Serva I

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Aus der Reihe: Serva Reihe #1
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Serva I
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Arik Steen

Serva I

Götteropfer

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Der 1. Tag

Der 2. Tag

Der 3. Tag

Der 4. Tag

Der 5. Tag

Der 6. Tag

Der 7. Tag

Impressum neobooks

Prolog

Hafenstadt Airavata,

im Lager der Manis vor den Toren der Stadt

Acht Jahre vorher ...

Seit gut drei Tagen regnete es in Strömen. Die Erde war durchnässt und der sonst so trockene Boden hatte sich vollgesogen wie ein Schwamm. Müde stapfte ein manischer Krieger über den schlammigen Boden. Sein Wachdienst war beendet und er hatte nur noch ein Ziel: das wärmende Feuer an dem seine Gruppe lag.

«Da bist du ja, Eydir!», murmelte eine dunkelblonde Kriegerin. Ihre Hand drehte einen Spieß über dem Feuer. Ein knuspriges Hühnchen war daran aufgesteckt. Der Geruch stieg dem Krieger mit dem Namen Eydir direkt in die Nase: «Ja, da bin ich. Bei den Göttern. Kann es nicht aufhören zu regnen? Wir holen uns noch alle den Tod. Und das nicht durch das Schwert oder einen Pfeil eines Shiva!»

«Gottverdammt, so schnell stirbst du nicht!», meinte die Kriegerin und drehte in Seelenruhe das gut riechende Federvieh.

Eydir starrte den Vogel für einen Moment lang an. Eigentlich, so dachte er sich spöttisch, hatte es das Vieh gar nicht so schlecht. Es hatte das Leben hinter sich. Er hatte keine Ahnung, ob seine Seele nach dem Tod ebenfalls hinauf zur Ewigen Sonne gefahren war um dort neben Gott Regnator zu speisen. Aber verflucht, es hatte es wenigstens warm. Natürlich waren die Gedanken nicht ernst gemeint. Auch Eydir hing an seinem Leben. Aber dieser sinnlose Krieg und dieses Ausharren während der Belagerung von Airavata, der nördlichen Hafenstadt der Shiva, nein, das war nichts, was das Leben bereicherte. Er hatte sich den Krieg ohnehin anders vorgestellt. Heldenhaft und abenteuerlich. Aber er war keins von beiden. Es war einfach nur ein mieser sinnloser Kampf zweier Völker. Einer der beiden Könige würde gewinnen. Aber all diese Krieger, egal auf welcher Seite sie standen, sie waren allesamt Verlierer. Das war ihm längst klar.

«Setz dich, Bruder!», meinte Thores. Er war ein Jahr älter als Eydir. Und im Grunde war er der Grund, warum sie in den Krieg gezogen waren. Er hatte immer von der großen Schlacht geträumt. Und vor allem davon als Held zurückzukehren. Doch Eydir war längst klar, dass man als Held erst einmal eines tun musste: zurückkehren. Wer als Draufgänger ganz vorne mitkämpfte und den Helden spielte, der hatte im Grunde auch keine Chance ein Held zu werden. Sang und klanglos ging er auf dem Schlachtfeld unter, lag im Staub und war einer von vielen. Nein, der romantische Gedanke eines heldenhaften Ruhms blieb ohnehin jedem Soldaten verwehrt.

«Wo habt ihr überhaupt diesen Vogel her?», fragte Eydir mit hungrigem Blick auf das Federvieh. Das Fett tropfte ins Feuer, es zischte und roch angenehm verbrannt.

«Gestohlen. Bei einem Bauern!», meinte Thores. Er war bekannt dafür auch mal selbstständig das Lager zu verlassen und die Gegend zu plündern. Schon seit gut zwei Monaten lagen sie hier vor Airavata. Keiner der manischen Soldaten wusste, dass der König gefallen war. In der Seeschlacht um die Hasting Inseln. Die Schlacht um die wertvolle Inselgruppe, auf der man sehr viel Gold und Silber finden konnte, war dennoch für die Mani gewonnen. Prinz Leopold, der einzige Sohn des Königs, hatte es zu Ende gebracht. Die Shiva im Mittleren Meer hatten kapituliert. Der baldige König Leopold hatte den Krieg für beendet erklärt. Doch die Nachricht war noch nicht nach Airavata zu den Truppen vorgedrungen. Und so hielt man hier tapfer die Stellung. Und auch in der Stadt der Shiva wusste man noch nichts vom Ende des Krieges.

