Die Judenmadonna

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Schabbat, im Sommer 1471

Golda hatte Rahel bei den Vorbereitungen zum Schabbat, dem wöchentlichen Ruhetag, geholfen, sich anschließend mit kaltem Wasser gewaschen und saubere Kleider angezogen, und nun schwitzte sie prompt schon wieder, zumal sie die monatliche Unreinheit erlebte, mit der G’tt die Frauen geschlagen hatte. Das erste Mal lag nun fast sieben Monate zurück und Rahel hatte damals lachend Goldas Hoffnung zerschlagen, dass die Weiberzeit vielleicht nur einmal und dann nie wiederkommen würde. Immer würde sie danach, wenn sie erst verheiratet war, mehrere Tage lang ein weißes Kleid tragen müssen, damit sie ganz sicher sein konnte, rein zu sein. Und dann würde obendrein das eisige Wasser der Mikwe folgen, das rituelle Bad, dem die fromme Jüdin sich unterziehen musste.

Das Spinnen machte ihr zwar nichts aus, das war Frauenpflicht und nicht zu vermeiden, aber so ganz allein und obendrein bei dieser Gluthitze! Klara fehlte ihr, die Tochter des Kornhändlers beim Markt, ihr Klärchen. Es war zwar statthaft, wenn Golda am Tor zum Hof des Johannes Freiburger stand und den schweren Klopfer betätigte, damit die Freundin unten erschien, aber umgekehrt ging es nicht, dass die flachsblonde Tochter des Kornhändlers ihrerseits in die Judengasse kam. Was hätte sie nur darum gegeben, wenn sie irgendwo beim Markt mit ihr hätte sitzen und spinnen und ratschen können, so wie sonst auch. Am Schabbat durfte Golda nicht mehr aus dem Haus. Seit sie zur Frau gereift war, wurde sie streng behütet und die Reisen über Land mit dem Vater waren ihr nun verboten.

Ein Laut von oben ließ sie hoch sehen zum hölzernen Wehrgang der Stadtmauer, an die die Judengasse grenzte und auf der Tag und Nacht die Wächter hin und her patrouillierten. Sie konnte sie lachen hören und wie der eine herunterspuckte und dann zum anderen sagte: »Ach, lass doch die Judendirne …«

Wenn sie jetzt noch einmal zum Gang hinsah, würden Pfiffe und derbste Scherzworte zu hören sein, die einer Jungfrau die Schamröte ins Gesicht treiben mussten. Ohne noch weiter auf den Lärm von oben zu achten, drehte sie sich um und lief ins Haus.

»Ich habe solchen Durst, Mamale! Ich brauche kaltes Wasser, die Finger kleben mir so am Garn, dass es nicht zum Aushalten ist!«

Die Mutter nahm unwillig die Hand aus dem Abwaschbottich, zeigte in die Ecke und sagte: »Du weißt doch, wo der Kübel steht! Da, hol’s dir, das müsste doch reichen.«

Golda musterte das laue Wasser, das Rahel vor Stunden vom Brunnen geholt hatte und erwiderte: »Ach, das ist doch viel zu wenig, Mutter. Und kalt ist es auch nicht mehr, es ist ja so warm wie meine Hand.«

Rahel schnaubte.

»Nun, dann kann ich es nicht ändern, ich kann jetzt nicht weg von hier, ich muss das Geschirr spülen und obendrein wollte Rivka gleich kommen.«

»Dann lass mich doch eben gehen«, warf Golda gleichgültig ein.

Rahel richtete sich auf und hielt sich stöhnend das schmerzende Kreuz.

»Oh nein, mein Kind, so haben wir nicht gewettet. Dein Vater hat’s verboten, wie du weißt. Dachtest wohl, du kannst mich übertölpeln, was?«

Jakob liebte den wöchentlichen Feiertag. Er legte dann, wie jeder in der Judengasse, alle Arbeit beiseite. Er wusch sich gründlich, aber jetzt im Sommer nahm er stoisch ein Bad im eiskalten Bergenbach vor den Mauern. Dann zogen er, Rahel und Golda ihre besten Kleider an und empfingen den Schabbat wie der Bräutigam seine Braut. Auch wenn Golda missgestimmt war, so freute sie sich doch, wie jede Woche. Sie liebte die Stimmung, wenn alles zur Ruhe gekommen war; wenn sie oder Mutter Rahel den Segen sprachen und die Schabbatlichter entzündeten. Sie liebte es, wenn der Vater am Tisch den Kiddusch sprach und den Wein aus einer uralten, schwersilbernen Kanne in kleine Becher füllte und die Berches für seine Familie brach, mit etwas Salz bestreute und sie herumreichte.

