Dummes Mädchen, schlaues Mädchen - Ein Fall für Harald Steiner

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„Schön, dann fahren Sie bitte fort.“

„Angela machte sich so gut, dass wir ihr auf Dauer immer mehr Verantwortung anvertrauten. Normalerweise schlossen wir den Salon immer im Januar und im Juli jeweils während zwei Wochen wegen unserer Urlaube. Doch dann haben wir versucht, das Geschäft unter ihrer Regie während unserer Abwesenheit offen zu lassen und waren angenehm vom Resultat überrascht, da die Umsätze konstant geblieben waren. Tja, und dann lernte sie diesen Heiko kennen, mit dem sie dann auch zusammengezogen ist. Der Nille war offenbar für sie die Liebe ihres Lebens, denn schon nach einigen Monaten, - das war etwa vor vier Wochen, bat sie uns -, ihre Stelle nur noch halbtags wahrnehmen zu dürfen. Begeistert waren wir wahrlich nicht, aber eine Angela halbtags hier zu haben, war immer noch besser als gar keine Angela. Es trat dann ein, was wir befürchteten, nämlich dass Angela diesen Nille heiraten und sich ganz aus der Branche zurückziehen wollte. Zum Glück hat sie uns rechtzeitig vorgewarnt, zum Letzten des Februars auszuscheiden. So hätten wir uns nach Ersatz für sie umsehen können.“ Andreas Zeisler grübelte kurz. „Aber Sie haben mir immer noch nicht gesagt, wie und wo Angela getötet wurde.“

„Die Tat wurde gestern kurz vor 18 Uhr in der Schindlergasse verübt. Der Täter hat sie angerempelt, beschimpft und ohne Vorwarnung dreimal auf sie eingestochen. Sie verstarb wenige Minuten später. Der Angreifer flüchtete. Es gibt aber einige interessante Aufnahmen, auf denen man den Kerl sehen kann, wenn auch nicht sehr deutlich, und Phantombilder, die anhand von Zeugenaussagen angefertigt wurden.“ Steiner legte eine Auswahl der Bilder, die mit der Kamera gemacht worden waren, und der Phantombilder auf die Glasplatte. Zeisler nahm sie und betrachtete sie Stück für Stück.

„Sieht aus, wie ein Ausländer. Bei uns kann der Mann nicht Kunde gewesen sein. Mit so einem ungepflegten Bart hätte er unseren Salon nie verlassen dürfen. Das wäre ja Geschäftsschädigung hoch drei.“

„Also kennen Sie diesen Typen nicht?“

„Parbleu!“ empörte sich der Maître. „Weder in unserem Salon noch in unserem privaten Umfeld verkehren Leute, die mit Messern auf junge Damen einstechen.“

Blöder Snob, dachte Harald. „Bleiben wir noch eben bei Ihrem persönlichen Wissen über Angela Jahn. Gab es vor oder zeitgleich zu Nille andere Verehrer Angelas?“

„Aber ich bitte Sie, Herr Hauptkommissar,“ gab sich Zeisler weiterhin arrogant. „Wir schnüffeln nicht hinter unserem Personal her. Dass sie mit Heiko Nille liiert war, wussten wir in erster Instanz von ihr selber. Später machten wir dann auch persönlich seine Bekanntschaft, da er sich dann auch seine Haare bei uns stylen ließ. Ein äußerst umgänglicher Mensch, muss ich zugeben. Ich glaube nicht, dass sie bei ihm in die falschen Hände geraten war. Außerdem denke ich, dass sie in den beiden Jahren, die sie bei uns war, bevor sie Heiko kennen lernte, keine tiefer gehenden Männerbekanntschaften gehabt hat. Dass dem nicht so gewesen sein dürfte, dafür gab es zwei Indikationen. Erstens ist sie nie mit diesem besonderen Blick morgens zum Dienst erschienen…“

„Besonderer Blick?“ hakte Steiner nach, der sehr wohl wusste, was gemeint war.

„Nun, diese glasig glücklichen Augen, die Frauen manchmal so haben.“ Dem Meister schien dieses Thema wenig zu behagen. „Na ja, und die zweite Indikation, die Männerbekanntschaften für eher unwahrscheinlich erscheinen lassen, leitet sich aus dem Getuschel der weiblichen Angestellten ab. Frauen können selten etwas für sich behalten. Schon am Tag, nachdem Nille in Angelas Leben getreten war, wussten meine Frau und ich darüber Bescheid, weil es die Angela den anderen Mädchen gesagt hatte und die es meiner Frau kolportierten. Hätte sie vorher eine ähnliche Bekanntschaft gemacht, wäre mir das wohl auch zu Ohren gekommen.“

„Stichwort die anderen Mädchen. Wie war denn das Verhältnis zwischen Angela und ihren Kolleginnen? Gab es Unstimmigkeiten? Man könnte sich vorstellen, dass ihre Kolleginnen ihr bei ihrer exponierten Stellung auch mit Neid begegneten.“

„Meine Frau und ich dulden keine Streitigkeiten im Salon. Käme so etwas vor, würden wir sofort dazwischen gehen. Das wissen die Angestellten. Das impliziert aber auch, dass ich Ihnen nichts Sinniges darüber sagen kann, ob es nicht doch Eifersüchteleien gegeben hat.“

