Zen und die Kunst der Vogelbeobachtung

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Der Ruf des Rußalbatros besteht aus zwei Tönen, die manchmal ineinander übergehen, manchmal deutlich getrennt herauskommen, der eine Ton ist tiefer als der andere, beide sind lang gezogen und klagend und von einer fast schon unheimlichen Wildheit. Ich habe immer das gedehnte, miauende »hiiiäh« unseres Mäusebussards für den Vogelruf gehalten, der das Wilde und Freie der Natur am vollkommensten ausdrückt, aber der Ruf des Rußalbatros übertrifft ihn noch an Intensität und Melancholie – eine klagende, wilde Dunkelheit liegt in ihm. Die Rußalbatrosse führen anscheinend während der Paarungszeit wunderbare synchrone Formationsflüge zu zweit auf, bei denen sie einander mit diesem Ruf antworten, aber das habe ich nicht erlebt.

Der Wind war aufgefrischt, und bald befanden wir uns in einem der Stürme, die sich in den Weiten des Südatlantiks ungehindert austoben. Die Kreise der Gäste beim Abendessen lichteten sich, und eine Frau fiel mit ihrem Stuhl einfach nach hinten um. Sie wurde wieder aufgehoben, hatte sich nicht verletzt und aß bald weiter. In diesen Breiten, schon in der Nähe der ersten Ausläufer der Antarktis, blieb es auch nachts hell, und ich ging noch einmal hinaus aufs Heck, wo der Wind um die Metallgeländer pfiff.

Ein Schwarzbrauenalbatros folgte dem Schiff, und auf den bewegten Wellen schaukelte, fast ebenso groß, graubraun und massig, ein Riesensturmvogel herum. Sein Kopf war hellgrau mit dunklen Einsprengseln, ansonsten waren der Körper, die Flügel und der Schwanz dunkelgrau und braun gefleckt. Die ältesten Riesensturmvögel haben schließlich einen ganz weißen Kopf. Der mächtige, wie mit Platten gepanzerte Schnabel war gut zu erkennen, auf den ersten Blick erschien er gelblichbraun, aber wenn man näher hinsah, gab es da noch andere Farben, ein blasses Grün, Rosa und Ocker. Die Augen dieses Vogels waren hell und durchdringend, aber sie können in derselben Spezies auch dunkelbraun und graubraun sein. Überhaupt sind die Riesensturmvögel im Aussehen sehr variabel, hell und dunkel, ein wenig wie unser Mäusebussard, der lange die Ornithologen verwirrt hat, und zu allem Überfluss gibt es noch einen »südlichen« Riesensturmvogel und einen »nördlichen«, die schwer zu unterscheiden sind. Sie fliegen mit den für die Sturmvögel typischen starren, gerade gehaltenen Schwingen, gleiten aber nicht so elegant wie die schlankeren Albatrosse, denen ihre längeren Flügel sehr viel mehr Beweglichkeit verleihen.

Ich kannte Sturmvögel aus den nördlichen Breiten – den Eissturmvogel etwa kann man auch auf Helgoland sehen, wo er sogar brütet. Sein riesiger Verwandter hier schien über die Maßen aufgebläht, eigentlich wirkte er zu massig, um überhaupt fliegen zu können. Ich hatte ihn ein paar Tage vorher schon an einem schwarzen Kiesstrand gesehen, den wir entlanggingen, und er war trotz der Menschengruppe, die da auf ihn zuwanderte, ganz ruhig sitzen geblieben. Ich konnte ihn in aller Muße studieren.

Der Riesensturmvogel hinter dem Schiff versuchte nun, in die stürmische Luft zu kommen, was aber bei der hohen Dünung gar nicht so einfach war. Er nahm mit klatschenden Füßen gewaltig Anlauf, machte ein paar Flügelschläge, kam knapp in die Luft, aber nicht hoch genug, um den nächsten dahinwandernden Wellenkamm zu überwinden, und fiel zurück ins Wasser. Einen Moment lang sah man nur Teile der ausgebreiteten Flügel über den Schaumkronen, der Kopf hob sich, und dann schwamm er wieder und musste sich erst einmal ordnen, was eine ganze Weile dauerte, sodass ich ihn immer wieder hinter den Wogen aus den Augen verlor. Dann nahm er wieder Anlauf, landete aber ebenso kläglich in einer grünen, am Kamm weiß aufschäumenden Welle. Erst beim vierten Mal gelang es ihm, genug Luft unter die Schwingen zu bekommen. Mit schweren Schlägen gewann er langsam und mühevoll Höhe, hob den schweren Körper Meter um Meter, noch immer dicht über den Wogen, ging schließlich ins Gleiten mit starren Flügeln über, schaltete dann wieder mächtige Schläge ein und strich schließlich in einer langen Kurve nach Süden davon.