Da klopfte es an die Tür, und kurz darauf trat Rivka ein und rief munter: »Schabbat Schalom!« Über ihrem besten, schneeweißen Hemd trug sie ein zimtbraunes, kaum geflicktes Kleid, eine sorgfältig gebundene Haube verbarg ihr Haar und an Hals und Ohren trug sie alten Schmuck aus Silber und winzigen Perlen.

»Schabbat Schalom, Rivka! Gut, dass du die Zeit für mich hast, es dauert ja auch nicht lang. Komm mit mir herüber in die Kammer. Goldele, geh und schau nach dem Essen. Auf der Tafel fehlen noch die Becher. Ich muss kurz mit Rivka reden. Sorge dafür, dass uns keiner stört, auch nicht dein Vater. Hast du gehört?«

»Ja, Mutter!«

Golda nahm den Deckel von dem großen Topf mit der Suppe und sog genießerisch ihren würzigen Duft durch die Nüstern. Dann sah sie nach der gefüllten Milz und schmeckte noch einmal die Brühe ab, die trotz der Hitze ihren Appetit anregte. Sie hörte die Frauen in der Kammer miteinander lachen, und schon traten Rivka und Rahel wieder heraus und wünschten sich gegenseitig einen schönen Feiertag. Rahels Gesicht war gerötet, und ihre dunklen Augen mit den langen Wimpern strahlten nur so vor guter Laune.

»Was hattet ihr beide denn noch zu besprechen?«, fragte Golda.

Rahel zögerte einen Moment: »Das erfährst du noch früh genug, Tochter. Wie weit ist es mit dem Braten?«

»Es ist alles fertig, Mutter. Fehlt nur noch Vater, dann können wir beginnen. Und Niklas ist heute bei uns.«

»Willst du die Broche sprechen, Goldele?«

Darauf hatte Golda nur gewartet. Sie öffnete die schwere Eichentruhe und nahm Becher, die beiden Leuchter und die Bienenwachslichter heraus und stellte sie feierlich auf. Mit einem Span entzündete sie die Dochte und strich mit der Hand über die Flammen. Dann bedeckte sie die Augen mit den Händen und murmelte leise die Worte, die zu dieser Stunde jede Jüdin in Aschkenas sprach: »Baruch atah adonai, elohenu melekh ha olam, ascher kidishanu b’mitz’votav ve tzivanu l’hadlik neir schel Schabbat.«

»Amen!«, fügte sie ernsthaft hinzu.

Da hörte sie draußen Stimmen und schwere Schritte sich dem Haus nähern. Die Männer kamen aus der Schul zurück. Und schon wurde die Tür aufgerissen und Jakob grüßte Golda mit einem freundlichen Grunzen, dann umarmte und küsste er seine Frau und wünschte einen friedlichen Schabbat.

»Wo ist denn der Goj, zum Teufel?«, polterte Jakob los, und da ertönte ein lautes Klopfen an der Tür.

»Hier bin ich, hier bin ich doch, Herr. Verzeiht mir, ich wurde aufgehalten auf dem Entenstrich.«

Und herein stolperte ein sonderbares Wesen. In Bergheim mied man ihn wie den Henker und den Hundeschläger, aber jedem Bewohner der Judengasse war der Anblick von Niklas, dem Schabbesgoj, lang vertraut. Er hätte recht groß sein können, wenn es ihm nur gelungen wäre, seine gänzlich verwachsene Gestalt aufzurichten. Niklas’ zu großer, runder Schädel war mit schütterem rötlichem Haar bewachsen und sein rechter Fuß um etliches größer als der linke. Unter den Christenmenschen hatte er allerlei auszustehen, man hänselte ihn und schimpfte ihn Satansbrut und Teufelsfratze, Gassenjungen warfen ihm Hundekot nach und pissten ihn an, wenn sie ihn irgendwo schlafend fanden, und Arbeit und Brot gab man ihm nur selten. Man machte den Kindern Angst vor ihm, obwohl er die harmloseste aller Kreaturen war und keiner Fliege etwas zuleide tun konnte.