Eydir setzte sich zu der Kriegerin. Er hatte sie hier kennengelernt. Eine manchmal etwas derbe Frau, die mit Flüchen nicht gerade sparte. Sie hieß Elena und war eine ausgezeichnete Kämpferin. Das hatte sie oft bewiesen. Aber sie war auch zynisch und teilweise wirkte sie verbittert.

«Haben wir noch Bier?», fragte Eydir.

Elena schüttelte den Kopf: «Nein. Und das wird es auch so schnell nicht geben. Seit gut einer Woche ist kein Schiff mehr von Manis hierhergekommen um uns zu versorgen. Gerade so als hätten sie uns vergessen!»

«Gestern hatten wir noch Bier!», murmelte Eydir.

Sein Bruder Thores nickte: «Weil ich noch drei Krüge versteckt hatte. Aber die sind in der Zwischenzeit leer!»

«Und gottverdammt!», sagte Elena: «Die Krüge wären viel schneller leer gewesen, wenn ich sie nicht ständig heimlich nachgefüllt hätte. Hast du es nicht herausgeschmeckt? Ich habe mich drei Mal draufgesetzt und mich erleichtert!»

Eydir schaute sie entgeistert an, fasste sich aber dann schnell. Natürlich machte sie nur Witze. Ziemlich schlechte sogar, aber dafür war sie bekannt.

«Du kannst mal an meinem Schwanz lutschen, du Luder!», schimpfte Thores. Er fasste sich an den Schritt.

«Versuch es ruhig. Ich beiße ihn dir ab, Arschloch!», konterte sie und nahm dann den Vogel vom Feuer.

Eydir schüttelte genervt den Kopf. Seit gut einer Woche stritten die beiden sich immer wieder. Die lange Belagerungszeit zehrte an den Nerven. Der Regen gab ihnen den Rest.

Elena wollte gerade anfangen den Vogel zu zerlegen, als ein gellender Schrei die Nachtruhe störte. Sofort sprangen alle zu den Waffen. Das gebratene Hühnchen flog in den dreckigen Schlamm.

«Bei den Göttern. Sie greifen an!», schrie Eydir erschrocken und starrte auf die heranstürmenden Soldaten der Shiva.

«Lasst uns diese dreckigen Bastarde in die Ewige Verdammnis schicken!», schrie Elena. Mit ihrem Schwert in der Hand rannte sie auf ihren ersten Gegner zu und streckte ihn nieder.

«Du kennst die Regel? Wer die wenigsten Shiva erledigt, der zahlt die erste Runde, wenn wir zurück in unserer Hauptstadt Hingston sind!», schrie Thores laut.

Eydir schlug mit seinem Schwert den Arm eines Gegners ab. Mit Entsetzten stürzte dieser auf die Knie. Vollgepumpt von Adrenalin war er gar nicht in der Lage zu verstehen, dass sein Arm fehlte. Und er würde es auch gar nicht mehr mitbekommen. Eydir trennte ihm sauber den Kopf ab.

«Bist du dabei?», fragte Thores wie beiläufig.

Eydir schaute sich wutschnaubend um. Immer mehr feindliche Soldaten kamen angerannt: «Bei was?»

«Na, bei unserer Wette!»

«Fick dich!», rief Eydir zurück. Nein, auf solche Spielchen hatte er keine Lust. Hier ging es ums Überleben.

Es war ein trauriger Kampf, der sich knapp eine halbe Stunde hinzog. Dann wurden die Shiva zurück in ihre Stadt gedrängt. Viele Soldaten verloren dabei ihr Leben. Sinnlos wurde der Tod dieser Männer vor allem am nächsten Tag, als eine Taube im Lager der manischen Soldaten ankam. Vom König höchstpersönlich. Der Krieg war vorbei.

Der 1. Tag

1

Ewiges Eis,

Land der Ragni

Für Hedda und ihren Bruder war es völlig normal. Unentwegt wanderte die Sonne entlang des Horizontes und ging nie unter. Noch nie hatte es einen Zeitpunkt in ihrem jungen Leben gegeben, wo sie die Sonne einmal nicht gesehen hatten. Noch nie hatten sie völlige Dunkelheit erlebt. Hier in der kalten Landschaft aus Eis und Schnee gab es keine Nacht. Hier in Ragnas, dem nördlichsten Teil der bislang bekannten Welt des Planeten Ariton. Es war immer Tag. Dennoch hatten sie einen Tagesrhythmus und richteten sich dabei genauso nach der Sonne, als wenn es Tag und Nacht gäbe.