Auf dem rollenden und schlingernden Heck hätte ich es nicht lange ausgehalten, ohne seekrank zu werden, aber ich hatte mir vom Schiffsarzt ein Pflaster hinter das Ohr kleben lassen, und deshalb kam ich in den Genuss eines Spektakels, das ich sonst verpasst hätte. Aus einem der tiefen Wellentäler schoss ein Schwarzbrauenalbatros hervor, stieg mit regungslosen Flügeln steil in den Wind, ließ sich vom Aufwind der Woge bis in eine Höhe von etwa zwanzig Metern hinauftragen, schien dort oben einen Moment wie ein großes schwarz-weißes Kreuz still zu stehen, die durchgehend dunklen Schwingen quer stehend, der weiße Kopf, der helle Bürzel und der dunkle Schwanz in der Senkrechten. Dann lehnte er sich in den Wind, ließ sich ein Stück zurücktragen und jagte schließlich, den treibenden Wind im Rücken, nach unten und in ein Wellental hinein. Unsichtbar für mich hielt er sich tief hinter der Woge, flog eine Strecke in dem Tal dahin, parallel zu den Wasserwänden an beiden Seiten, und schoss dann plötzlich etwa zwanzig bis dreißig Meter weiter im reißenden Aufwärtsflug aus dem Wellental und ließ sich vom Aufwind der Woge wieder in die Höhe tragen. Das ganze Manöver wiederholte er zu meiner Begeisterung immer wieder, als wollte er eine Vorstellung geben. Wenn er in einer langen Kurve am Schiff vorbeizog, sah man, dass er die breiten Füße zum Steuern benutzte, er hielt sie senkrecht neben dem kurzen Schwanz. Es war eine Darbietung von fliegerischer Eleganz und Kühnheit, die kaum zu übertreffen war, atemberaubend schön und wild zugleich, und sie schien ganz zweckfrei zu sein.

Warum machte der Vogel das, wenn nicht aus reiner Lust am Flug, am Vergnügen, mit dem harten Wind und der hohen See zu spielen? Ich hatte mich dasselbe gefragt, als ich ein paar Tage zuvor einen Wal aus dem Meer hervorbrechen sah, etwa dreihundert Meter vom Schiff entfernt. Es war ein Buckelwal, und er musste unter Wasser einen ungeheuren Anlauf genommen haben, um sich ganz aus seinem Element, dem Wasser, herauszukatapultieren. Das gewaltige Tier stand einen Augenblick senkrecht in der Luft, nur die Schwanzflosse blieb zu einem Teil im Wasser, um sich dann, langsam, so schien es, seitlich kippend wie ein gefällter Baum wieder mit einem enormen Aufklatschen und Aufschäumen ins Wasser fallen zu lassen. Es war ein Weibchen mit einem Kalb. Immer wieder tauchte es, blieb Minuten unter Wasser, um dann unvermittelt wie in einer Explosion senkrecht aus dem Wasser herauszubrechen. Das Kalb schwamm in der Nähe herum. Auch der Wal schien das »aus Spaß« zu machen – oder gibt es einen verborgenen Zweck hinter den Steilflügen des Schwarzbrauenalbatros und dem gewaltigen Herausschnellen der Wale? Freute sich die Walmutter so überschwänglich, weil es ihr gelungen war, ihr Kalb aus den wärmeren Wassern um den Äquator hier herunterzuführen, wo es endlich wieder unerschöpfliche Nahrung gab? Liebte der Albatros den Wind so sehr, dass er diese berauschenden Manöver vollführte? Geht das zu weit? Unterstellt man da Tieren zu viel an menschlichem Gefühl? Schon Darwin hat sich diese Frage gestellt. Beantworten kann sie niemand.