Es war fast zehn Jahre her, dass der Rabbiner, Meir ben Mendel, ihn an einem regnerischen Frühlingsabend weinend und blutend auf der Mehlgasse gefunden hatte, ein verängstigtes Bündel Elend von vielleicht zwölf Jahren. In der Stadt trieben sich mitunter seltsame Gestalten herum, die in den Bergheimer Mauern Zuflucht suchten. Es war nämlich ein altes Recht, dass die Stadt demjenigen Asyl gewähren durfte, der verzeihbare oder unbeabsichtigte Verbrechen begangen hatte. Von diesem Recht machten viele Gebrauch und so mancher hatte seinen Verfolgern am Obertor, wenn er sich schon in Sicherheit wähnte, noch eine lange Nase gedreht oder sogar den nackten Hintern gezeigt.

Wieder einmal war Niklas von seinesgleichen geprügelt und geschunden worden, wieder einmal hatte man versucht, die Missgeburt vor die Mauern zu werfen. Der Rabbi brachte es einfach nicht über sein Herz, ihn im strömenden Regen hilflos liegen zu lassen, und so schaffte er ihn mit Hilfe seiner Frau in sein Haus. Niklas glaubte, im Himmelreich angekommen zu sein: Man zog ihm die durchnässten, stinkenden Lumpen aus und trockene Kleider an, die Frau wusch ihm die Tränen von den Wangen und das Blut von den Wunden, der Jude mit dem langen Bart flößte ihm Wein und heiße Suppe ein, und dann wickelte man ihn in wollene Decken und ließ ihn schlafen. Nach einigen Tagen hatte der Junge sich ganz gut erholt, und es ergab sich, dass an einem stürmischen Freitagabend das Herdfeuer im Hause des Rabbiners plötzlich verlosch. Was unter anderen Umständen ein großes Ärgernis gewesen wäre, erwies sich nun als wahrer Glücksfall. Meir erklärte Niklas, was es damit auf sich hatte, dass fromme Juden an Schabbat kein Feuer anzünden durften, und bat ihn, für Feuer im Ofen zu sorgen. Und so hatte die kleine Gemeinde ihren treuen Schabbesgoj, der sich bei allen Verrichtungen als äußerst anstellig erwiesen hatte. Außerdem war er eine zuverlässige Quelle für jedweden Klatsch und Tratsch, und nicht umsonst hieß es in der Bergheimer Mundart: »Ä Schawwesgoje isch de Dorfrätsch vun de Juddegass«.

»Gut Schabbes, gut Schabbes, alle miteinander!«, rief Niklas und setzte sich an seinen Platz neben den Herd, wo auf seinem Schemel schon Schale und Becher für ihn bereitstanden. Die Katze begrüßte ihn mit einem Maunzen und sprang auf seinen Schoß. Und während sie sich schnurrend zusammenrollte und sich Niklas’ Hände in ihr Fell vergruben, glitt ein zufriedenes Lächeln über sein hässliches Gesicht.

Jakob rieb sich voller Vorfreude die Hände, als er die gedeckte Tafel in Augenschein nahm und die wunderbaren Düfte vom Herd schnupperte.

 

»Nun denn, lasst uns den Schabbat beginnen, meine Lieben.«

Die kleine Familie trat an den Tisch und Jakob begann, den Kiddusch zu sprechen: »Ve’hi erev ve’hi boker yom haschischi …«

Währenddessen saß der Goj selig lächelnd abseits. Er verstand zwar nichts von der fremden Sprache, in der der Jude betete, aber er hatte diese Worte schon so oft in der Judengasse vernommen, dass er sie lautlos mitmurmeln konnte, was er manches Mal sogar tat, obwohl er sich dunkel erinnerte, dass der Pfaffe in der Kirche einmal gepredigt hatte, dass die Juden in der Sprache des Teufels beten. Und dann kam der Moment, auf den Niklas sich die ganze Woche über freute. Die Juden wuschen sich die Hände in frischem Wasser, der Hausherr brach die Brote und das Mahl konnte beginnen. Genießerisch tunkte er Brot in die würzige Brühe und schlürfte den Rest aus der hölzernen Schüssel, als die Frau schon kam und ihm ein großes Stück des Milzbratens gab.

Golda nahm von den Berches, die Rahel am Mittag aus dem kleinen Backhaus geholt hatte, so wie die anderen Frauen der Judengasse. Rivka, die Hebamme der Gemeinde, die mit ihrem Mann Abraham gleich gegenüber wohnte, Judith, die Rebezin, Frau des Rabbiners Meir ben Mendel, der als magister judeorum auch die Bergheimer Gemeinde gegenüber dem Magistrat vertrat, Gelle bath Levi, die fünfzehnjährige, gerade an den Schächter Menachem Verheiratete, Hannah, Taube, Margalit, Schönle, Süßele und wie sie alle hießen. Sie waren alle blutjung hierhergekommen, von Hagenau und Rosheim, von Mainz, Worms und Speyer, bis das Leben, die Männer, die Geburten und die Ehen sie zu glücklichen Frauen und Müttern, zu herrischen Megären oder zu fügsamen Ehefrauen gemacht hatte.