Es war ein klarer heller Tag. Keine Wolke und kein Dunst vernebelte die Sicht. Die Sonne strahlte aus dem Süden. Ein leichter Wind wehte vom Westen. Die Luft war trocken, was die nordische Kälte angenehmer erscheinen ließ.

«Du glaubst mir nicht?», fragte der Junge und trat wütend mit dem Fuß auf. Der lederne und fellbesetzte Schuh machte ein dumpfes Geräusch, als er auf dem Eis auftraf.

Seine Schwester lachte: «Doch, ich glaube dir schon!» Hedda strich sich eine Strähne ihres schwarzen Haares aus ihrem Gesicht und verbarg diese unter der Kapuze. Sie war eine unglaubliche Schönheit unter den Ragni. Wie alle in diesem Land hatte sie makellose elfenbeinfarbene Haut, schwarzes Haar und stahlblaue, wache Augen. Das waren die wichtigsten Merkmale für dieses Volk.

«Nein, du glaubst mir nicht!», sagt Hodi sauer. Er mochte es nicht, wenn seine ältere Schwester ihn wie einen kleinen Jungen behandelte. Auch wenn er das zweifelsohne war.

Hedda packte ihren Bruder an den Schultern: «Natürlich glaube ich dir. Ganz ehrlich. Großvater hat mir die Geschichte schon so oft erzählt!»

 

«Die Sonne wandert nicht am Horizont entlang», meinte Hodi: «Sie kommt auf der einen Seite hoch, wandert dann direkt über die Köpfe hinweg und auf der anderen Seite wieder hinunter. Und dann wird es stockfinster! Ist das nicht verrückt?»

«Man nennt das die Nacht!», sagte Hedda: «Glaub mir. Großvater hat mir die Geschichte wirklich schon so oft erzählt. Ich kann es gar nicht mehr zählen!»

«Aber ich frage mich, wohin die Sonne dann geht?»

Hedda grinste und warf die Fische in den großen ledernen Beutel auf dem Schlitten: «Ich weiß es nicht. Aber sie kommt ja immer wieder.»

«Aber, wenn sie verschwindet», meinte Hodi, «dann sieht Regnator doch die Völker nicht mehr? Und er kann sie dann auch nicht beschützen?»

«Die Völker dort!», flüsterte Hedda: «Die sehen nicht nur einen Gott. Sie sehen in der Nacht alle sieben weitere Göttersitze!»

«Wirklich?»

«Ja!» sagte sie, trotz ihrer behandschuhten Hände verschloss sie geschickt den Beutel mit den Fischen: «Wenn die Sonne, der Sitz unseres Gottes Regnator, verschwindet, dann erscheinen Monde. Insgesamt gibt es sieben davon.»

«Was sind Monde?», fragte Hodi irritiert. Er packte fein säuberlich das Angelzeug zusammen. Er wusste, dass sein Vater nach der Ankunft sehr genau kontrollierte, wie der Zustand der hölzernen Spule, der Schnur aus Lindenbast und des Angelhakens war. Vor allem der Lindenbast war teuer und musste mit viel Aufwand in der Hauptstadt besorgt werden.

«So etwas wie Sonnen. Nur nicht so hell!», meinte Hedda. Sie hatte selbst noch nie einen Mond gesehen und auch sie wusste nicht, dass die Leuchtkraft jedes einzelnen Mondes wiederum durch die Sonne kam.

«Sie scheinen und dennoch wird es dunkel?», fragte Hodi aufgeregt.

«Ja, weil sie nur niedrige Götter sind!», meinte seine Schwester und legte die Leine des Schlittens um ihren Bauch. Wie auch auf der Herfahrt zog sie den Schlitten alleine hinter sich und ihr Bruder ging dahinter.

«Warum kommen diese Götter nie zu uns?»

Hedda zuckte mit den Achseln: «Ich weiß es nicht. Aber sie sind für uns da. Ganz gewiss.»

«Vielleicht ist es ihnen bei uns zu hell!», grinste der Junge und zog sich seine Schneeschuhe an. Zwei runde hölzerne Ringe in denen ein Netz aus Leder eingeflochten war. Es diente dazu die Auftrittsfläche im Schnee zu erhöhen, damit man weniger einsank: «Wenn ich mal groß bin, dann möchte ich in den Süden!»

«Was willst du dort?», fragte Hedda kopfschüttelnd.

«Die Nacht sehen!», murmelte Hodi verträumt: «Und Gras!»

