Hybridtheater

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Der Körper

Teilhabe an kultureller Produktion ist die neue Ware. Mit ihr verbindet sich in den digitalen Foren eine neue Performance von Ehrlichkeit, die vor allem auf einem offenen Geben und Nehmen beruht. Es geht, in den Worten Vogelgesangs, um die Beglaubigung von Beziehungs-Transaktionen. Auf der Grundlage von Marktregeln entstehen im digitalen Raum neu designte Online-Beziehungen zwischen Performer*innen und Publikum. Wer bezahlt hat, darf hier etwas fordern: Das ist der Payback-Imperativ sozialer Foren im digitalen Raum. Für die Influencer-Figur in Vogelgesangs Stück Es ist zu spät erzeugt das eine kraftvollere, „echtere“ Wirkung und Beziehung.

Seit Jahren erforscht Arne Vogelgesang den digitalen stream of performance von Influencer*innen, rechten Propagandist*innen, Pick-up-Artists und deren verblüffend ehrlichem Hunger nach Klicks und Likes, der diversen devianten Gesinnungen und Praktiken eine Bühne eröffnet. Dies sind in der Regel abweichende Verhaltensweisen, die bizarr oder gefährlich sind und ihre Abweichung von der Norm virtuell, aber nicht unwirksam ausleben. Vogelgesang performt diese Verhaltensformen digitaler Gemeinschaften mit seinem eigenen Körper nach und macht sie dadurch für sich erfahrbar. Das Netz erscheint so als eine Plantage von Devianz – es erzeugt anonymisierte Abweichungsenklaven und ist ein Weltreich der Sezession und der Singularitäts-Aktivist*innen. Hier, im virtuellen, staatenlosen Raum, entstehen die freien Republiken von Menschen, die wirklich probehandeln, im Guten wie im Schlechten, und oft eine Vorhut späterer Entwicklungen sind.

Die Neuerfindung des Menschlichen im sogenannten Web 2.0, das auch das Soziale 2.0 hervorgebracht hat, erschafft digitale Beziehungen, die oft sozialer und auch körperlicher sind, als man es ihnen aus kritischer Perspektive oft zugesteht. Solche koproduzierenden Beziehungen im Theater zu etablieren kann, so Arne Vogelgesang, eine Trainingssituation für Verwertungsformen sein, die in Zukunft auch im Theater wichtiger werden. Insofern sind unsere drei Gespräche tastende Versuche, mit Vogelgesangs Erfahrungen Theater auch dort zu entdecken, wo wir es normalerweise nicht suchen und erwarten. Seine hybride Struktur folgt hybriden Erfahrungen – der wilde, von devianten Lebensformen bevölkerte Sozialraum des Netzes produziert Figuren und Lebenshaltungen, die vital und abgründig, attraktiv oder politisch gefährlich sind, die narrative Systeme, kollektive Codes und Muster offenbaren, die Vogelgesang über Wochen und Monate faszinieren und in diese virtuellen Lebenswelten bannen. Zugleich spielt er nicht dort, sondern mit dem, was er dort findet, auf einer Bühne, die materiell ist und ein alter Ort körperlicher Repräsentanz.

Die Tiefenstruktur unserer gesellschaftlichen Gegenwart, die sich im Sozialen 2.0 nackter, fantastischer und vielleicht wahrer zeigt als in der Welt der Klarnamen und Institutionen, ist ganz sicher einer der Gründe für die Beutezüge im Netz, die Arne Vogelgesang seit fünfzehn Jahren umtreiben. Dass er sie nicht einfach rückübertragen kann in die literaturbasierten Theaterstrukturen, sondern dafür selbst hybride Systeme baut, eher bastelt, ist das Zukunftsweisende seiner Arbeit. Und mit dem Alien-Blick, mit dem er auf unsere Gesellschaft im Netz schaut, der politischen Sorge, die ihn dabei umtreibt, schaut er zugleich auf die traditionelle Theaterroutine und ihre Meister*innen am Regiepult, deren Zentralperspektive und Verschwinden nach der Premiere er auflöst. Es ist dieser Übergang vom Text zum Skript (im Sinne von Protokoll), das er entwickelt, um diese Live-Begegnung mit dem Leben außerhalb der Bühne, aber auch mit dem Leben auf der Bühne zu ermöglichen, die in 200 oder 300 Jahren vielleicht erinnert werden wird als Spielform eines Theaters, das noch nicht loslassen konnte vom Echtraum. So wie auch der Körper noch nicht hybrid war, kein Cyborg, sondern der Leib eines Performers, der das Theater selbst als Netz und Plattform nutzte.