Rahel kicherte und flüsterte mit Jakob wie ein junges Mädchen. Ihre schwarzen Augen funkelten nur so vor Übermut. Schließlich lachte der Vater laut und zufrieden auf und wandte sich Golda zu.

»Ab dem Montag, Goldele, braucht deine Mutter deine Hilfe dringend beim Waschen und beim Beerenpflücken, wie sie mir gerade verraten hat!«, rief Jakob und drückte seinem Weib einen schmatzenden Kuss auf die Wange.

Golda lächelte zufrieden. Noch nie hatte sie sich so auf das mühsame Beerenpflücken gefreut, bei dem die winzig kleinen Erdbeeren über Stunden in der heißen Sonne an den Trockenmauern in den Weinbergen zusammengesucht werden mussten. G’ttlob, endlich hatte die Gefangenschaft ein Ende.

»Danke dir, Tate.«

»Jaja, schon gut. He, Niklas, lass das bleiben!«

Letzteres ging an den Goj, der die Katze mit einem Rest des Milzbratens füttern wollte.

»Das Vieh kriegt hier schon seinen gerechten Teil. Vergiss nicht, das gute Essen ist für dich allein da.«

Niklas kicherte durch seine wenigen Zähne: »Ich freu mich über jedes Wesen, das nicht schreiend vor mir davonläuft. Ob Mensch, ob Tier, das ist mir schon längst gleich.«

Jakob schmunzelte.

»Das wissen wir doch, Niklas. Für dich gibt es nichts mehr zu tun heute, der Ofen brennt, und das Licht wird auch noch reichen. Wo wirst du denn schlafen heute Nacht?«

Der Goj zuckte mit seinen gewaltigen Schultern.

»Werd sehen, Herr. Mal hier, mal dort. Irgendeinen Unterschlupf hab ich noch immer gefunden.«

»Gut, Niklas, ganz, wie du es wünschst.«

»Gut Schabbes!« rief Niklas noch einmal, bevor er den gastlichen Tisch verließ und sich seiner Wege trollte.

Golda blickte Rahel prüfend von der Seite an, während sie die Tafel abtrugen und Schüsseln und Becher zu säubern begannen. Ihre Mutter hatte ununterbrochen ein kleines Lächeln in den Mundwinkeln, und jetzt begann sie beim Spülen sogar, ein wenig vor sich hinzusummen.

»So guter Laune, Mutter? Das ist doch wohl nicht allein der Feiertag, oder?«

»Nein, nicht nur der.«

Rahel stellte die bunt glasierten Becher auf das Wandbrett zurück und seufzte: »Also gut. Du bist mein großes Mädchen und hättest es so oder so bald herausgefunden. Deine alte Mutter wird dir wohl endlich ein Brüderchen schenken!«

Golda erstarrte.

»Nun, was ist? Sollte dich das nicht freuen, Mejdele?«

»Nun ja«, begann Golda unschlüssig, um dann vorsichtig fortzufahren: »Gewiss, gewiss freue ich mich. Aber, Mutter, hat Rivka nicht beim letzten Mal schon gesagt, es möge nun genug sein?«

Golda wachte heute noch manchmal schweißgebadet auf, weil sie die Schreie der Mutter im Traum gehört hatte, das verzweifelte Schluchzen der zu Tode Erschöpften, das Weinen des Vaters, als er den tot geborenen Knaben in ein Tuch gewickelt hatte, um ihm anderntags auf dem kleinen Judenfriedhof vor dem Theinheimer Tor bei Kolmar zu begraben.

»Sie ist eine erfahrene Hebamme, die beste weit und breit. Sie hat mich gründlich untersucht und gesagt, diesmal spräche alles, wirklich alles dafür, dass ich einen gesunden Knaben zur Welt bringe. Sie hat jedes Merkmal dafür an meinem Leib gefunden. Ich habe jeden Tag meines Lebens, seit ich deinen Vater genommen habe, um ein gesundes Kind gebetet, und Ha Schem hat meine Gebete erhört.«

»Ach Mutter, ich wünsche es dir ja so sehr!«, rief Golda und fiel Rahel um den Hals. Das tat sie wirklich, aber tief im Innern blieb eine leise Angst. Der Vater sehnte sich so sehr nach einem Sohn, einem Mann im Haus, der nach ihm die Geschäfte übernahm. Nun, warum sollte es diesmal nicht doch gut gehen? Rivka hatte es bestätigt, das war nicht zu leugnen. Wenn jemand mit solchen Dingen Bescheid wusste, dann sie. Nun würde Rahel wieder vermeiden, sich viel in den Gassen der Stadt zu bewegen, damit ihr der Anblick von Schweinen und anderen unkoscheren christlichen Dingen erspart blieb, denn sie glaubte fest daran, dass sie so dem Ungeborenen Schaden bringen könnte. Nun, umso mehr würde Golda jetzt wieder vor die Tore der Judengasse kommen.

