Zen und die Kunst der Vogelbeobachtung

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Zen und die Kunst der Vogelbeobachtung
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Der Augenblick, in dem man den Vogel sieht, hat etwas Einmaliges und zugleich etwas Meditatives – davon erzählt Zen und die Kunst der Vogelbeobachtung. Das Buch beginnt in der Antarktis und wendet sich dann den Landschaften zu, die bei uns für den Vogelbeobachter interessant sind: der Nordsee mit ihrem Watt, der Insel Helgoland, den Wildbächen in den Alpen und der Stadt, die immer mehr zur Zuflucht der Vögel wird.

Vögel sind etwas Magisches. Die meisten von ihnen sind schön oder sehen zumindest interessant aus, viele singen hinreißend, sie besitzen ein erstaunliches und noch immer nicht enträtseltes Orientierungsvermögen und – sie kännen fliegen, etwas, wovon der Mensch immer geträumt hat. Die Beobachtung dieser wunderbaren Wesen ist faszinierend, das Fernglas bringt sie dem Birdwatcher so nahe, dass er sie fast berühren zu können glaubt. Aber in diesem Augenblick, in dem man den Vogel sieht, wirklich sieht, liegt noch mehr: Er hat etwas Einmaliges, etwas Erregendes und zugleich etwas Meditatives. Der Beobachter ist ganz und gar konzentriert auf diesen Moment der Wahrnehmung, der alles Alltögliche beiseite schiebt und das Geplapper der Gedanken in seinem Kopf zum Schweigen bringt. Es geht dem Autor um das Erleben des Augenblicks, nicht um die Seltenheit eines Vogels. Auch der Anblick eines Graureihers, der mit langsamem Flügelschlag durch Licht und Schatten eines Waldrandes gleitet und dessen unvergleichliches Grau von Hell zu Dunkel changiert, ist unvergesslich.

»Das Erlebnis, den Vogel in seiner Schönheit und Lebendigkeit wahrzunehmen, ist wie eine Senkrechte in der Zeit. In dem Moment gibt es nichts anderes, du bist ganz im Hier und Jetzt.«

Arnulf Conradi

Über den Autor

Seit er im achten Lebensjahr ein kleines Fernglas geschenkt bekam, hat Arnulf Conradi Vögel beobachtet. Diese Leidenschaft hat ihn durch sein Leben begleitet. Er studierte in Kiel und Berlin, arbeitete als Lektor und Geschäftsführer bei claassen und bei den Fischer-Verlagen, gründete den Berlin Verlag. Danach arbeitete er als kultureller Berater im Kanzleramt und bei der American Academy in Berlin.

2009 gab er in der Anderen Bibliothek das große Werk des bedeutendsten deutschen Ornithologen, Johann Friedrich Naumann, heraus: Die Vögel Mitteleuropas. Conradi lebt in Berlin und in der Uckermark.

ARNULF CONRADI

ZEN UND DIE KUNST DER VOGELBEOBACHTUNG


Verlag Antje Kunstmann

Für Marianne, meine Mutter

(1915–1985)