1Ruedi Widmer, Ines Kleesattel (Hg.): „Scripted Culture. Kulturöffentlichkeit und Digitalisierung“, Zürich 2018, S. 14.

2https://www.bukrate.com/quote/1777290 (Übersetzung durch den Autor).

3Wolfgang Welsch: „Die Kunst und das Inhumane“, in: „Grenzen und Grenzüberschreitungen, XIX. Deutscher Kongress für Philosophie 2002“, Berlin 2004, S. 736.

4Katharina Anzengruber, Anita Moser, Arne Vogelgesang (2020): „Kunst mit politischem Material dann interessant, wenn es neue Formen von Theatralität enthält“, in: „p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten #11“, abrufbar hier: https://www.p-articipate.net/kunst-mit-politischem-material-dann-interessant-wenn-es-neue-formen-von-theatralitaet-enthaelt/

5„Der Begriff der Mise en Scène“, so Jörn Schafaff, „ist in diesem Zusammenhang auch insofern bedeutsam, als er, wie Beate Söntgen erläutert, ‚die Aktivität des Herstellens und Einrichtens im Akt des Darstellens, aber auch das Hervortreten des Szenischen selbst [betont], während der Begriff der Inszenierung mit der negativen Konnotation des Scheins behaftet ist.‘“ Beate Söntgen zitiert nach: „Mise-en-Scène“, in: Jörn Schafaff, Nina Schallenberg, Tobias Vogt (Hg.): „Kunst-Begriffe der Gegenwart“, Köln 2013. Hier zitiert in: Jörn Schafaff: „Rirkrit Tiravanija. Set, Szenario, Situation“, Köln 2018.

Arne Vogelgesang und Thomas Oberender

Spiele, von denen wir nicht wissen, dass wir sie spielen
Gespräch über This Is Not a Game

Arne Vogelgesang recherchiert seit mehreren Jahren intensiv zu rechten Netz-Communitys, die sich auf digitalen Plattformen wie Reddit oder 8chan organisieren, austauschen und einen gemeinsamen Nenner in verschwörungstheoretischen, demokratiefeindlichen und misogynen Ideologien finden. Die Vernetzung und Politisierung von Gruppen wie den Reichsbürger*innen oder dem QAnon-Netzwerk hat die Grenzen des digitalen Raums längst verlassen und wirkt in die analoge Gegenwart zurück: Attentate, Demonstrationen und Angriffe auf staatliche Institutionen wie das Washingtoner Kapitol oder den Berliner Reichstag im Zuge der Corona-Proteste sind die medienwirksame Spitze eines Eisberges, der sich aus den Echokammern und Filterblasen des Netzes und der sozialen Plattformen erhebt. Arne Vogelgesangs Interesse an diesen Gruppen und Phänomenen reicht über deren politische Implikationen hinaus: Er betrachtet sie aus einer theatralen Forscherperspektive. Denn Rollenspiel, Inszenierung, Narration und ästhetische Transgression sind Kategorien, ohne die ein Phänomen wie QAnon, das einem überlebensgroßen, labyrinthischen Live-Rollenspiel gleicht, nicht auskommt. Gerade der Spielcharakter ist für viele dieser Gruppen zentral, unabdingbar und gemeinschaftsstiftend: Sei es die aggressiv-misogyne „Flirttechnik“ der sogenannten Pick-up-Artists, die nach einer konkreten Handlungsanleitung agieren, oder die Schnitzeljagd der Q-Anhänger*innen nach der Super-Weltverschwörung, die sie weiter in wahnhafte Fiktion treibt – Phänomene wie diese lassen sich als alternative Theaterkonzepte begreifen und lösen unser herkömmliches Verständnis von „Bühne“ auf. In Vorträgen und Bühnen- und Film-Essays arbeitet sich der Regisseur und studierte Ethnologe Arne Vogelgesang an diesen games ab und sucht nach den Strukturen eines Phänomens, das ohne die Einbettung in den Plattformkapitalismus und die digitale Feedback-Kultur nicht existieren könnte.