Die Nachtluft brachte kühle Linderung von den Bergen herunter, als sie die Fensterläden ihres Kämmerchens schloss. Grauchen sprang auf das Bett und begann, sich unter lautem Geschnurr zu putzen. Goldas Finger gruben sich in das weiche Fell und die Katze putzte mit ihrer rauen Zunge über die Finger ihrer Herrin. Sie liebte das Tier so sehr, seit Jakob vor etlichen Jahren verfroren zur Tür hereingestolpert war und ihr das winzige Fellbündel in den Schoß gelegt hatte. Er hatte es nicht gefunden, nein, es war ihm, wie er später immer erzählte, sozusagen zugeflogen. Als er durch die Wälder von Reichenweiher nach Bergheim zurückwanderte, ritt die Jagdgesellschaft derer von Rappoltstein scharf an ihm vorüber und einer der Treiber warf dem Juden als Schmähung etwas an den Kopf, von dem er erst meinte, es sei eine tote Ratte. Jakob hatte es nicht über sich gebracht, das kleine Ding, dessen Mutter wahrscheinlich von den Jägern getötet worden war, einfach seinem Schicksal zu überlassen und nahm es mit nach Hause als Spielzeug für seine Tochter. Golda fütterte es mit viel Geduld aus einem Lederschlauch mit warmer Ziegenmilch und Fleischbrühe und, kaum zu glauben, das Tier wuchs tatsächlich gesund heran und wurde so zahm wie jede andere Katze in der Nachbarschaft.

Der leichte Wind trieb ab und an die Klänge der Fiedeln, Sackpfeifen und Trommeln an ihr Ohr, mit denen draußen bei der dicken, uralten Linde vor dem Obertor der Dorfjugend zum Tanz aufgespielt wurde. Golda wusste von Klärchen, wie es zuging, dort draußen: Die Mädchen trugen ihre schönsten Kleider und putzten sich heraus mit Mohn, Kornblumen und Margariten, die Burschen trugen reine Hemden und bunte Beinkleider und wetteiferten miteinander in Zechgelagen. Die Mütter taten gut daran, die Töchter nicht aus den Augen zu lassen, denn wenn sie nicht aufpassten, wurden dort sogar schon Küsse und Schlimmeres getauscht. Klärchen hatte ihr hinter vorgehaltener Hand schon so manches erzählt, was Golda vor Scham und Wonne hatte erröten lassen. Und dann hatte Klara sich auch noch furchtbar vernarrt in einen Burschen, der von Rodern zum Tanz herübergeritten kam, und ihr ganze Stunden von ihm vorgeschwärmt, was er gesagt und was er getan hätte, wie schön seine blauen Augen und sein blondes Haar seien und wie gern sie ihn hatte.

Golda hatte sehr gelacht und die Freundin geneckt. Sie sei wie eine rollige Katze, ganz wie Grauchen, wenn sie ihre Zahmheit vergaß und sich mit wilden Katern tage- und nächtelang in den Wäldern herumtrieb. Sich dort im Tanz mit den Christenburschen zu drehen, hoch geschwungen zu werden, dass die Röcke flogen, im Reigen Hände zu drücken und Blicke zu tauschen, so wie Klara es tat, war für eine Jüdin wie sie vollends undenkbar.

Eine Sehnsucht kam in Golda auf, so stark, dass es ihr fast das Herz zerriss. Sie sah den fremden Christen von Straßburg Nacht für Nacht vor dem Einschlafen vor sich, sie meinte auch immer noch seine Worte zu vernehmen, wie er sie damals »schöne Jungfer« genannt hatte, und sie glaubte seine sanfte, dunkle Stimme zu hören, eine Stimme, die sie unter Tausenden wieder erkennen würde, ganz sicher. Golda warf sich herum, wacher als zuvor.