Inhalt

I Die Antarktis

II Zen

III Die Seen | Die Uckermark

IV Zen, Natur, Lyrik | Bashō

V Die Nordsee | Sylt

VI Die Stadt | Der Grunewald

VII In den Bergen | Balderschwang

VIII Musik | Gesänge und Rufe

IX Der Fluss | Die Peene

X Die Insel | Helgoland

XI Das Glück des Anfangs

Danksagung

Anmerkungen

I DIE ANTARKTIS


South Georgia versank langsam hinter uns, während ich im Heck des Schiffes stand und auf den ersten Albatros dieser Reise wartete. Der Albatros ist halb Vogel, halb Mythos, in vielen Gedichten besungen, dem Menschen nahe wie sonst vielleicht nur der Schwan. Die Berge der Insel, die Shackleton einst auf seiner verzweifelten Wanderung überquert hatte, lagerten nun als flacher, rauchfarbener Schatten über dem Horizont. Das Wasser war ein dunkles Grün mit einigen weißen Schaumkronen, die gleißend auftauchten und gleich wieder versanken, und am Himmel zogen dicke, vom Wind getriebene Kumuluswolken mit dunkelgrauen, regenerfüllten Rändern über uns hinweg. Zwischen ihnen zeigten sich hier und da blaue Flecken am Himmel, und ab und zu trat die Sonne aus den Wolken und hellte das Grün der langen Wogen auf, ließ die Gischt auf ihnen erstrahlen. Der kraftlose Sonnenschein war ein blasses Gelb, das die Kälte der Luft eher betonte als milderte. Zwei riesige, fast rechteckig geformte, kastenartige Eisberge lagen schimmernd in ein paar Meilen Entfernung an Steuerbord, strahlend weiß, wo die Sonne sie traf, und mit grünlicher und blauvioletter Schattierung der zerklüfteten Kanten, wenn Wolken über ihnen standen. Ihre enorme Oberfläche war schneebedeckt, und sie erstreckten sich bis zum Horizont, flach und weit wie tausend Fußballfelder. Da, wo blauer Himmel über den Eisbergen stand, schien der Schnee einen Stich ins Blaue zu haben, als spiegelte er schüchtern den Himmel. Sie waren vom Schelf abgebrochen und würden nun als kleine, eisige Kontinente Jahrzehnte im kalten Wasser dahintreiben, bis sie in wärmere Breiten gerieten und abschmolzen. Einer von ihnen schien eine lange Nase vor sich herzuschieben, denn grünes Wasser brach sich schäumend weit vor seiner narbigen Stirn. Die kalte, klare Luft ließ alles näher erscheinen, als es war. Die Antarktis ist der trockenste, windigste und kälteste Kontinent der Erde – und fast menschenleer.

Ich stand hinten am Heck und beobachtete die schwarzweiß getüpfelten Kapsturmvögel, die sich dem Schiff seit South Georgia angeschlossen hatten. Es waren etwa ein Dutzend, die über unserem Heckwasser schnell hin und her schossen, kreisten und sich immer wieder kurz auf dem Wasser niederließen. Die weißen Flecken auf ihren schwarzen Flügeln bildeten ein scheckig durcheinandergehendes Muster aus kräftigen Schwarz-Weiß-Gegensätzen. Kopf und Nacken der Kapsturmvögel sind ganz schwarz, der Rücken aber und der Bürzel weiß, und auf diesem reinen Weiß zeichnen sich bis in den Flügel hinein tiefschwarze, hier und da hingesetzte Tupfer in ganz verschiedenen Formen ab. Wie auf einem japanischen Gemälde standen da feine ebenmäßige Striche nebeneinander, kleinere und größere Flecken, einige zusammenhängend, andere wie Inseln. Zwei schwarze Balken dort, wo die unteren Flügelkanten an den Körper stoßen, trennten den Rücken vom Bürzel. Der Schwanz war ein breiter tiefschwarzer Streifen. Von der Kehle an war der Bauch strahlend weiß. Ein auffallender und ein auffallend schöner Vogel.

Die Kapsturmvögel treiben sich auf dem ganzen südlichen Ozean herum, im antarktischen Winter weichen sie bis hinauf zum Äquator aus – selbst im Mittelmeer sind sie schon beobachtet worden – und kehren dann in der Zeit von September bis Oktober zu ihren Kolonien zurück. Sie machen mit steifen Schwingen ein paar schnelle Flügelschläge und segeln dann knapp über den Wogen dahin, ganz ähnlich wie unser Eissturmvogel im Norden. Auch ein paar Taubensturmvögel mit ihrer blauschwarzen Zeichnung waren dabei, die geschwungene schwarze Linie wie ein umgedrehtes »W« auf dem Rücken. Ein Schneesturmvogel, ganz weiß mit dunklem Auge und dunklem Schnabel, strich vorbei, interessierte sich aber offenbar nicht für das Schiff. Das alles war schon faszinierend genug, um einen Vogelbeobachter auf dem kalten Heck festzuhalten.

Das Schiff lief mit der gleichmäßigen, endlosen Dünung des Südatlantiks nach Südosten, auf die South-Sandwich-Inseln zu. Wir befanden uns in den Breiten der »Roaring Forties«, die für ihre furchterregenden Stürme bekannt sind. In der Zeit des Segels wurden hier viele Schiffe, die immer wieder versuchten, gegen den vorherrschenden Westwind um das Kap Hoorn herumzukommen, nach Osten verschlagen. Wochenlang kreuzten sie, bis der Wind umschlug, oder sie wurden zurückgetrieben und scheiterten im Sturm. Ein »Kap Hoorner« zu sein galt als Ehrenzeichen unter den Seeleuten der damaligen Zeit. Diese kalten Gewässer mit ihren gewaltigen, stets nach Südosten laufenden Wogen müssen viele Schiffer, die in den Weiten des Südatlantiks herumirrten, zur Verzweiflung gebracht haben.