«Gras?»

«Großvater hat von großen grünen Flächen erzählt!»

Hedda lachte: «Er erzählt gerne und viele Geschichten. Nicht alles ist wahr!»

«Aber die großen grünen Flächen schon!», sagte Hodi. Er schaute Richtung Norden und erblickte als erster den Mann, der auf sie zukam. Gut hundert Meter war er noch von ihnen weg: «Da kommt wer!»

Hedda schaute sich um und sah die Gestalt. Sie nahm ihren Bruder am Arm: «Lass uns zurückgehen!»

«Willst du ihn nicht fragen, was er hier will?», fragte Hodi.

Hedda schüttelte den Kopf: «Du weißt, was Vater über Fremde gesagt hat, oder?»

«Wir sollen mit keinem sprechen!», meinte ihr Bruder: «Aber vielleicht benötigt er Hilfe oder will wissen, wohin er gehen muss!»

«Er sieht nicht aus, als bräuchte er Hilfe!», meinte Hedda und ging los. Das Seil zwischen ihr und dem Schlitten spannte sich. Das hölzerne Transportmittel setzte sich in Bewegung.

«Wartet ihr beiden. Wartet auf mich!», hörte man den Mann schreien. Seine Stimme war deutlich zu hören. Der Wind kam günstig aus Norden und trug jede Silbe klar zu ihren Ohren. Der Schall ließ sich von der strömenden Luft förmlich tragen.

«Hör nicht auf ihn!», meinte Hedda und blieb für einen Moment lang stehen. Sie schaute hinüber zu dem Fremden, der immer näherkam.

«Er benötigt unsere Hilfe!», sagte Hodi: «Sonst würde er nicht nach uns rufen. Vielleicht hat er sich verirrt!»

«Dann soll er uns zur Siedlung folgen!», erwiderte seine Schwester und stapfte weiter: «Aber wir reden nicht mit ihm!»

Immer wieder drehte sich Hodi um. Der Abstand zwischen ihnen und dem fremden Wanderer verringerte sich nicht, aber er wurde auch nicht größer. Er folgte ihnen bis zu der kleinen Siedlung Tornheim, in der Hedda und ihr Bruder wohnten.

Gut dreißig Familien lebten auf der felsigen Anhöhe in Häusern aus Stein. Nur wenige Siedlungen in Ragnas hatten Steinhäuser. Viele Bewohner der nordischen Gegend außerhalb der großen Hauptstadt waren Nomaden und lebten in Zelten oder Iglus. Vor gut zwanzig Jahren hatte der König der Ragni befohlen mehrere Siedlungen aus Steinhäusern zu errichten. Tornheim war eine davon.

«Geh du voran!», meinte Hedda: «Wir müssen die Dorfbewohner informieren, dass ein Fremder kommt! Das kannst du schon mal tun!»

Hodi nickte. Rasch zog er sich die Schneeschuhe aus und verschwand dann in einer Türe.

Man darf sich Tornheim nicht als Siedlung vorstellen, bei der verschiedene Häuser in bestimmtem Abstand zueinanderstanden. Vielmehr bestand das Dorf aus einer großen gemeinschaftlichen Halle in der Mitte, die mit den Häusern der einzelnen Familien verbunden war. Acht Schmale Gänge führten von diesem zentralen Haus sternförmig weg, durch die man in die kleineren Häuser gelangte. Zwischen diesen Gängen gab es immer vier dieser kleineren Gebäude. Insgesamt kam Tornheim neben der Haupthalle also auf zweiunddreißig weitere Häuser. In dreißig davon lebten die Familien, zwei weitere waren gemeinschaftliche Vorratshäuser. So war es möglich selbst bei widrigsten Umwelteinflüssen zwischen den Häusern zu wechseln. Das zentrale Haupthaus war der Mittelpunkt der Siedlung und des dörflichen Lebens. Im Endeffekt wie ein überdachter Dorfplatz.

Der junge Ragna rannte schnurstracks durch den langen Gang an insgesamt jeweils vier Familienhäusern zu seiner Linken und seiner Rechten vorbei und direkt in die Haupthalle.

Einige Frauen waren dabei Kleider zu nähen. Hellhäutige Ragni mit schwarzen Haaren, die sie meist offen und lang trugen. Ein paar wenige Frauen hatten graue oder gar weiße Haare, weil sie schon älter waren. Die schwarzen glatten Haare waren jedoch typisch für eine junge Ragna.