Kolmar, in der Schädelgasse

Martin Schongauer trat aus dem hellen Licht der Gasse, die mitten durch Kolmar führte und bei Tage von Hufgetrappel, dem Hämmern, Klopfen und Zischen der Werkstätten, dem Geschrei der Händler, dem Quieken der Schweine, Hundegebell, dem Gackern der Hühner und dem Kreischen der Kinder erfüllt war, in den dunklen Flur seiner Werkstatt und warf die Tür hinter sich ins Schloss.

»Ludwig? Ludwig, wo steckst du?«

Er erschrak ein wenig, als sein Bruder, lautlos, wie es seine Art war, aus dem Halbdunkel des großen Raumes, der immer nach Leim, Firnis und Farben roch, zu ihm herüber trat, schon im groben Überwurf, den er stets bei der Arbeit trug, um die Kleidung zu schonen.

»Ludwig, Allmächtiger! Hast du mich erschreckt!«

»Und, hast du’s nun bekommen?«, fragte Ludwig nur ungeduldig.

Martin legte ein in Leder geschlagenes Bündel auf den groben Tisch an der Wand, auf dem in Mengen dicke und dünne Pinsel, Messer, Holzstäbchen, Tonschalen und Gläser mit zu feinem Pulver vermahlenen Pigmenten standen.

»Da, schau her!«

Vorsichtig wickelte er einen Gegenstand aus dem ledernen Päckchen, einen würfelförmigen, tiefblauen Stein. Ludwig nahm ihn neugierig in die Hand.

»Donnerwetter! Wie schön. War es denn sehr teuer?«

»Frag lieber nicht«, erwiderte Martin lächelnd und wickelte den Stein wieder in den Lederlappen. »Der Apotheker rollte mit den Augen, als ich nach der echten indigofera tinctoria fragte. Aber ich muss es haben, unbedingt. Färberwaid taugt nicht für diese Arbeit. Ich brauche was Besseres.«

Sein Bruder zuckte mit den Schultern. »Ich hätte für den Mantel der Jungfrau ja weit lieber ein schönes, kräftiges Rot gewählt, so wie das da«, sagte Ludwig und wies hinüber zu seinem Bild, das drüben auf seinem Gestell trocknete. Martin schmunzelte.

»Du liebst dieses Rot, nicht wahr? Überall setzt du es ein, so oft es geht. Ich kann später noch genug Jungfrauen in roten Mänteln malen. Für diesmal nehme ich jedenfalls echtes Indigo. Ich will ein kühles Blau. Und der Herr Präzeptor des Antoniterklosters hat im Auftrag klar und deutlich feinstes Gold und die allerbesten Ölfarben verlangt. Die Ausgaben dafür wird er schon in unserer Abrechnung wiederfinden.«

Ludwigs Blick lag eine Weile auf seinem Bild, der ›Beschneidung Christi‹, auf dem Joseph, die Jungfrau und der Beschneider in das helle Rot gekleidet waren, das bei den Auftraggebern zur Zeit so beliebt war, ein Rot aus Karmin, Krappwurzel und Mennige, das wie Feuer leuchtete.

Er war nicht wenig stolz auf sein Werk. Ja, es stimmte, er liebte dieses Rot. Es war ihm schleierhaft, warum Martin sich so auf dieses eher stumpfe Blau versteift hatte.

»He, Matthias! Matthias, komm hervor, du Lümmel«, rief Martin laut.

Von nebenan erschien ein zwölfjähriger Blondschopf, Matthias Schöplin, der Sohn eines Goldschmiedes aus der Nachbarschaft, dessen Talent als Zeichner sich erst kürzlich herausgestellt hatte. Der Vater hatte ihn eines Tages dabei erwischt, wie er ein schamlos hässliches und erstaunlich lebensnahes Abbild seines Erzeugers mit Ruß an die Wand gekritzelt hatte und man hatte zu dessen Glück beschlossen, ihn zu den Brüdern Schongauer in die Werkstatt zu schicken.

»Hier, pass gut darauf auf. Das sind vier Unzen Indigo, ein blauer Farbstoff, der von sehr weit her kommt. Indigofera tinctoria heißt er und ist sehr, sehr kostbar. Merk dir das, am besten, du schreibst es gleich auf. Zerschlag den Brocken in zwei Hälften und mahle eine in dem großen Mörser ganz fein, hast du verstanden?«

»Ja, Meister!«, sprach der Junge und verschwand mit dem Brocken in den hinteren Raum.

 

Die Brüder mochten den begabten Jungen. Das Pigment war bei ihm in den besten Händen.