Der Schwarzbrauenalbatros führte noch immer sein Kunststück auf, aber das Schiff entfernte sich, stetig mit den Wellen rollend, weiter von ihm, und bald sah ich sein Aufsteigen im Aufwind der Woge nur noch als kleinen schwarz-weißen Punkt in der Weite des Meeres. Ich hielt ihn so lange wie möglich im Glas, überwältigt von diesem Schauspiel der Flugkunst auf der endlosen Bühne des Meeres.

Grenzen scheint der Schwarzbrauenalbatros nicht zu kennen. Die Welt ist klein für diesen großen Flieger. Er ist es, der manchmal nach Norden fliegt, immer weiter nach Norden, bis er vor Schottland oder Sylt, bei den Orkneys, den Shetlandinseln oder vor der norwegischen Küste auftaucht. Auch an der amerikanischen Ostküste ist er gesichtet worden, etwa vor North Carolina oder Massachusetts, und selbst an der grönländischen Küste hat man ihn beobachtet. Man sieht ihn in Südafrika, Australien und Neuseeland, im Indischen Ozean, aber vor allem ist er im Südatlantik zu Hause, in dem riesigen Seegebiet zwischen der Packeisgrenze und dem Wendekreis des Steinbocks, der sich etwa auf der Höhe von Rio de Janeiro und südlich von Madagaskar um den Globus zieht, aber es gibt auch Albatros-Kolonien im Indischen Ozean und im südlichen Pazifik. Offenbar ist er unermüdlich, keine Reise ist ihm zu weit.

Ich verließ das Heck und ging hinein, um mich irgendwo aufzuwärmen. Ich dachte an die beiden berühmten Gedichte, die sich mit dem Albatros verbinden, das von Baudelaire, in dem er den Poeten mit dem Albatros vergleicht – schwerfällig, fast hilflos an Land, was für den Poeten gleichbedeutend mit dem Alltag ist, und unerreicht in seiner Kunst des Fliegens, was für den Dichter natürlich der Flug der Fantasie ist.2 Wobei Baudelaire glaubte, dass die riesigen Flügel des Albatros ihm beim Gehen an Land behinderten, was in der Logik des Gedichts liegt, aber ornithologisch nicht richtig ist. Dass er aber an Land sehr unbeholfen ist, besonders bei der Landung, ist wahr, wie ich des Öfteren beobachtet habe.

Das andere Gedicht ist die lange Ballade von Coleridge, »The Rime of the Ancient Mariner«3, in der der alte Seefahrer immer wieder davon berichten muss, dass er einst mit seiner Armbrust einen Albatros erschoss. Ein Fluch liegt auf ihm, er ist gezwungen, bestimmten Menschen seine Geschichte zu erzählen. Und er erkennt jeweils sofort den Mann, der ihn anhören muss, auch wenn der viel lieber auf die Hochzeit einer Verwandten ginge. Aber zu dem Fluch gehört auch die Unfähigkeit des Angesprochenen, sich abzuwenden. Der Blick des Alten hält ihn unerbittlich fest, er muss zuhören. Seine Geschichte beginnt mit den klassischen Worten: »There was a ship …«, und der Gipfelpunkt ist das Eingeständnis, dass der alte Seefahrer ohne Not den menschenfreundlichen Albatros erschossen hat. Das ist sein Sündenfall, und dafür wird er bestraft, wie er auf die Frage des Hochzeitsgastes eingesteht:

 

God save thee, ancient mariner, from the fiends that plague thee thus.

What lookst thou so? – With my crossbow I shot the albatross.

Dieser Albatros ist sehr wahrscheinlich ein Schwarzbrauenalbatros gewesen, denn der folgt gerne Schiffen, und tut das oft über mehrere Tage. Angeblich verdankt sich die wilde Intensität des langen Gedichts der Tatsache, dass Coleridge unter dem Einfluss von Opium stand und das Gedicht wie in einem Fieberanfall niederschrieb. Später fürchtete er, die Leute würden nicht verstehen, was er da gesagt hatte, und fügte ganz überflüssige Kommentare und Erklärungen als Marginalien hinzu.