Thomas Oberender: Ihr Film beziehungsweise Ihre Performance-Lecture This Is Not a Game beschreibt ein Spiel, das kein abgegrenztes Spielfeld hat, sondern dessen Spielfeld die Welt als Ganzes ist. Das Spiel beziehungsweise Online-Netzwerk QAnon spielt mit der Welt, wie wir sie kennen. Aber es sagt gleichzeitig auch, dass wir sie nicht wirklich kennen. Wir kennen nur eine für uns errichtete Kulisse. Für viele Menschen entsteht so eine massive Unwirklichkeitserfahrung, denn alle, die dieses Spiel spielen, sehen die Welt mit den Augen des Spiels, und für das Spiel ist die Welt ein riesiger Fake, der leider eben nur ein paar Eingeweihten auffällt. Aus der Perspektive der Verschwörungstheorie wird mit uns gespielt. Das ist sehr interessant. Für die QAnon-Anhänger*innen sind die vielen ausgewählten Details oder Vorgänge aus der Welt der täglichen Nachrichten nur die Camouflage einer dahinter verborgenen Wirklichkeit, die sie dank ihrer Recherchen als Mitspieler*innen enthüllen. Sie sind die Erleuchteten. Wir sind die Dummen, die den großen Fake noch nicht durchschaut haben. Aber zum Glück gibt es diesen anonymen Absender von Informationen namens Q, der regelmäßig Fragen veröffentlicht, die uns die Augen öffnen sollen. Sie beschreiben in Ihrer Arbeit die Welt von QAnon als eine Art Live-Action-Role-Play (LARP), das auf dem relativ entlegenen Imageboard 4chan begann und dann nach „draußen“ gelangte, in das „Internet für alle“, die sozialen Netzwerke und das realgesellschaftliche Leben. Für die Spieler*innen-Community wurde Trump so zum Märtyrer in der echten Welt, weil er in der Mythologie ihres Spiels den deep state einer verbrecherischen Elite angreift. Diese Community ist zunehmend auch in Deutschland präsent. Man könnte sagen, dass QAnon, das mit seiner Fiktion die gesamte Wirklichkeit „verzaubert“, das größte Gegenwartskunstwerk oder Massentheater unserer Zeit ist. Aber seine Wirkung in der realen Welt, nachdem es sich im Internet als eine Bewegung radikalisiert hat und herüberschwappt, ist äußerst fatal – es spaltet die Gesellschaft und fängt an, selber zur politischen Kraft zu werden, siehe Attila Hildmann oder die versuchte Reichstagserstürmung im Zuge der Corona-Proteste. Mein Eindruck am Ende Ihres Filmes war: Vielleicht ist QAnon das faszinierendste Spiel, das Menschen sich je ausgedacht haben, aber es ist auch im selben Moment das gefährlichste. Sie haben sich wie ein Feldforscher in diese Szene hineinbegeben, was auch gut passt, denn Sie haben Ethnologie und Theaterregie studiert. Und auch schon vor dem QAnon-Tribe haben Sie sich mit anderen Selbstdarstellungswelten im Netz beschäftigt, denen von Rechtsextremen oder Influencer*innen – alles Figuren in einer gescripteten Welt voller Ambiguität und Rollenspiele, aber eben auch politischer Implikationen. Seit wann betrachten Sie diese netzbasierten Szenen als Theater?

 

Technologische Räume

Arne Vogelgesang: Ich habe eine klassische Theaterregie-Ausbildung am Max Reinhardt Seminar absolviert, an dem das Telos der Ausbildung allerdings nicht unbedingt das war, was ich später getan habe beziehungsweise heute mache. Was mich relativ früh interessiert hat, waren technologische Räume, also Umgebungen durchaus auch im zeitlichen Sinne, zu denen beziehungsweise in denen menschliche Körper sich zu den von ihnen geschaffenen Medien und Maschinen verhalten müssen. Ich glaube, dazu kam es, weil das die Realität war, in der ich zu dieser Zeit bereits größtenteils lebte – ich war auch schon vor meinem Studium relativ viel mit dem Computer und dem Internet beschäftigt.

TO: Wann war das?

AV: Ich habe von 2002 bis 2006 studiert. Intensiv im Internet bewegt habe ich mich seit Ende 1999. Vorher, gegen Ende meiner Grundschulzeit, gab es schon Computerspiele. Das heißt, digitale Medien waren ein prägender Teil meines Lebens, aber es hat gedauert, bis dieses Interesse ins Theater gedriftet ist. Wahrscheinlich dauert es beim Theater sowieso immer ein bisschen länger, bis die Sachen dort ankommen. Bereits meine ersten Stücke hatten sich mit Technologie und bildgebenden Verfahren, Videobildern und dem Nachspielen von Videodokumenten beschäftigt. Aber erst 2013 gab es einen Moment, in dem ich dachte: „Augenblick mal, ich bin unglaublich viel im Internet unterwegs, die ganze Zeit. Ein signifikanter Teil meines Lebens spielt sich dort ab und das Netz ist ein realer Erfahrungsraum für mich. Warum ist das eigentlich nicht die Grundlage von dem, was ich im Theater mache?“ Dieser Moment hat einiges verändert.