Der Albatros glitt aus der Himmelsrichtung, in der wir South Georgia hinter uns gelassen hatten, aus Nordwesten, auf das Schiff zu – die langen, schmalen Schwingen regungslos, in etwa fünf Metern Höhe über dem Meer. Auf diesen Augenblick hatte ich gewartet. Durch das Glas konnte ich erkennen, dass es ein junger Wanderalbatros war, das Gefieder noch nicht makellos weiß wie beim ausgewachsenen Wanderalbatros, sondern gefleckt, mit dunkelbraunen Streifen an den Armflügeln, mit dichtem Schwarz an den Flügelspitzen, das, zunehmend weiß gesprenkelt, bis zur Hälfte der Flügellänge reichte. Die helle Tüpfelung der Schwingen nahm mit der Nähe zum Körper deutlich zu und ging dann in ein strahlendes Weiß über, das nur von einem einzigen dunkelbraunen Streifen unterbrochen wurde. Der rundliche, kräftige Körper selbst war ganz weiß, nur der Schwanz trug eine schwarze Endbinde, die von schmalen weißen Längsstreifen durchbrochen war. Die Endbinde ist das letzte Merkmal, das der junge Wanderalbatros verliert, ehe er als erwachsener Vogel ganz weiß wird. Nur ein schmaler dunkelbrauner Rand, der sich zur Flügelspitze hin verbreitert, zieht sich dann noch auf der Unterseite an der hinteren Kante des Flügels entlang. Das Auge war ein dunkler Punkt mit einem kleinen schwarzen Dreieck am hinteren Augenwinkel, die hellgrauen Kopffedern bildeten über ihm eine schräg nach oben gerichtete Strichelung. Von vorne gesehen trug dieser junge Wanderalbatros noch eine braune Binde um den kräftigen Hals, die bis in die Brust hineinreichte. Der große Schnabel war ein blasses Pink, die beigefarbenen Beine ragten im Flug hinter dem kurzen Schwanz heraus.

 

Er hatte keine Mühe, das Schiff einzuholen, obwohl er seinen Flug mit keinem Flügelschlag unterstützte. Er schwebte ruhig herein, wie von einer unsichtbaren Hand geschoben. Die Schnelligkeit, mit der er das Schiff, das ja nicht langsam war, erreichte, war erstaunlich. Und ihn herangleiten zu sehen war ein unvergesslicher Augenblick.

Ich kannte das Dahinschweben der Möwen an der Ostseeküste, wo ich aufgewachsen bin. Schon als Kind habe ich bewundert, wie sie – oft auch gegen den Wind – ohne einen Flügelschlag über mir dahinzogen. Ich kannte das Kreisen der Seeadler am hohen blauen Himmel über der Uckermark. Auch das Schweben des Mäusebussards über den Kiefernwipfeln von Brandenburg zusammen mit seinem wilden Schrei ist eindrucksvoll. Ich habe in Afrika Adler und Geier beobachtet, und in den Bergen Feuerlands habe ich den Kondor dahingleiten sehen. Der Albatros aber kam auf mich zugeschwebt, als trüge er eine Botschaft aus dem Herzen der Natur.

Dieses schwerelose Schweben ist Teil des evolutionären Wunders des Vogelflugs, der schon immer das Staunen und die Sehnsucht des Menschen geweckt hat. Ob es nun die kleinen Finken sind, die zwischen schnellen Flügelschlägen mit angelegten Schwingen dahinschießen, oder die unfassbar schnellen Schwalben und Mauersegler, die eleganten Raubvögel wie Milane oder Weihen oder die großen Segler wie die Geier und Adler in Afrika, der Kondor in Südamerika und der Albatros in den südlichen Breiten des Atlantik und Pazifik – der Vogelflug ist etwas, was die Dichter und Erzähler, aber auch die bloßen Beobachter immer schon inspiriert hat. Zu fliegen wie ein Vogel ist ein Menschheitstraum, der sich nie erfüllt hat.