Bei zwei der ehemaligen Walfangstationen auf South Georgia, Grytviken und Stromness, die nun schon seit vielen Jahren verlassen waren und still verfielen, waren wir an Land gegangen. Die Station an der Stromness Bay war jene, in welcher der erschöpfte Shackleton mit seinen Gefährten Worsley und Crean auftauchte und von den erstaunten Walfängern in Empfang genommen wurde. Er hatte die Fahrt im offenen Boot von Elephant Island nach South Georgia hinter sich gebracht, etwa tausend Meilen in den stürmischsten Gewässern der Welt – eine der größten seemännischen Leistungen aller Zeiten. Worsley war es, der das Wunder einer Navigation vollbrachte, die verhinderte, dass sie auf dem weiten, wilden Meer an der kleinen Insel South Georgia vorbeisegelten – ins Nirgendwo. Sie waren an der Südküste gelandet und mussten die schneebedeckten Berge überqueren, die das Rückgrat der Insel bildeten, denn der Weg die Küste entlang war unpassierbar, und um die Insel herumzusegeln erschien Shackleton bei den stürmischen Winden zu gefährlich. Er wollte kein Risiko mehr eingehen, denn er wusste, dass die zurückgebliebenen Männer auf Elephant Island zum Untergang verurteilt waren, wenn er nicht zurückkehrte, um sie zu retten. Dass er sie nach zwei Jahren tatsächlich alle nach England zurückbrachte, macht seinen Ruhm aus und bedeutete ihm am Ende mehr als die Erkundung der Antarktis. Er ließ drei Männer der Besatzung an der südlichen Küste South Georgias zurück und versuchte, mit Worsley und Crean die schneebedeckten Berge zu überqueren, auf deren anderer Seite sich die Stromness Bay mit der Walfangstation verbarg. Die Überquerung erschöpfte ihn und seine beiden Begleiter so, dass sie mit Wahnvorstellungen zu kämpfen hatten. Berühmt wurde Shackletons hartnäckiges Gefühl, dass noch einer mit ihnen ging, eine rätselhafte Gestalt, die sich keiner von ihnen erklären konnte. Shackleton deutete das später religiös:

Wenn ich an diese Tage zurückdenke, habe ich keinen Zweifel daran, dass die Vorsehung uns geleitet hat … Während jenes langen, zermürbenden Marsches von sechsunddreißig Stunden über die namenlosen Berge und Gletscher South Georgias hatte ich oft das Gefühl gehabt, wir seien nicht zu dritt, sondern zu viert. Ich redete darüber nicht mit meinen Gefährten, aber hinterher sagte Worsley zu mir: »Boss, ich hatte das seltsame Gefühl, als wäre auf dem Marsch noch jemand anderes bei uns gewesen.« Crean gestand mir dasselbe.4

Dieses Rätsel fand Eingang in T. S. Eliots großes Gedicht, das berühmte »The Waste Land«: »Who is the third who walks always beside you?«5, heißt es da, wobei Eliot die drei, Shackleton, Worsley und Crean, auf zwei Männer reduziert hat. Sicherlich wusste Eliot, dass sie zu dritt waren, aber ein geheimnisvoller Dritter ist einfach poetischer als ein Vierter. Den letzten Steilhang auf der Nordseite South Georgias rutschten sie auf dem Hosenboden herunter, weil sie nicht mehr die Kraft hatten, vorsichtig abzusteigen. Worsley und Crean wollten rasten und langsamer vorangehen, aber Shackleton trieb sie an. Sie mussten es noch an diesem Tag schaffen, darauf bestand er mit eiserner Willenskraft. Später stellte sich heraus, wie recht er gehabt hatte. In der Nacht brach ein Sturm los, den die entkräfteten Männer nicht überlebt hätten. Sie erreichten schließlich Stromness Bay, eine Walfangstation, in der sie zuerst mit Unglauben, dann mit Jubel begrüßt wurden.

Die drei Männer auf der anderen Seite der Insel wurden am nächsten Tag geholt, aber Shackleton brauchte unter den Bedingungen des Ersten Weltkriegs zweiundzwanzig Monate, bis er ein Schiff bekam, mit dem er seine Männer auf Elephant Island endlich erlösen konnte. Als er mit einem kleinen Schlepper vor Elephant Island auftauchte, zählte er sie noch vom Schiff aus mit dem Fernglas vor Augen. Sie waren vollzählig da.

1921 fuhr er noch einmal zu einer Expedition in die Antarktis, starb aber auf South Georgia an einer Herzschwäche. Bestattet wurde er in der Walstation Grytviken, wo man heute sein Grab besichtigen kann. Wie Stromness Bay wurde Grytviken schon vor vielen Jahren stillgelegt.

