die Gefühle nur denke. Der Mensch, der alles gedanklich verarbeitet, ist der Entfremdete.«20

Ein Echo der Meister-Schüler-Beziehung des Zen-Buddhismus schwingt in der Aussage Fromms mit, dass der Analytiker für den Patienten niemals das tun kann, was der Patient für sich selbst leisten muss. Beide, der Schüler ebenso wie der Patient, müssen sich auf sich selbst besinnen, auf die eigene Kraft, sie müssen die Erkenntnis aus sich heraus schöpfen – der Meister beziehungsweise der Analytiker kann da nur Hilfestellung geben. Das ist das westliche Gegenstück zu der sich endlos wiederholenden Aufforderung der Koan: Geh in dich selbst zurück, finde in dir die Lösung, nur in dir selbst wirst du die Kraft finden, zur Erleuchtung beziehungsweise zur Heilung zu gelangen.

Nun wird sich kaum jemand im Westen der ungeheuren Mühe unterziehen, welche die Voraussetzung zur Erleuchtung ist. Sie fordert eine Lebensform der Askese, der sich nicht leicht jemand aussetzen wird. Aber Zen besteht ja keineswegs nur aus »Satori«, sondern aus einer aufmerksamen, wachen Wahrnehmung der Umgebung, anderer Menschen und vor allem der Natur, und aus der Meditation, die jeden belohnt, der sie einübt, und die sehr viel an kreativer Energie freisetzt.

An dieser Stelle trifft sich Zen mit der Praxis der Vogelbeobachtung und ihrer Beziehung zum Ganzen der Natur. Die Aufmerksamkeit, mit der man Vögel wahrnimmt, hat zugleich etwas Waches (die Vögel sind so lebhaft und schnell) und Meditatives an sich. In dem Wald, in dem ich fast täglich mit Hund und Fernglas spazieren gehe, gibt es ein »Fließ«, einen Kanal, der durch ein paar Schleusen reguliert wird und dazu dient, den Wasserstand zweier Seen auszugleichen. Dieses Fließ – es ist etwa drei Meter breit – liegt im Sommer im tiefen Schatten der Schwarzerlen und Birken und der hohen Ulmen, die an seinen Ufern wachsen und ihn überwölben. Es hat hier alles ein wenig das Wesen eines Urwaldes, weil viele der sich über das Wasser neigenden Schwarzerlen inzwischen umgestürzt sind und kreuz und quer am Ufer daliegen und verrotten. Einige von ihnen sind über das Fließ gefallen und bilden so etwas wie natürliche Brücken. Nur an manchen Stellen dringt das Sonnenlicht in unregelmäßigen Schneisen durch und erleuchtet in schmalen Streifen das Wasser des Kanals, die Ufer und Baumstämme. Die Spiegelung des Laubes im dunklen Wasser färbt alles in unendlich viele zitternde Facetten von Grün, Grau und Braun, unterbrochen von den wenigen Stellen, an denen ein Stück blauer Himmel vom Wasser reflektiert wird.

Eines Tages flog ein Graureiher bei wolkenlosem Himmel mit seinen langsamen Flügelschlägen lautlos dieses Fließ hinunter, er war über der dunklen Oberfläche des stehenden Wassers im Schatten der Bäume kaum zu sehen, aber wann immer er durch eine Schneise des Sonnenlichts glitt, leuchtete das unvergleichliche Grau seines Federkleides geradezu auf. Solche Momente, wenn man stehen bleibt und diesem fantastischen Bild nachhängt, erschließen einem nicht nur die Ästhetik des fliegenden Reihers, das Dunkelgrau der Deckfedern auf dem Rücken des Vogels und das Lichtgrau seines zum S gebogenen, zurückgelegten Halses, sondern die ganze Schönheit der Natur. Der Anblick trifft einen geradezu, und er trifft einen im ganzen Wesen, nicht nur im Denken. Das ist natürlich keine Erleuchtung im Sinne des Zen-Buddhismus, aber es ist ein tiefer Eindruck. Man ist plötzlich hellwach für diese Empfindung, sie erfüllt einen ganz, und man wird sie nicht leicht wieder vergessen. Auf kaum erklärliche Weise stärkt sie einen und verändert die Art, wie man die Umgebung sieht.