Wenn man an der Nordsee im dünner werdenden Abendlicht auf einem Deich im Gras liegt und die Möwen und Limikolen über sich hinwegstreichen sieht und ihre Rufe hört, das Gefieder hell vor dem sich verdunkelnden Blau des Abendhimmels, dann spürt man etwas von dieser Sehnsucht. So möchte man auch dahintreiben, frei und leicht, nicht gekettet an die Erdenschwere. Vielleicht hat sogar der Impuls, Vögel zu beobachten, seinen tiefsten Grund in diesem Traum, diesem Wunsch, sie nachzuahmen und irgendwohin zu fliegen. Was für ein Gefühl muss es sein, die Erde unter sich zu sehen, die Wälder, die Seen, die Flüsse. Und wie grenzenlos ist die Freiheit der Vögel, sich zu bewegen, neue Routen zu fliegen und in fremden Landschaften zu landen. Denn die Vögel fliegen überallhin. Wenn man ihre Flugrouten betrachtet, ergeben sich ganz neue geografische Verbindungen, nicht nur große Entfernungen, die sie mit immer noch rätselhaftem Orientierungssinn überwinden, sondern auch seltsame, fast spielerische Umwege – Schleifen und Ausflüge, die der Logik und der Ökonomie der Kräfte zu widersprechen scheinen. So fliegt unsere Küstenseeschwalbe, um ein extremes Beispiel zu nennen, in den äußersten Süden der Erde (ich habe sie selbst in der Antarktis gesehen), um ausgerechnet dort, wo es am kältesten ist, zu »überwintern«. Damit nicht genug, fliegt sie die afrikanische Ostküste hinunter und wechselt dann nach Südamerika über, wo sie über Feuerland die Antarktis erreicht. Es gibt Ornithologen, die ernsthaft die These vertreten, das uralte Gedächtnis dieser Vögel habe eine Zeit gespeichert, in der die beiden Kontinente noch zusammenhingen oder zumindest dichter beieinanderlagen. Und die Surfbirds, die ich im Norden Kanadas, am Polarkreis beobachten konnte, fliegen die ganze nordamerikanische Pazifikküste hinunter, weiter an der südamerikanischen Küstenlinie hinab, um dann nach Westen abzubiegen und ein paar Inseln in den Weiten des Pazifik aufzusuchen. Wie sollte man sie nicht beneiden, nicht der träumerischen Sehnsucht nachgeben, so zu sein wie sie?

Der Vogelflug hat auch den Glauben der alten Völker an göttliche oder übersinnliche Zeichen und Botschaften angeregt. Vor großen Entscheidungen suchten die Auguren dieser Zeit Hinweise auf den Willen der Götter und das Schicksal der Menschen im Flug der Vögel. Die langen Ketten der ziehenden Vögel am Horizont wirken wie rätselhafte Schriftzeichen, wie eine Kalligrafie der Natur. Ich habe an klaren Abenden vor allem an der Ostküste der USA endlose und kaum einmal unterbrochene Reihen von fernen Vögeln gesehen, etwa auf Martha’s Vineyard oder auf den Outer Banks von North Carolina, nur Tupfer vor dem lichtgrauen Himmel – unendlich viele, die auf dem Weg nach Süden waren, ein Anblick, der selbst wirkte wie ein Traum. Aus der Ferne erscheinen sie wie eine Schrift der Natur, die niemand entziffern kann. Aber ihr Anblick ist Anlass genug, die Botschaften der Natur aufzunehmen, Botschaften, die uns aufrufen, sie zu schützen und zu erhalten.

Wenn man eine Landschaft liebt, sie immer wieder aufsucht – das Land am Meer, die Berge, die Seen der Uckermark –, verbinden sich mit ihr nicht nur der optische Eindruck, sondern auch die Laute, die man wahrnimmt, vor allem die Rufe der Vögel, die dort häufig vorkommen und die zum Symbol dieser Landschaften werden. Die Lachmöwe an der Ostsee etwa, der Schrei der Silbermöwe oder der Ruf des Austernfischers an der Nordsee, der Anblick des Seeadlers am hohen blauen Himmel über den Seen der Uckermark. Wie tief diese Verbindung geht, merkt man, wenn man etwa in einem Film den meckernden Ruf der Lachmöwe hört – die Assoziationen stellen sich fast sofort ein. Man glaubt, dort zu sein. Diese Rufe lösen nicht einfach nur Erinnerungen aus, sie versetzen einen zurück, ganz unwillkürlich, und sie sind immer auf schwer fassbare Weise mit Sehnsucht verbunden. Es ist etwas Zeitloses in den Rufen der Vögel. Stammesgeschichtlich sind sie sehr alt – sie stammen von den Reptilien ab. Wenn man den klagenden Ruf der Silbermöwe hört, weiß man, dass dieser Laut über dem Watt der Nordsee schon ertönte, als es noch keine Menschen gab. Dieses Gefühl der Zeitlosigkeit gehört auch zu der Empfindung, die man, wahrscheinlich unbewusst, in sich spürt, wenn man abends an der Nordsee am Watt entlanggeht. »Einsames Vogelrufen, so war es immer schon«, heißt es bei Storm in einem seiner schönsten Gedichte.1