Eine weitere Frau legte in einen der acht Öfen, die sich jeweils zwischen den Gängen an den Seiten der Halle befanden, Holz. Die vier Familien des rechten Ganges neben den Holzöfen waren jeweils gemeinsam dafür verantwortlich, dass das Feuer ihres Kamins nicht ausging.

Hodi beachtete die Frauen nicht, sondern ging schnurstracks an den großen runden Tisch in der Mitte. Es gab mehrere Tische, er jedoch war der größte und nur den Männern vorbehalten. Ein paar Ragni saßen dort und unterhielten sich.

«Ein Fremder!», rief Hodi laut: «Er kommt aus dem Norden!»

Die Männer standen sofort auf. Es war äußerst selten, dass jemand Tornheim besuchte. Und wenn, dann waren es keine Fremden, sondern Boten des Königs oder Händler aus der Hauptstadt Gunnarsheim, dem Königssitz. Beide würde der junge Ragna jedoch als solche erkennen.

Die Ernährung der Siedler in Tornheim bestand hauptsächlich aus Fisch. Der Fang war mühevoll. Zwar lag Tornheim direkt am Meer, doch das war zugefroren. Eine bis zu knapp ein Meter dicke Eisschicht trennte das Meerwasser von der Oberfläche. Das Eis isolierte jedoch auch das darunterliegende Wasser in der Weise, dass das Meer darunter nicht weiter einfror. So war die Schicht des sogenannten Packeises über dem Meer immer gut einen Meter dick. Außer an Stellen wo es Meeresströmungen gab. Dünner als einen halben Meter war das Eis allerdings nie. Wer an die reichen Fischbestände heranwollte, musste sich einen Zugang schaffen. Hierzu schlug man Wuhnen ins Eis. Löcher, die man mit einem Eispickel mühevoll täglich offenhielt.

Zwanzig Fische hatte Hedda gemeinsam mit ihrem Bruder gefangen. Eine recht ausgiebige Beute. Ihr Vater würde stolz auf sie sein. Seit dem Tod ihrer Mutter nahm die junge Ragna eine wichtige Rolle ein und musste viel Verantwortung übernehmen. Für die Familie. Für ihren Vater und ihren Bruder. Sie war die Frau im Haus, obgleich sie selbst eigentlich sehr jung war.

Hedda nahm den Beutel mit den Fischen. Sie wollte gerade hineingehen, als der Fremde plötzlich neben ihr stand: «Sei gegrüßt, junge Dame!»

Sie schaute ihn erschrocken an: «Wer seid Ihr?». Sie betrachtete den Mann von oben bis unten. Er hatte keine fellbesetzte Kleidung, sondern trug einen ledernen Anzug, der mit Schafswolle ausgekleidet war. Der Fremde war definitiv kein Ragna.

«Ich bin auf der Durchreise!», meinte der Mann und schaute sich Hedda genauer an. Sie hatte ihre Kapuze nun nach hinten gezogen und ihr wunderschönes Gesicht kam zum Vorschein: «Du bist Hedda, richtig?»

Sie nickte überrascht: «Woher kennt Ihr meinen Namen?»

«In ganz Ragnas spricht man von der Schönheit der Tochter von Loros!», sagte der Mann.

Sie wurde rot: «Verzeiht, mein Herr, dass wir nicht gewartet haben!», entschuldigte sie sich.

Er schüttelte den Kopf: «Es ist hier Brauch keinen Fremden dort draußen im Eis zu begrüßen oder sich ihm zu nähern, es sei denn er ist verwundet. Und ihr habt mich nach eurer Sitte zu eurer Siedlung geführt. Das ist Gastfreundschaftlichkeit genug!»

«Ihr seid kein Ragna!», meinte Hedda. Ihre stahlblauen Augen fixierten den Mann. Er hatte kurzgeschorenes Haar und einen Vollbart. Kein einziger Ragna trug je einen Bart und das Haar wurde nie kürzer als bis zur Schulter geschnitten.

«Ich bin ein Mani!», sagte der Fremde.

Es war der erste Mani, den die junge Ragna sah. Ihr Großvater hatte viel vom Land Manis erzählt. Von den stolzen Männern und Frauen, die wohl eines der am weitesten entwickelten Völker ausmachten. Ihr Großvater hatte einige Zeit in einer der Städte dort gelebt.

Die Türe zur Siedlung ging auf und vier Ragni erschienen. Darunter auch Loros, der Stammeshäuptling von Tornheim und Vater von Hedda und Hodi.