Man kann ja immer nur von dem erzählen, was man erlebt oder zur Kenntnis nimmt – was weder völlig fremd noch völlig eigen ist, sondern gerade anders genug, um Interesse zu wecken. Das erste direkt auf das Internet bezogene Stück, das ich mit der Unterstützung von Kolleg*innen gemacht habe, war daher ein Stück über Romantik im Online-Zeitalter, insbesondere über die Frage, was die Männerfigur in der Online-Romantik auszeichnet. Singlebörsen oder Pick-up-Coachings waren damals schon ein großes Thema, und ich wollte dieses Material unbedingt collagieren. So entstand das erste Stück in einer Genealogie von Arbeiten, die sich im Wesentlichen nur noch auf Internetmaterial und Software stützten, um sich daraus selbst zu bauen.

TO: War das eine Form von Lecture-Performance oder der Versuch, diese Internet-Erfahrungen in eine klassische Theatersituation zu übersetzen?

AV: Ich glaube, es war zu wenig narrativ und kommentierend, um eine Lecture-Performance zu sein. Es war wohl eine Art Monolog-Performance. Ein Kollege war dabei – Christoph Wirth, der mit seinem Kollektiv auch bei einem Projekt in der Reihe „Immersion“ bei den Berliner Festspielen zu Gast war. Er hat den Sound für die Performance gemacht und Musik geschrieben, die dem Stück einen guten Sog gab. Und Marina Dessau, eine Kollegin, mit der ich schon seit Schulzeiten auf Bühnen stehe, hat mich performativ unterstützt. Ich habe in dieser Collage versucht, das, was mir an romantischem „Text“ im Netz entgegenkam – Post-Dada-Poesie von Spam Bots, Motivationstexte, Ratschläge oder schlecht übersetzte Hook-ups von Werbemails –, einfach runterzusprechen und zwischendurch Pick-up-Coachings mit dem Publikum zu veranstalten.

TO: Was ist das – ein Pick-up-Coaching?

AV: Ein Pick-up-Artist (PUA) ist ein selbsternannter „Verführungskünstler“. In dieser heterosexuellen Subkultur betrachten es Männer als Kunst, so viele Frauen wie möglich aufzureißen und als Kerben auf dem eigenen Waffenschaft zu verbuchen. Es gibt Dating Coaches, die in den Pick-up-Foren versuchen, die hetero-romantische Interaktion zu schematisieren, vermeintliche Frauentypen zu klassifizieren und Manipulationstechniken zu vermitteln, die Adepten angeblich sicher zum Erfolg führen. Eine sehr skurrile, aber auch nicht ungefährliche und weitgehend misogyne Szene, die sehr viel Output im Internet hat. Es gab und gibt natürlich Heerscharen von jungen Männern, die gerne wissen wollen, wie sie im Flirt erfolgreich sind und entweder eine Freundin kriegen, wenn sie nicht allzu hartherzig sind, oder möglichst viele Frauen aufreißen, wenn sie sich ein bisschen empathieloser geben.

Destruktion als Therapie

TO: Das ist Michel Houellebecqs Roman Ausweitung der Kampfzone – nicht in der depressiven oder melancholischen Variante, sondern als Wettbewerb.

AV: Dieser ist auf jeden Fall aggressiv, aber mit Übergängen in die depressive Variante. Teile der PUA-Szene sind mit eingeflossen in das, was man heute Incel-Kultur nennt – „involuntary celibates“ –, quasi der nicht erfolgreiche Teil im Wettbewerb. Bei den Pick-up-Artists drückt sich die Frauenverachtung im Erfolg ihrer Behandlung des Objekts „Frau“ aus. Und bei den Incels im Misserfolg, für den man wiederum Frauen verantwortlich macht. Beide Szenen greifen ineinander.