Der Albatros ist der Vogel der Weite des Meeres, der endlosen Freiheit, der Eintönigkeit der dahingleitenden Wellen, der Gewalt der Stürme, die sich hier ungehindert entfalten können. In den vierziger, fünfziger und sechziger Breiten der Meere befindet sich sein Lebensraum, und der zieht sich um den gesamten Globus. Bis zu tausend Kilometer an einem Tag kann der Wanderalbatros zurücklegen, mit sehr geringem Energieaufwand. Offenbar ist es ihm möglich, die Flügelgelenke in Ellenbogen und Schulter (wenn man es beim Vogel so nennen darf) zu arretieren, sodass er keinerlei Energie verliert. Nach neueren Beobachtungen steigen die großen Vögel dann und wann in größere Höhen auf – bis zu zehn oder fünfzehn Meter –, woraus sie sich mit einer steilen Flugkurve und hinterher im allmählichen Sinkflug neue Energie holen, um dann wieder mit regungslosen Schwingen dahinzuschweben. Die Wissenschaftler haben es sogar geschafft, den Puls der Segler zu messen, und sie stellten fest, dass er beim dahingleitenden Albatros fast dem Ruhepuls entspricht. Das ist nicht weiter überraschend, wenn man weiß, dass der Albatros im Flug schläft.

Land betreten die Albatrosse nur, um sich fortzupflanzen. Wenn sie ein Junges haben – meist ist es nur eines –, wird es von den Alten so reichlich mit Nahrung vollgestopft, dass es schließlich schwerer ist als ein Elternvogel. Ist das Junge groß genug, um allein gelassen zu werden, gehen beide Eltern auf Nahrungssuche und kehren nur noch in Intervallen zum Nest zurück. Früher hat man gedacht, sie überließen das Junge ganz seinem Schicksal, aber das scheint nicht der Fall zu sein. Jedenfalls ist das Fett, welches das Junge angesammelt hat, überlebenswichtig, denn bei den seltener werdenden Besuchen der Eltern muss das Junge davon leben, bis es lernt, zu fliegen und selbst für seine Nahrung zu sorgen. Keine geringe Aufgabe für einen Jungvogel. Hat der Albatros kein Junges – und die Vögel ziehen höchstens alle zwei Jahre ein Küken auf –, lebt er ausschließlich in der Luft und auf dem Wasser. Und wenn die Elternvögel ein Junges großgezogen haben, lassen sie bis zu vier Brutperioden aus, um sich zu erholen. Sie schließen eine Partnerschaft fürs Leben, und sollte der Partner sterben, braucht der oder die Hinterbliebene sehr lange, bis er oder sie eine neue Verbindung eingeht. Es ist kein Wunder, dass sich Ornithologen, die den Albatros studieren, Sorgen um die Zukunft des gewaltigen Seglers machen. Die neuesten Zählungen zeigen nach einer gewissen Erholung in den Achtziger- und Neunzigerjahren wieder starke Rückgänge bei fast allen Albatrosarten, und man kann nur hoffen, dass dies eine vorübergehende Erscheinung ist. Liebt man die Welt der Vögel, muss man sich, so scheint es, immer Sorgen machen.

Die Kälte hier in der Antarktis hatte nichts Passives, sie fiel einen an wie eine Naturgewalt. Aber ich spürte sie nicht mehr, hatte auch jedes Gefühl dafür verloren, wo ich mich befand. Ich verschwand in dem magischen Gleiten des großen Vogels, der da langsam auf mich zukam. In der Beobachtung wurde ich für lange Minuten Teil seines Fluges, Teil dieser Leichtigkeit und Schönheit. Es war ein Jetzt, ein Augenblick, der sich tief einprägt – eine Senkrechte in der Zeit. Es war das, was man beim Vogelbeobachten unbewusst sucht, das Erleben eines Fluges oder der Anblick eines Vogels, auf den man lange gewartet hat. Man kennt das alles aus Bildern und Filmen, aber der reale Anblick, das Erleben, übersteigt immer jede Erwartung.