Martin legte seine Kappe ab und sah sich zufrieden in der Werkstatt um. Vor einem Jahr erst hatte er den Erben des Werlin von Limperg für das halbe Haus in der Schädelgasse die stattliche Summe von sechzehn Solidos gezahlt, die andere Hälfte gehörte noch immer Herrn Muntbur, und die erste eigene Werkstatt dort eingerichtet. Sie war geräumig und hatte bei Tage gerade genug Sonnenlicht. Dort hinten lehnten hochkant an der Wand schon die vier großen Tannenholzplatten für den Altar des Antoniter­klosters zu Isenheim, mehr als fünf Fuß hoch und nur zwei Fuß breit, mit fein geglättetem Malgrund aus Kreide und Ocker versehen. Hier und dort waren schon die blassen Linien der vier Figuren erkennbar.

Der Grund hatte mehr als einmal neu aufgetragen werden müssen, denn noch nie hatten die Brüder Schongauer mit einem solchen lächerlich länglichen Format gearbeitet. Ludwig und Martin waren bei diesen Entwürfen so heftig aneinandergeraten, dass Ludwig mehr als einmal türenknallend die Werkstatt verlassen hatte und auch nicht mehr am selben Tag wiederkam. Mal schien es, dass die Abgebildeten in dem hohen Rahmen wie eingekerkert aussahen, dann wieder gerieten sie zu klein und um sie herum war zu viel Hintergrund entstanden. Für diesen wollten sie nichts als einen edel und sanft schimmernden Goldgrund auflegen. Aber für Mariae Verkündigung war Martin ein anderer Einfall gekommen. Er war jetzt schon gespannt, was Ludwig davon halten würde, wenn beide Bildnisse, des Erzengels Gabriel und der heiligen Jungfrau, optisch durch ein großes Tuch aus rotgoldenem Brokat im Hintergrund miteinander verbunden wurden. Die Flügel des Erzengels Gabriel hatte Ludwig in einem puderigen Braunton ausführen wollen, so wie ihn die Flügel eines Eichelhähers aufwiesen. Aber Martin wollte die Engelsflügel gestalten wie die bunt schillernden Schwanzfedern eines Pfaus. So hatte es auch sein großes Vorbild, Meister Rogier von der Weyden, bei seiner Abbildung des Jüngsten Gerichts ausgeführt. Da er von vornherein mit dem Zorn des Bruders rechnete, der in seiner Arbeit eher vorsichtig zu Werke ging und ungern etwas Neues wagte, hatte er heimlich längst beschlossen, mit der Arbeit an den Flügeln zu beginnen, ohne erst Ludwigs Rat einzuholen.

Am anderen Morgen klopfte es früh an die Tür. Als Ludwig öffnete, stand draußen auf der Schädelgasse ein mageres junges Mädchen in einem graubraunen Mantel und einer weißen Tuchhaube.

»Was willst du denn hier?«

»Verzeiht, Herr. Eure Frau Mutter hat mich zu Euch geschickt, damit ich Euch Modell stehe für das Gemälde von der Verkündigung, das ihr plant. So sagte sie mir jedenfalls.«

Ludwig erstarrte. Das sah ihrer Mutter, der herrischen Gertrud Schongauerin, wirklich ähnlich.

Schon seit Wochen lag sie ihrem Mann damit in den Ohren, er möge ihr doch endlich dabei behilflich sein, einen ihrer Söhne mit Magdalene Böhmerin, der Tochter eines der reichsten Kaufleute Kolmars zu verkuppeln. Das wäre an und für sich nicht schlimm gewesen, aber dass die Mutter sogar die Stirn haben würde, diese magere Stute als Malerabbild zu ihnen zu schicken, war denn doch nicht zu erwarten gewesen.

»Komm herein, Magdalene Böhmerin«, sprach Ludwig und sah sich unruhig nach dem Bruder um. Ob Martin schon wusste von dieser fatalen Geschichte? Das Mädchen marschierte in die Werkstatt und blickte mit großen Augen neugierig um sich. Ludwig öffnete inzwischen alle Fensterläden.

»So, gleich wird’s hell hier drinnen. Deinen Mantel und die Haube kannst du vielleicht hier ablegen.«

»Meine Haube soll ich ablegen?«, fragte das Mädchen unsicher.

»Ja, das sollst du!«, rief es von der Tür her. Martin stand grinsend im hellen Sonnenlicht, glänzender Laune und, wie es schien, trotz der frühen Stunde schon voller Tatendrang.