Erich Fromm kleidet das in eine Ausdrucksform, die er von der Schriftstellerin Gertrude Stein entlehnt: »Die Rose, die ich sehe, ist kein Objekt für mein Denken, so wie wir sagen: ›Ich sehe eine Rose‹, und damit nur feststellen, dass das Objekt, eine Rose, zu der Gattung ›Rose‹ gehört, sondern in der Bedeutung: ›Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose‹.«21 Wenn man »Reiher« an die Stelle der »Rose« setzt, kommt man der Empfindung, von der hier die Rede ist, nahe. Das Grau des Reihers im Grau der Schatten über dem dunklen Wasser, das plötzliche Aufleuchten in der Sonnenschneise, der lautlose, federnde Flug, der langsame Flügelschlag – das alles ist die Essenz des Reihers in der Empfindung des Vogelbeobachters und, wenn man das sagen darf, zugleich eine Meditation über die Natur. Ein Reiher ist ein Reiher ist ein Reiher.

Rilke hat dafür den Begriff der »Einsicht« geprägt – es ist ein Schauen, das über die bloße Aufnahme des Bildes vor einem hinausgeht. Mit der Einsicht sieht man in das Bild hinein und nimmt zugleich das auf, was sich an Empfindung mit ihm verbindet. Man taucht sozusagen unter die Oberfläche des rein Sichtbaren und spürt etwas von dem Leben, das sich darin verbirgt. In Rilkes Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge gibt es eine Passage, in welcher der Erzähler berichtet, dass er versucht zu schreiben. Und zwar Verse. Dazu sagt er: »… Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh genug) – es sind Erfahrungen. Um eines Verses willen muss man viele Städte sehen, Menschen und Dinge, man muss die Tiere kennen, man muss fühlen, wie die Vögel fliegen, und die Gebärde wissen, mit welcher die kleinen Blumen sich auftun am Morgen.«22 Man muss also, wenn man Verse schreiben will, nicht nur sehen, wie die Vögel fliegen, man muss es fühlen. Und »fühlen« bedeutet ja nichts anderes, als dass man mit ihnen eins sein muss. Das meint Rilke mit der »Einsicht«. Die Vogelbeobachtung ist in diesem Sinne weit mehr als die bloße Betrachtung, sie ist ein Eintauchen, eine Einfühlung in den Flug des Vogels, in sein Leben, in die Natur.

Auf ganz ähnliche Weise versucht auch die Meditation des Zen Zugang zur Natur zu gewinnen. Es geht, wie oben gesagt, darum, über die Grenzen des bloß Rationalen hinauszugelangen und zu einer tieferen Ebene des Erlebens vorzustoßen. Das bloße Beobachten des Vogels ist ein rationaler Vorgang, die Fähigkeit aber, sich in den Flug des Vogels einzufühlen, geht darüber hinaus. Sie öffnet nicht nur den Blick für die Natur, sie überwindet auch die Distanz zwischen Beobachter und Beobachtetem und führt zu dem Gefühl von Einheit und Harmonie, welches auch das Wesen der Meditation ist.

Die Meditation ist eine uralte Technik, zum ersten Mal finden sich Hinweise auf sie in den ältesten überlieferten indischen Schriften, den Veden, die aus der Zeit um 1500 v. Chr. stammen. Aber sehr wahrscheinlich geht die Praxis der Meditation noch weiter zurück. Und schon früh findet sich der Hinweis, dass die Meditation auch »Seelenqualen oder Suchtverhalten, Verzweiflung, Nervosität und innere wie äußere Unruhe« bekämpfen kann.23

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