TO: Das erinnert mich an den Film In the Company of Men von Neil LaBute, der Ende der neunziger Jahre entstanden ist. In dessen Zentrum steht die Wette von drei Geschäftsleuten, ein Mädchen zu verführen, das blind ist. In seinem Stück The Shape of Things hat LaBute ein paar Jahre später gezeigt, wie eine Kunststudentin aus einem jungen Mann, der Adam heißt, physisch und psychisch einen anderen Menschen macht, eine lebende Skulptur, und diesen Prozess als ihr Abschlussprojekt an der Kunsthochschule dokumentiert. Das war 2003, ungefähr zu jener Zeit, von der Sie sprechen. Vielleicht haben diese Spiele ja etwas mit einer Gesellschaft zu tun, die damals das Ende der Geschichte gefeiert hat, den Neoliberalismus und die Bereitschaft, alles als Ressource zu begreifen – nur wird das hier ins Seelische gewendet. Ich wusste nicht, dass diese Verführer-Szene eine eigene Subkultur im Netz hat.

AV: Ja, der Neoliberalismus war und ist begeistert vom Machtpotenzial angewandter Spieltheorie. Eines der berühmtesten Bücher in der Pick-up-Szene heißt tatsächlich The Game, weil die Flirtinteraktion und der Umgang von Männern mit Frauen als ein Spiel verstanden wird, dessen Regeln man lernen kann – mit dem Effekt, dass Frauen, die an solche „Künstler“ geraten, natürlich nicht wissen, dass sie gerade deren Spielgegenstand sind. Das ist ein Machtpotenzial, das mich interessiert hat: Wenn eine Partei sagt, „So, ich spiel jetzt mal und das ist mein Bezug zur Wirklichkeit“, und die andere Partei das nicht weiß, kann das sehr unangenehme Folgen haben.

TO: Die historische Variante dieser Haltung ist wahrscheinlich Choderlos Laclos’ Spiel der Verführungen in Gefährliche Liebschaften. In der zugespitzten Bearbeitung von Heiner Müller sind seelischer Sadismus und Takt, Feingefühl und Esprit die Mittel der Verführung und erschaffen eine Welt, in der alles Zeichen und Beute ist. Bei Laclos verbindet sich das stark mit dem Ancien Régime. Naive Liebe war für die Hofgesellschaft nur etwas für Bauern und Kinder – was natürlich auch nicht stimmt.

AV: Sartres Schmutzige Hände zeigt die bürgerliche Variante davon, in der zumindest beide Parteien spielen, aber auch nicht rauskommen aus dem Spiel. Pick-up-Artists sind vielleicht die sehr, sehr runtergekochte und einseitige Variante dieses Spiels.

TO: Sie sehen in jeder Frau die Trophäe.

AV: Mehr als Preise können sie nicht sehen.

TO: Solche Beobachtungen zeigen, dass Sie in Ihren Arbeiten oft eine ethnologische Perspektive einnehmen. Sie sind mit intensiven Feldstudien verbunden, auch wenn das Feld bei Ihnen oft das Netz ist. Am Anfang Ihrer Regiearbeit stand, wenn ich das recht verstehe, also das Thema der Liebe in Zeiten des Internets.

AV: Wahrscheinlich das klassische Einstiegsthema im Theater, ja. Das Thema der Liebe und ihre Metamorphose im Netz. Zu Beginn war das noch sehr allgemein angelegt, aber nach dem ersten Feedback habe ich das auf jene hetero-männliche Perspektive zugespitzt, die zum großen Teil auch meine ist: Wir haben unserer Collage noch eine Version des SCUM-Manifests von Valerie Solanas hinzugefügt, sehr eingekürzt, mit Google übersetzt und in Tagebuchform umgeschrieben. So entstand eine Art Selbstbekenntnis, und all der Hass, den Solanas den Männern in ihrem Text entgegengeschleudert hat, wurde bei uns quasi zu einem Dokument männlichen Selbsthasses. Wir haben das Ganze für das Publikum als „Meditation über den inneren Mann“ gerahmt. Letzten Endes ging es darum, was vom heterosexuellen Mann noch übrig bleibt, wenn man sich ansieht, in welcher Form er unter diesen Internetbedingungen der Partner*innensuche – wenn man es überhaupt noch so nennen will – auftaucht. Es war ein sehr destruktives Stück. Destruktion als Therapie, wenn man so will.

Parakünstlerische Praktiken von Netzakteur*innen

TO: Schon bei Ihrem ersten Projekt war zu sehen, was auch Ihren jüngsten Film This Is Not a Game prägt: Dieser Übergang eines „Spiels“ – man könnte auch sagen einer Geisteshaltung oder Verhaltensweise –, das sich zunächst in der digitalen Kultur artikuliert und dann in die physische Welt übertritt. Auch bei Ihrer Analyse von QAnon zeigen Sie, wie ein Spiel von Insider*innen-Plattformen wie 4chan oder 8chan zunächst in das „Internet für alle“ wechselt und schließlich in das Alltagsleben hier draußen.