«Geh hinein!», befahl Loros seiner Tochter.

«Ihr seid der Bürgermeister dieser Siedlung?», fragte der Mann aus Manis.

Loros schüttelte den Kopf: «Wir haben keine Bürgermeister, so wie Ihr es kennt. Ihr seid ein Mann aus Manis, nehme ich an. Ich bin der Häuptling dieser Siedlung!»

«Es kommt aufs Gleiche raus!», sagte der Fremde: «Mit dem Unterschied, dass unsere Dorfvorsteher gewählt werden. Ihr seid es sicherlich nicht!»

Loros verneinte: «Nein! Das bin ich in der Tat nicht. Was treibt Euch hierher? Wir haben nicht häufig Gäste.»

«Ich bin auf dem Weg nach Gunnarsheim!», meinte der Mann im ledernen Anzug.

Der Stammeshäuptling schaute ihn verwundert an: «Woher kommt Ihr? Bis nach Gunnarsheim seid Ihr gut drei Wochen zu Fuß unterwegs. Und auf dem direkten Weg kommt keine Siedlung mehr.»

«Deshalb wollte ich euch bitten meine Vorräte auffüllen zu lassen! Ich brauche Angelzeug. Und wenn ihr habt etwas Fett!»

Loros schaute ein wenig missmutig drein. Doch dem Fremden zu misstrauen war vermutlich falsch. So alleine war er keine Gefahr. Deshalb nickte er: «Gut. Ihr könnt es haben!»

«Ich bezahle euch auch!», meinte der Fremde aus Manis: «Ich habe Gold- und Silbertaler!»

«Das ist gut!», sagte Loros. Für die Bewohner der Siedlung waren die Taler eine einfache Möglichkeit in Gunnarsheim, der Hauptstadt der Ragni, Waren zu bekommen: «Kommt herein. Ihr könnt euch in der Haupthalle ausruhen!»

«Du vertraust ihm, Papa?», fragte Hodi und riss am Ärmel seines Vaters.

«Warum nicht?», Loros schaute dem Fremden hinterher. Dieser folgte den anderen drei Männern ins Innere von Tornheim.

«Hedda hat ein ungutes Gefühl!», meinte der Junge.

Sanft kniff der Häuptling seinem Sohn in die Wange: «Deine Schwester macht sich immer irgendwelche Gedanken. Mach dir keine Sorgen. Der Mann ist allein. Er kann uns nichts tun!»

2

Xipe Totec,

Hauptstadt der Nehataner

Am anderen Ende der bekannten Welt von Ariton lebte das Volk der Nehataner. Weit weg von den im Norden lebenden Ragni. Südlich der großen Wüste Gory. Viele glaubten, dass die Ragni auf der einen Seite von Ariton waren und die Nehataner auf der anderen Seite dieser Welt. Das war im Grunde falsch, denn weiter südlich gab es das tatsächliche Gegenstück zum Land Ragnas, wo es ebenfalls nur Eis und Schnee gab. Und ewige Dunkelheit. Aber auf keiner bekannten Karte des Jahres 799 war dies verzeichnet. Noch nie war einer derart weit in den Süden vorgedrungen. Allgemein war die Welt noch nicht komplett erforscht. Auch, was auf der anderen Seite des Planeten war, wusste niemand. Auch nicht, ob es dort noch weiteres Leben gab.

 

Die Nehataner waren oft von großer, kräftiger Statur. Ihre Hautfarbe war von sehr dunkler, fast schwarzer Farbe. Die Frauen, meist füllige Damen, trugen langes dickes Haar. Die Männer scherten ihre Haare in der Regel recht kurz oder sogar ganz ab. Für viele andere Völker waren die Nehataner grobschlächtige Riesen. Barbaren, die sich gerne prügelten und literweise Wein tranken. Händler, die das Land der Nehataner besuchten, erzählten von großen Festen, wo man riesige Ochsen briet und sich gegenseitig zum Spaß prügelte. Wo Frauen mit nacktem Oberkörper vor den Männern tanzten und es immer wieder zu öffentlichen sexuellen Ausschweifungen kam. Die Händler übertrieben natürlich des Öfteren mit ihren Darstellungen um ihren eigenen Geschichten noch mehr Würze zu verleihen. Aber vieles war wahr. Die Nehataner waren ein grobschlächtiges Volk.