Der Anblick ist wie ein Stoß, und die Erfahrung geht durch den ganzen Körper – es ist offensichtlich kein nur zerebrales Ereignis, sondern wird sinnlich wahrgenommen, es erfüllt einen ganz und gar. Und die Aufgabe, die sich stellt, wenn man es erlebt, liegt darin, dieses Gefühl des sinnlichen Anstoßes möglichst zu verlängern, es für sich auf lange Zeit, vielleicht für das Leben fruchtbar zu machen. Man kann den Anblick eines Vogels nicht allein theoretisch vermitteln, indem man sagt, ich habe ihn gesehen, da und dort, und er sieht so und so aus. Das geht an der Unmittelbarkeit eines solchen Erlebnisses vorbei. Wenn man den Albatros sieht, ist man ganz bei dem Albatros und zugleich ganz bei sich. Da gibt es eine schwer zu erklärende Identität zwischen dem Sehenden und dem, was er sieht. Und von diesem Augenblick, diesem kostbaren Jetzt, geht eine große Ruhe aus.

Der Albatros zog an dem Schiff vorbei, flog in einem weiten Bogen um uns herum und ließ sich auf dem Wasser nieder. Offenbar hatte er mit seinem scharfen Auge irgendetwas Essbares auf dem Wasser gesehen und nahm es nun auf. Jetzt konnte ich den Kopf in Ruhe studieren und das Friedliche, Ruhige, das von seinem Gesichtsausdruck ausging, bewundern. Und nun sah ich auch den leichten Rosaton des Schnabels, von dem ich gelesen hatte. Lange trieb er in den Wellen so dahin, bis er schließlich mit einer gewaltigen Anstrengung den Körper aus dem Wasser hob und mit langem, platschendem Anlauf der breiten Füße wieder in sein eigentliches Element, die Luft, aufstieg. Sobald er eine gewisse Höhe, etwa zehn Meter, erreicht hatte, ging er in sein ruhiges Schweben über, flog mit regungslosen Flügeln ein paar Kurven und strich dann davon. Ich verfolgte ihn mit dem Glas, bis ich ihn im Dunstgrau des Horizonts verlor.

Es war nicht der erste Albatros, den ich sah. Neben einigen Schwarzbrauenalbatrossen, die ich in Südafrika von der Küste nördlich des Kaps der Guten Hoffnung aus beobachtete, habe ich zwei Albatrosse an einem sehr unwahrscheinlichen Ort gesehen – auf der Nordseeinsel Sylt. Ich war dort in der Nähe eines bekannten Restaurants am Strand entlanggegangen, um mich herum andere Spaziergänger, und ich war in Gesellschaft zweier Bekannter. Es war Ende April, kalt, und der starke Südwestwind trieb dicke Kumuluswolken weiß und grau schattiert über den blauen Himmel in Richtung Festland. Zwei ungewöhnlich große Vögel kamen von Südwesten her auf uns zugeflogen. Ich habe immer mein Fernglas bei mir, und ich blieb stehen und sah sie mir an, während sie noch auf den Strand zusteuerten. Dann drehten sie in einer einzigen, eleganten Bewegung ab und flogen nach Nordwesten wieder aufs Meer hinaus. Sie waren bis etwa siebzig Meter, so glaubte ich, an den Strand herangekommen. Ich erkannte sie sofort. Mollymauks, rief ich einem der Bekannten zu, während eine große Welle den Strand hinauflief und mir die Stiefel durchnässte. Mollymauk ist der ältere Name für den Schwarzbrauenalbatros. Die Engländer nennen alle mittleren Albatrosse »Mollymawks«, und diese Bezeichnung haben die Deutschen eine Zeit lang für den Schwarzbrauenalbatros übernommen. Ich hielt dem Bekannten das Fernglas hin und bat ihn aufgeregt, sich die Vögel anzusehen. Ich brauchte einen Zeugen, wenn ich die sensationelle Sichtung melden wollte, aber mein Bekannter war kein geübter Vogelbeobachter, kein »Birder«, und während er noch versuchte, mit dem Glas zurechtzukommen, waren die beiden großen Vögel schon zu weit weg, als dass man noch etwas hätte erkennen können.