AV: Ja, das war thematisch das, was mich die nächsten Jahre begleitet hat. Und die Frage, wie wir diese Kultur und auch das politische Material aus dem Netz im Theater darstellen können. So hat sich relativ schnell eine Mischung aus Aufklärung und dem Versuch, das Ganze künstlerisch zu behandeln, ergeben. Wozu auch zählt, dass wir das, was von den genannten Akteur*innen im Netz betrieben wird, ebenfalls als eine para-künstlerische Praxis begreifen. Sehr oft besprechen Internet-Handelnde ihr Tun oder das der anderen in den Metaphern von Theater, Darstellung oder Repräsentation – all das macht es doppelt interessant, dieses Material ins Theater zu tragen.

TO: Theater funktioniert ja wie ein gigantischer Staubsauger, für den alles interessant ist, was Gegenwart irgendwie transzendiert. Das können alte Texte sein, mit denen man die Gegenwart über die Schulter wie durch einen Spiegel anschaut, oder Formen, Wissen und Sprachen fremder Herkunft, die einen zur Übersetzung zwingen. So hat das Theater auch Sie aufgesaugt und gesagt: Das sind Nachrichten aus einer anderen Welt, obwohl wir mittendrin leben. In This Is Not a Game kristallisiert sich Ihre jahrelange Arbeit in einer künstlerischen Form und mit einem Vokabular heraus, die Sie den Spielwelten der Internet-Communitys entlehnen und nicht der traditionellen Theaterbühne. All das prägt Ihren Bericht über die Menschen und ihre Gebräuche, die Sie im Netz studiert haben, auch formal. Wen treffen Sie im Netz?

AV: Ich glaube, mein Hauptaugenmerk liegt weder auf den Menschen noch auf den Figuren, sondern eher auf Beziehungen und Handlungen im weitesten Sinne, die ja auch Theaterstoff sind. Mich beschäftigt die Frage, was Leute da gerade tun, in dieser neuen virtuellen Wirklichkeit. Denn was die einen tun, könnten auch andere tun – es kann Vorbild und damit politisch wirksam sein. Handlung und Handelnde lassen sich aber natürlich nicht ganz klar trennen.

TO: Das ist wie auf der Bühne oder im Spiel. Wer ist das, den wir da beobachten?

AV: Genau. Was ist das? Spielen sie oder spielen sie nicht, und wenn ja, was für ein Spiel spielen sie und wie begreifen sie sich darin? Das findet man wenn überhaupt erst im Laufe der Zeit heraus. Die ersten Arbeiten, die wir 2014 mit politischem Material gemacht haben, stützten sich stark auf Momente von Selbstinszenierungen in YouTube-Videos, also auf Dokumente von Menschen, die sich vor die Kamera setzen und dann anfangen, Propaganda zu machen. Das waren einerseits Dschihadist*innen, andererseits Leute, die sich selber Patriot*innen und „Islamkritiker*innen“ nennen – das Milieu also, das später mit Pegida auf die Straße ging. Es waren die theatralen Settings ihrer Propaganda, für die wir uns interessiert haben. Wobei dieses Material schon in den Jahren vor 2014 entstanden ist, wenn auch nicht sehr viel früher – so alt sind die sozialen Medien noch gar nicht. Sie kommen einem nur so alt vor.

 

TO: Das stimmt.

AV: Ich habe neulich überlegt, seit wann es eigentlich YouTube gibt. Die ersten politischen YouTube-Materialien, die ich gesammelt habe, stammen ungefähr von 2008.

TO: Seit wann gibt es „Reichsbürger*innen“? Man könnte sie ja für eine Art Spielgruppe halten, wenn ihr Treiben nicht diesen fanatischen und demokratiefeindlichen Aspekt hätte, der kein Spiel ist. Wann haben sie damit begonnen, Bauernhöfe zu kaufen, Vereine zu gründen und eine informelle Staatsstruktur aufzubauen – mitten unter uns? Das muss doch ein Vorspiel gehabt haben? Als Sie sich mit dieser Bewegung beschäftig haben, sind Sie wahrscheinlich auch in deren digitale Vorgeschichte zurückgekehrt, ähnlich wie bei Ihrer Arbeit über QAnon.

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