König Atlacoya war einer der kräftigsten Männer in der gesamten Welt. Der gut zwei Meter große Herrscher des schwarzen Volkes, so wurden sie von den anderen Völkern meist genannt, saß in seinem Thronstuhl. Vor ihm kniete eine junge Nehatanerin und besorgte es ihm mit dem Mund. Sie war eine Sklavin aus einem kleinen Dorf. Ihr Vater schuldete dem Königreich die Abgaben von zwei Jahren und so hatte der König kurzerhand die Tochter in Zahlung genommen.

«Atlacoya, ich muss mit dir reden!», sagte ein Mann, der neben dem König stand und das bizarre Spiel mit anschaute, nun aber nicht mehr schweigen konnte. Es brannte ihm etwas gewaltig auf der Seele, das spürte man. Der Mann, der ebenfalls nur einen Lendenschurz trug, sah dem König verdammt ähnlich. Und das nicht ohne Grund. Chantico war nicht nur der höchste militärische Führer der Nehataner, sondern auch der Bruder von König Atlacoya. Allerdings war er nicht ganz so kräftig und durchtrainiert.

«Siehst du nicht, dass ich beschäftigt bin?», stöhnte der Herrscher unter dem Einfluss der weiblichen Liebkosung seines männlichen Geschlechts.

Chantico schwieg und starrte auf die Szene vor sich. Immer wieder glitten die Lippen der jungen Sklavin über den Schaft seines Bruders.

«Nimm sie dir von hinten, während sie mich bläst!», meinte Atlacoya gönnerisch. Er hatte die Augen geschlossen. Sein kahlrasierter schwarzer Schädel mit den breiten Wangenknochen und der platten Nase lehnte am Thron. Mit seinen kräftigen Armen, die von gewaltigen sichtbaren Adern durchzogen waren, hielt er sich an der Armlehne fest. Sein Oberkörper war nackt, was nicht untypisch für die Nehats war. Bis auf den Lendenschurz trugen sie in der Regel keine Kleidungsstücke. Die Frauen hingegen trugen lederne Kleider. Doch diese vor dem König kniende Frau war komplett nackt.

Chantico schüttelte stumm den Kopf. Er hatte keine Lust die Spielchen seines Bruders mitzuspielen. Auch er, als der höchste militärische Führer von Nehats, konnte sich alle Frauen nach Belieben nehmen. Egal ob verheiratet oder nicht. Das war das gute Recht der königlichen Familie. Allerdings gab es dabei ein kleines Problem. Chantico fand Frauen in keiner Weise sexuell attraktiv. Er bevorzugte die jungen, nackten Leiber von zierlichen Männern. Richtig ausleben konnte er diese Neigung nur schwer. Denn jegliche gleichgeschlechtliche Liebe war bei den Nehatanern verpönt.

Chantico schaute zu, wie sein Bruder zum Höhepunkt kam. Er sah wie dieser seinen dicken Phallus tief in die Kehle der jungen Sklavin trieb und abspritzte. Die Nehatanerin hustete und würgte. Sperma rann an ihren Mundwinkeln herab und tropfte auf den kalten Boden vor dem Thron.

«Hast du es dann?», fragte der militärische Führer genervt.

Sein Bruder, der König, grinste: «Ja!» Er gab der Sklavin einen Wink um ihr zu verdeutlichen, dass sie sich zurückziehen sollte. Diese wischte sich den Mund ab und verschwand dann zügig.

«Herrgott, Bruderherz. Deine Armee steht auf dem Platz des Krieges bereit und du hast nichts Besseres zu tun, als es dir von einer jungen Sklavin besorgen zu lassen.»

Atlacoya stand auf. Sein schlaffes Geschlecht wurde wieder unter dem ledernen Lendenschurz verborgen und der König streckte sich. Der zwei Meter Hüne ging langsam die Stufen vom Thron herunter und sein Bruder folgte ihm. Dann meinte Atlacoya: «Bruderherz. Das ist gut. Ich werde meine Ansprache halten und dann könnt ihr losziehen!»

«Du bist dir also sicher?», fragte Chantico: «Du willst gegen die Pravin ziehen?»

«Wir werden uns nehmen, was uns zusteht!», nickte der hünenhafte König: «Wir werden uns das fruchtbare Land an der Küste nehmen!»

«Nun!», meinte sein Bruder: «Meine Armee steht bereit. Also warte nicht länger. Halte deine Rede!»

«Meine Armee!», betonte der König mahnend. Er wusste, dass Chantico sich als Führer mit der Armee sehr stark identifizierte. Aber er war «nur» der eingesetzte General. Jederzeit austauschbar.