Diese aufgegebenen Walfangstationen sind Mahnmale des Kriegs der Menschen gegen die Natur. In alten Berichten ist die Rede davon, das Wasser der Stromness Bay sei an manchen Tagen rot gewesen vom Blut der Wale, die hier hereingeschleppt wurden, um zerlegt zu werden. Jetzt lagen auf dem Gebiet der ehemals geschäftigen, von Menschen wimmelnden Station zerfallende Schiffe, rostende Maschinen, vor allem riesige Winden, die die schweren Wale an Land gezogen hatten. Große Bretterschuppen mit flachen Anbauten, deren weiße Farbe längst vergilbt und rissig geworden war, standen verlassen herum, in einem kleineren Schuppen gab es noch Fässer, in die das Walfett, der Tran, gefüllt worden war. An den Decken der Schuppen hingen verrostete Haken und Ketten. Es herrschte tiefe Stille, nur manchmal von den plötzlich einsetzenden Schreien der Möwen unterbrochen.

Der Verfall, vor allem der Rost, wurde von der trockenen Kälte so sehr verlangsamt, dass bei vielen der Werkzeuge und Maschinen noch erkennbar war, wozu sie einmal gedient hatten. Nichts war wirklich zerstört, alle Teile der Maschinen und Winden waren noch da, sie schienen nur erstarrt, als hätte ein plötzlicher Fluch sie gelähmt. Eine kleine Schienenstrecke zog sich vom Hafen hinauf zu den Hallen, in denen die Wale verarbeitet wurden. Ein paar Waggons mit niedrigen Ladeklappen, deren große Eisenräder unbeweglich geworden waren, standen dort herum, als warteten sie darauf, noch einmal beladen zu werden. Der vorherrschende Farbton war das Rotbraun des Rosts, das in das im Sonnenlicht strahlende Weiß des Schnees einsickerte. Überall zwischen den Häusern und Maschinen, den Schuppen und Hallen lagen die gewaltigen schwarzgrauen Leiber von schlafenden See-Elefanten, von dunkelbraunen Robben, Seehunden und Seebären, die sich die Station zurückerobert hatten. Sie kümmerten sich wenig um uns, die See-Elefanten öffneten vielleicht ein Auge, um uns zu betrachten, rührten sich aber nicht, auch wenn man dicht vor ihnen stand. In den alten Schuppen hatten sich die gewaltigen Männchen, die sich gerade häuteten, buchstäblich breit gemacht, in dem Dämmerlicht leuchteten die Scheidenschnäbel auf, weiß wie Gespenster, Vögel, die zwischen ihnen und auch auf ihnen herumliefen. Pinguine watschelten furchtlos auf den alten Straßen herum, einer begleitete meine Frau ein ganzes Stück des Weges, ging ruhig und aufmerksam neben ihr her, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Es sah aus, als unterhielten sie sich.

So würde die industrielle Welt sehr bald aussehen, dachte ich, wenn die Menschen aus irgendeinem Grund von der Erde verschwänden. Rost und Verfall, die langsame Rückkehr der Vegetation, die Tiere, die es sich in den leeren Höhlen der Menschen bequem machten, der Schrei der Möwen von gebrochenen Masten. Mehrere Schiffe mit geborstenen Planken, die nie wieder Wasser unter dem Kiel haben würden, ruhten hier für immer auf der Seite liegend im flachen Wasser vor dem Strand, und ihre Aufbauten und Masten waren von Wind und Wetter zerfressen, vor dem Hintergrund der schneebedeckten Berge ragten sie auf wie Zeugen einer gescheiterten Vergangenheit. Ein großes Walfangschiff war halb auf den Strand gezogen worden, die Harpune am Bug ragte schräg nach oben, als zielte sie auf den Himmel. Seebären – eine Robbenart, die vor hundert Jahren wegen ihres Fells fast ausgerottet war, sich nun aber erholt hat – bevölkerten die Decks der für immer gestrandeten Schiffe. Eine große Stille lag über dem kolossalen Wrack dieser alten Walfangstation, nur ab und zu hörte man ein klatschendes Aufschlagen vom Hafen her, wenn sich eine der Robben ins Wasser warf.