 

Zu Hause, in der Wohnung, die wir gemietet hatten, begann ich zu telefonieren. Zuerst rief ich einen alten Bekannten auf Amrum an, den Buchhändler Quedens, der ein Kenner der Vogelwelt an der Nordsee war. »Sie haben Basstölpel gesehen«, sagte er mit großer Bestimmtheit. Ich war ein paar Monate zuvor in Irland gewesen und hatte vor der Westküste von Donegal Basstölpel beobachtet. Ich hatte sie sogar mehrmals gezeichnet. »Das waren keine Basstölpel«, sagte ich, »ich weiß, wie Basstölpel aussehen.« – »Sie haben Basstölpel gesehen«, sagte der alte Quedens mit norddeutscher Sturheit. Da war nichts zu machen. Auf einem DIN-A-4-Bogen begann ich dann, Telefonnummern aufzuschreiben: Beobachtungsstationen an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste, Bekannte, die dort wohnten und Vögel beobachteten. Ich besorgte mir sogar die Nummern von zwei Schiffen, die weit vor der Küste kreuzten, um die Bedingungen für Windparks zu untersuchen. Drei Tage verbrachte ich mit diesen Versuchen, jemanden aufzuspüren, der die Albatrosse gesehen hatte. Es waren etwa vierzig Gespräche. Den Bogen mit den Nummern und Adressen habe ich immer noch. Niemand hatte sie gesehen, und aus jeder Antwort ging die tiefe Skepsis hervor, die zuerst der alte Quedens so deutlich zu erkennen gegeben hatte. Schließlich gab ich auf.

Erst jetzt, im Jahre 2017, auch im April, las ich, dass im Rantumbecken auf Sylt und auf Helgoland ein Albatros gesichtet worden war – von so vielen Vogelbeobachtern, dass kein Zweifel mehr möglich war. Ein Schwarzbrauenalbatros. Meine Sichtung der beiden »Mollymauks« lag da schon zwölf Jahre zurück.

Ich sage nichts Neues, wenn ich behaupte, dass jede Beobachtung eines Vogels zu einer gesteigerten Wahrnehmung der Natur beiträgt. Jeder Vogelbeobachter wird bestätigen, dass der Anblick eines unbekannten oder seltenen Vogels die Zeit dehnt, die man in der Anschauung verbringt. Ich habe mal in einem Vogelbuch gelesen, dass der Verfasser, der, wie er selbst sagte, ansonsten nur ein mittelmäßiges Gedächtnis besaß, sich sofort an einen Ort erinnern konnte, wenn seine Frau ihm sagte, welchen Vogel er dort gesehen hatte. Ich bezweifle das nicht im Mindesten. Ich glaube, ich erinnere mich an jeden Ort, wo ich einen Eisvogel gesehen habe, dieses fliegende Juwel aus schimmernden Grün- und Blautönen. Der Anblick oder besser das Erlebnis, einen Albatros auf sich zufliegen zu sehen, prägt sich so tief ein, dass man ihn noch nach Jahren wieder aufrufen kann.

Die Vogelbeobachtung stärkt etwas in uns, was man das visuelle Gedächtnis nennen kann, aber nicht nur das – auch die Umgebung, in der man dieses Erlebnis gehabt hat, prägt sich ein, sodass auch kleine und scheinbar unbedeutende Dinge in der Erinnerung haften bleiben. Es ist ein schwer zu schilderndes Erleben, weil man es oft nicht bewusst registriert, sondern in ihm verschwindet, und wenn man nach einiger Zeit »erwacht« – meist, weil der Vogel weg ist –, findet man sich nur schwer zurecht. Es ist, als müsste man einen Traum abschütteln.

Die Begegnung mit der Welt des Eises war atemberaubend – eine Welt der Stille und des Sturms und ganz und gar unberührt vom Menschen. Dies war wahrlich eine der letzten Gegenden der Erde, die seit Jahrtausenden unverändert dalag, und man wollte unwillkürlich ein Stoßgebet zum Himmel schicken, dass es doch um Gottes willen so bleiben möge. Es gab hier eine unversöhnliche Natur, die trotz der Kälte und der Stürme von Leben wimmelte, wo die Robben und Pinguine jagten und auf eine unendliche Fülle von Fischen, Tintenfischen und Krebsen stießen, wo die Wale ihren uralten Wegen folgten wie einst die Elefanten in Afrika.