»Wünsche einen guten Morgen allerseits. Magdalene, nur keine Scheu. Es sieht dich ja keiner außer uns, und mehr als deine Haube aufbinden musst du auch nicht. Komm nur, hab keine Angst.«

Das Mädchen zögerte. Als es aber sah, das die Brüder nun wie alle ordentlichen Handwerker aus der Schädelgasse, ihre Werkzeuge zurechtrückten, nach den Gesellen riefen, dass sie ihnen zur Hand gehen mögen, sie zum Wasserholen schickten, Schemel und Tische heranrückten, wurde sie ruhig und begann, ihre Haube zu lösen. Ihre dicken Zöpfe, es waren drei an der Zahl, trug sie kompliziert um den kleinen Kopf gewunden und mit Nadeln festgesteckt. Martin bat sie, ihre Flechten zu lösen. Allmählich glaubte Ludwig zu begreifen, warum sein Bruder gar keine Einwände dagegen zu haben schien, die Unscheinbare als Modell zu verwenden. Sie hatte mit den kleinen Äuglein, der aufgestülpten Nase und den sehr schmalen Lippen zwar ein unschönes Gesicht, aber sie war auch langgliedrig und schlank.

»Sehr schön«, sagte Ludwig nun zufrieden. »Dein Haar ist prachtvoll!«

Martin trat hinzu mit einem perlengeschmückten Reif, schob dem Mädchen damit die Mähne aus dem Gesicht und drapierte sie lose um ihre Schultern. Er gab sich Mühe, die Nase nicht zu rümpfen. Das Haar war schon länger nicht mehr gewaschen worden. Also stimmten die Gerüchte über den argen Geiz der Familie Böhmer, die der ganzen Stadt so köstliche Unterhaltung boten. So hieß es, der Kaufmann ließe die Frauen seiner Familie keine guten Seifen oder duftende Salben benutzen und obendrein die alten Fetzen ihrer Großmütter auftragen, obwohl es ihm wirklich nicht an Reichtum mangelte. Vielleicht traf es sogar zu, dass man den kleinen Kindern dort gerade so viel zu essen gab, dass sie am Leben blieben, wie böse Zungen behaupteten. Magdalene hätte wohl sein Mitleid erregen können, hätte sie ihn nicht seit ihrem Eintreffen mit viel mehr Koketterie angestarrt, als es einer wohlerzogenen Jungfrau eigentlich anstand.

Inzwischen hatte Matthias im Hintergrund eine Leine von Wand zu Wand gespannt und einen herrlichen Überwurf aus rotem, goldgemustertem Brokat darüber drapiert.

»Was soll das denn jetzt, Martin?«, fragte Ludwig ungehalten. Die Geheimniskrämerei seines Bruders fiel ihm nicht zum ersten Mal auf die Nerven.

»Hier, stell dich davor, Magdalene. Ja, genau so. Bleib so stehen.«

Martin faltete einen weitgeschnittenen tiefblauen Frauenmantel auf und legte ihn seinem Modell über die Schultern.

»Also gut, langsam verstehe ich, was du vorhast«, sagte Ludwig seufzend, »Der blaue Mantel vor dem roten Hintergrund. Er hebt sich besser ab dadurch. Schön. Allerdings hättest du es mir auch gleich sagen können.«

Martin drückte Magdalene noch ein in rotes Leder gebundenes Büchlein in die linke Hand und gab sich äußerste Mühe, dabei nicht die Finger des Mädchens zu berühren, das ihn unverdrossen fixierte. Dann rief er nach Matthias und befahl ihm, den Topf mit der Lilie zu bringen. Der Knabe eilte herbei, mit einer großen, weißen Lilie in einem Faenzatopf.

»Stell sie dorthin, auf den Boden. Gut so.«

Martin, Ludwig und Matthias traten einige Schritte zurück und musterten das Bild, das sich ihnen bot, mit Kennermiene.

»Aber sie ist ja viel zu mager! Ich meine, die Jungfrau. Wenn ich den Engel Gabriel abgebe, werd ich aber nicht so dünn aussehen, Meister.«

Martin hatte den hübschen Jungen mit seinem blonden Lockenschopf vor einigen Tagen zu dessen Stolz dazu ausgewählt, ihm als Modell für den Erzengel zu dienen.

Martin gab Matthias eine leichte, wohlgemeinte Kopfnuss.

»Pfui, schäm dich, Matthias. Sie ist gar nicht zu mager, sie ist ein sehr gutes Malermodell.

Hol lieber die Töpfe mit den Farben von nebenan, die ich gestern bereitet habe, anstatt dummes Zeug zu schwatzen, von dem du noch nichts verstehst!«