Ich hatte gehofft, auf dem Kreuzfahrtschiff, mit dem meine Frau und ich in die Antarktis fuhren, ein paar Vogelbeobachter zu finden, mit denen ich abends zusammensitzen und meine Beobachtungen vergleichen konnte. Aber unter den Passagieren schien es niemanden zu geben, der sich für die Vogelwelt interessierte. Zweifellos für die eindrucksvollen Landschaften aus Schnee und Eis, für das Meer und die Wale. Aber nicht für die Vögel. Vielleicht wäre es besser gewesen, dachte ich, wenn wir mit einem amerikanischen oder englischen Schiff gefahren wären, denn das Birdwatching ist in England und den USA ungleich populärer und verbreiteter als in Deutschland.

Einer der Passagiere war ein höflicher und netter junger Mann, der mit seinem Vater unterwegs war, und mit ihm verbindet sich eine Beobachtung, die dazu beitrug, dass ich diese Dinge zu Papier gebracht habe. Der Vater hatte die Angewohnheit, mit entschlossenem Gesicht in der Lounge, im Restaurant oder in der Bibliothek aufzutauchen, als müsse er sofort mit irgendjemandem ernste Dinge besprechen. Mit konzentriertem Blick unter heruntergezogenen Augenbrauen stürzte er herein, verlor aber nach nur wenigen Sekunden seine Zielstrebigkeit, blieb stehen und sah sich hilflos um. Manchmal kam dann sein Sohn auf ihn zu und führte ihn an seinen Tisch, wo sie sich mit einer dritten Person unterhielten. Der Sohn hatte eine sehr gewandte Art, sich mit aufmerksamem Gesicht während des Gesprächs mal seinem Vater, mal der anderen Person zuzuwenden. Er saß immer sehr aufrecht da. Wie gesagt, er war ein durch und durch netter Mensch.

Dieser junge Mann saß eines Tages an einem Tisch auf dem Deck des Schiffes und trank mit einer Bekannten Champagner. Der Tag war klar und voller Sonne, der Himmel in einem hellen Blau, und ich saß, wie immer mit dem Fernglas in den Händen, in der Nähe. Über uns waren Heizstrahler angebracht, sodass man es hier trotz der Kälte aushalten konnte. Vor uns lag ein Eisberg im Wasser, der in seiner Form dem Matterhorn ähnelte. Die Sonne stand tief hinter ihm, und durch die Lichtstreuung erschien er tatsächlich grün – nicht smaragdgrün, wie Coleridge in seinem Gedicht sagt, aber er schimmerte in einem schönen Blassgrün, das sich in den Falten und Einkerbungen verdunkelte.

Wir waren dicht unter einer strahlend weißen Küste an einer Insel entlanggefahren, um den Gletscher genauer sehen zu können, der mit zerklüfteter Stirn steil zum Meer abfiel, und jetzt drehte das Schiff ab und ließ die Insel hinter sich. Die im hellsten Weiß gleißende Küste fiel hinter der schäumenden Spur des Kielwassers langsam zurück und öffnete sich in einem weiten Halbrund, sodass man bei zunehmender Entfernung sehen konnte, dass wir uns in einer Bucht befunden hatten. Die bläulich schimmernden Berge wichen zurück, die am weitesten entfernten sanken unter den Horizont. Das Panorama, das sich hinter dem Heck weitete, war fantastisch. Die Kontraste stießen im Sonnenlicht hart aufeinander: das blendende Weiß des Eises unter dem Blau des Himmels, die Falten und Kanten der Gletscher mit ihren scharfen dunklen Schatten, das schwach violette Licht in den Spalten und Kavernen, das Grün und Blau des Wassers, das sich an den kantigen Abrissen des Landes mit schwarzen, feucht glänzenden Felsen brach, die aufstrahlenden Schaumkronen und die schneebedeckten Kuppen und Hänge der Berge dahinter.

Wie fast alle Passagiere hatte der junge Mann eine Kamera mit einem langen Teleobjektiv. Das Fotografieren hatte sich verändert, die meisten nutzten motorgetriebene Mehrfachaufnahmen, sodass bei jedem auftauchenden Wal, jeder Robbenoder Pinguingruppe, die in die Nähe des Schiffes kamen, ein sirrendes Dauergeräusch entstand, das sich wie ein Zittern in der Luft hielt. Der junge Mann warf einen Blick zurück auf das Panorama hinter uns, nahm die Kamera, die auf dem Tisch lag, ließ den Apparat losrattern, legte ihn dann zufrieden lächelnd zurück, griff nach seinem Glas und wandte sich wieder seiner Gesprächspartnerin zu. Er dachte offenbar, er »hätte« es – aber was hatte er? Er hatte gar nichts.