Ich verbrachte viele Stunden am Heck mit dem Fernglas in der Hand und beobachtete die Vögel, die das Schiff begleiteten. Ich sah noch ein paar Wanderalbatrosse. Wir glitten langsam an einer Kolonie von Schwarzbrauenalbatrossen auf einer felsigen Landzunge vorbei. Sie sind nicht ganz so groß wie die Wanderalbatrosse, die Spannweite ihrer Flügel erreicht »nur« zweieinhalb Meter. Ihr Bauch und die Kehle sind weiß, der Schwanz ist ebenso dunkelgrau wie der Rücken, und die Flügel sind von oben gesehen ein stumpfes Braun, das aus der Ferne natürlich schwarz wirkt. Von unten gesehen, haben die langen Schwingen nicht nur am hinteren Rand ein schwarzes Band, wie beim Wanderalbatros, sondern auch am vorderen, sodass das erste Bild, wenn man sich der Klippe mit den vielen kreisenden Vögeln nähert, ein scheckiges Gewirr aus Schwarz-Weiß ergibt, wie ein abstraktes Gemälde, das man erst allmählich aufschlüsselt. Die Schwarzbrauenalbatrosse wirken im Ganzen etwas plumper und kräftiger als die Wanderalbatrosse, weil sie einen gedrungenen, kurzen Hals haben, sodass es scheint, als säße der schwere Kopf direkt an den langen braunen Schwingen. Sie heißen Schwarzbrauenalbatrosse, weil sie einen schwarzen Streifen am Auge besitzen, der allerdings weniger eine Braue ist, die ja über dem Auge sitzen müsste, als ein durch das Auge gehender Schatten, der vor dem vorderen Augenwinkel ein breiter Flecken ist und sich hinter dem Auge dünn und lang zuspitzt und dann erst wie eine feine Braue in einem Bogen ausschwingt.

Jeder Vorsprung der schwarzen Felsen war von Schwarzbrauenalbatrossen besetzt, und die Luft war voll von ihnen. Hunderte zogen da ihre Bahn und kreisten um den Felsen, wie ich es früher einmal auf Helgoland und vor einer unbewohnten Insel an der französischen Küste gesehen hatte, wo die Basstölpel sich wie ein drehender weißer Nebel um die aufragenden Felsen legten. Ich hätte das Schiff gerne angehalten, aber das war natürlich nicht möglich. Später besuchten wir eine Schwarzbrauenalbatros-Kolonie. Die Vögel waren von den näher kommenden Menschen nicht weiter irritiert, und wir wurden mehrmals Zeuge, wie zärtlich und ausführlich die Pärchen sich begrüßten, wenn Männchen oder Weibchen hereingeschwebt kamen. Es war ein rührendes Ritual, das man auch von anderen Vögeln kennt, etwa den Störchen in meiner Heimat Schleswig-Holstein, bei denen jedes Wiedertreffen ebenso überschwänglich ausfällt. Es ist, als wollten sie sagen: Ja, ich bin’s, ich bin’s wirklich. Es handelt sich da um eine Art Überdetermination, damit auf keinen Fall ein Irrtum unterläuft. Nur dass die Störche vielleicht von einem zwei Stunden währenden Ausflug wiederkamen, während die Albatrosse manchmal erst nach Tagen zu ihren brütenden Partnern zurückkehren. Die Kolonie erstreckte sich über ein ganzes Plateau, das zu einer steilen Klippe aufstieg, von der die Albatrosse bequem losfliegen konnten. Denn das Starten und In-die-Luft-Kommen ist für die Albatrosse keine ganz einfache Geschichte. Auf dem Meer brauchen sie einen langen, platschenden Anlauf, und auf dem flachen Land haben sie größte Mühe. Am besten geht es, wenn sie eine über dem Meer aufragende Klippe in der Nähe ihrer Kolonie haben, wo sie sich in den Aufwind fallen lassen können.

Viel hört man von den Albatrossen nicht, außer einem allgemeinen, vielstimmigen Murren in der Kolonie. Aber es gibt den Ruf eines Albatros, der die ganze Wildheit der Antarktis und des südatlantischen Ozeans in sich zu schließen scheint. Das ist der Schrei des Rußalbatros, dieses eleganten, schwarz und dunkelbraun gefärbten mittelgroßen Albatros, und ich hörte ihn sowohl an der Küste von South Georgia als auch auf den Shetlandinseln. Der Kopf dieses Albatros ist ganz schwarz, und schon daran erkennt man ihn sofort. Der Rücken ist ein helleres Grau, die Flügel sind dunkelbraun, wirken aber aus der Entfernung oft schwarz. Der schwarze Schnabel hat, wenn man den Rußalbatros im Glas genau betrachten kann, eine seitliche Rille im unteren Schnabel, die deutlich blau schimmert. Es gibt eine Unterart, die in nördlicheren Breiten lebt, und die besitzt auch so eine Rille, aber die ist orangefarben oder gelblich. Wie das kommt, weiß niemand. Hinter dem Auge des Rußalbatros steht ein Halbkreis weißer Federn, der dem Vogel einen stets erstaunten Ausdruck gibt.