«Deine Armee, Bruder, deine Armee!», nickte der Feldherr.

Der Platz des Krieges hatte seinen Namen vom zwanzigjährigen Krieg gegen die Shiva. Gut hundert Jahre war das schon her. Keiner der beiden Völker war im Grunde als Sieger aus den Schlachten gegangen. Allerdings hatten die Shiva die Western Insel für sich beansprucht. Eine Insel auf die der damalige König der Nehataner gut verzichten konnte.

Viele hatten ihr Leben verloren. Atlacoyas Urgroßvater hatte den Platz danach erbaut und ihn zur Erinnerung an den Krieg so genannt.

Dreitausend Männer füllten den Platz mitten im Zentrum von Xipe Totec, der Hauptstadt der Nehataner. Darunter waren zweitausend Schwertkämpfer, fünfhundert Bogenschützen und fünfhundert Reiter. Bis auf wenige junge Krieger, die noch in der Ausbildung waren und die wenigen Einheiten, die die Städte und die Häfen bewachten, war das die gesamte Armee der Nehataner. Chantico hatte entschieden keine Reserven in den Städten zurückzulassen. Seine Offiziere hatten ihm davon abgeraten. Jeder Feldherr musste eine Reserve bilden, egal was ihn mit seiner Armee erwartete. Aber Chantico plante lediglich eine mobile Reserve, die unmittelbar in seiner Nähe war. Er wollte nicht alle Truppen gleichzeitig in Pravin einmarschieren lassen, sondern einen Teil an der Grenze stationieren und später nachrücken lassen. Was im Endeffekt völlig überzogen war. Die Pravin, so berichteten Späher, hatten in dem schmalen Landstreifen an der Küste ohnehin nur gut fünfhundert Mann stationiert. Insgesamt hatte die Armee der Pravin gerade mal zweitausend Mann und die meisten waren im östlichen Teil des Landes stationiert. Ein großes Gebirge machte eine schnelle Mobilisation der Truppen an der Küste entlang schlichtweg unmöglich. Die Einheiten aus der Hauptstadt der Pravin mussten durch die große Sandwüste. Es würde Wochen benötigen, bis sie den Küstenstreifen, auf den es die Nehataner abgesehen hatten, erreichen würden.

Hundert Treppen führten vom Platz des Krieges hinauf zum Vorplatz des Königspalastes. Ein gewaltiges monströses Bauwerk aus grob gehauenen sandfarbenen Steinen, die man im nahegelegenen Gebirge im südlichen Ausläufer der Wüste in den Steinbrüchen gehauen hatte. Die Nehataner waren vor allem für ihre erfahrenen Steinmetze bekannt. Der königliche Palast war ein Meisterwerk der Architektur. Viele Sklaven waren nötig gewesen um dieses Monstrum zu erschaffen.

Atlacoya stand ganz oben auf dem Vorplatz seines Palastes. Stolz stand er da. Der Hüne von einem Mann, von dem alle glaubten, dass er mit seinen großen Händen ohne Probleme den Kopf eines jeden Feindes zerdrücken konnte. Und Feinde hatte Atlacoya viele. Vor allem im eigenen Land. Die hohen Abgaben waren ein Grund. Ein weiterer die Willkür der Armee, die im Endeffekt ganze hundert Jahre keinen Krieg mehr erlebt hatte. Ihre Aufgabe war vor allem der Kampf gegen Aufständische und politische Gegner. Auch Atlacoyas Vater war nicht für seine Gnade bekannt gewesen. Aber Atlacoya übertraf dessen politische Härte um Weiten. Und dennoch wurde er wie ein Gott verehrt.

«Nehataner, Volk von Nehats!», begann König Atlacoya seine Rede: «Die Götter meinten es in den vergangenen zwei Jahren nicht gut mit uns. Erst viel zu viel Regen und die Ernte verschimmelte und dann war es zu heiß und die Felder verdorrten. Unsere Kornspeicher sind so gut wie leer. Unser Volk steht in Gefahr hungern zu müssen. Die Pravin hingegen fressen sich auf ihrem kleinen Landstreifen zwischen der Wüste und dem Meer satt. Ihnen waren die Götter gnädig. Warum auch immer. Zwanzig Jahre ist es nun schon her, dass die Pravin von meinem Vater diesen kleinen Landstreifen bekommen haben und sie sich dort ansiedelten. Aber rein rechtlich gehört dieses Stück fruchtbare Land uns! Und wir werden es uns wiederholen!»