„Sie gingen also davon aus, Frau Jahn wollte zum ersten März aus Ihren Diensten treten, um sich fürderhin besser ihrem zukünftigen Gatten widmen zu können.“

„Aber sicher doch,“ zeigte sich Zeisler ungehalten. „Der Mann hat doch genug Geld, eine Frau unterhalten zu können, von der er erwarten darf, dass sie rund um die Uhr für ihn da ist.“

„Interessante Einstellung,“ äußerte sich der Hauptkommissar. „Also ist bei Ihnen nie der Verdacht aufgekommen, die Frau Jahn könnte sich als Frisöse selbständig haben machen wollen?“

„Wie kommen Sie denn darauf? Mit einem einigermaßen begüterten Ehemann wäre das doch bestimmt abwegig, da überflüssig gewesen.“

„Finden Sie? Da bin ich aber anders informiert.“ Es schien Harald zu erheitern, dem Coiffeur einen mittelgroßen Schock zu bescheren, wenngleich er sich nicht sicher war, ob dieser nicht schon längst im Bilde war. „Frau Jahn hat ihren Tagesjob auf einen Halbtagsjob reduziert, weil sie mehr Zeit für organisatorische Tätigkeiten benötigte. Und die Kündigung hat effektiv damit zu tun, dass sie zum ersten März unweit von Ihrem Salon einen eigenen Salon eröffnen wollte. Das sollen Sie nicht mitbekommen haben?“

Der Meister war oder tat verwundert. „Angela sich selbständig machen? Dazu gehört doch mehr, als nur das Fach des Hairstylisten zu beherrschen. Wirtschaftliche Kompetenz, vertrauenswürdiges Personal, einen Anfangsbestand an Klientel…“

„Eben Maître, das scheint sie wohl alles allmählich und minutiös in die Wege leiten haben wollen. Dass sie geschäftstüchtig war, haben Sie ja selber gerade zum Ausdruck gebracht. Hätte sie sonst etwa Ihren Salon während Ihrer Abwesenheit leiten dürfen? Mehr beschäftigen mich da die beiden anderen Komponenten, die Sie hervorgehoben haben, nämlich das anzuwerbende Personal und die ersten Kunden. Wäre ich an ihrer Stelle gewesen, hätte ich mich zuerst dort umgesehen, wo ich mich am besten auskenne, in dem Laden, in dem ich beschäftigt bin. Und schon wieder komme ich auf eine Ihrer Aussagen von vorhin zurück. Frauen, - gemeint war in diesem Fall Ihr weibliches Personal, nehme ich an -, können selten etwas für sich behalten. Bleiben Sie also dabei, nichts von Frau Jahns Vornehmen gewusst zu haben?“

Zeisler hob beide Arme mit ausgestreckten Händen in die Höhe. „Mein Gott, wenn ich so etwas geahnt hätte, hätte ich sie doch zur Rede gestellt. Wenn sich so etwas bewahrheitet hätte, hätte ich sie sofort entlassen, wenn nötig mit Fortzahlung ihres Gehaltes bis zum Tag des offiziellen Ausscheidens, wie es die Arbeitsgesetze vorsehen.“

„Womit Sie sich ihrer künftigen Konkurrenz immer noch nicht entledigt hätten,“ konkludierte Steiner und erntete dafür einen Blick, der ihn, wenn es machbar gewesen wäre, getötet hätte.

Heinz Schmidt kehrte von seinem Rundgang durchs Präsidium ins Assistentenbüro zurück und berichtete Ralf und Monika, was er dabei so alles gewahr geworden war.

„Der Name Heiko Nille ist den Kollegen von der SOKO Autodiebstahl nicht unbekannt. Sie werden des Kerls aber nicht habhaft. Sein Name ist hier und dort schon mal im Zusammenhang mit Autoaufbrüchen und Autodiebstählen gefallen. Aber alle Hinweise auf ihn waren so vage, dass man es sich nicht erlauben konnte, Hausdurchsuchungen bei ihm zu veranstalten. Man weiß auch, dass er beim Finanzamt mit einer weißen Weste dasteht. Das wiederum entnahm der Staatsanwaltschaft jegliche Möglichkeit, Nilles Telefone abhören zu lassen. Kurzum, man vermutet seine Beteiligung an Autodiebstählen, hat aber keine Handhabe, ihm auf die Schliche zu kommen.

„Hat man denn wenigstens seine Konten überprüfen können?“ fragte Frisch.

Heinz hielt seine Hand rechts von seinem Mund, als wollte er etwas mitteilen, was andere als seine beiden Kollegen nicht vernehmen sollten. Dabei waren sie sowieso unter sich. „Eigentlich hätten die von der SOKO das auch nicht gedurft, haben es aber trotzdem gemacht. Was über seine Konten läuft, ist clean. Natürlich hat man ihn auch einige Zeit observiert. Aber der Bursche bewegt sich einfach nicht. Will sagen, er lebt nach außen hin in den Tag hinein, ohne irgendwie ansonsten in Berührung mit der Ware zu kommen, die er verhökert.“

Nun erzählte Monika, von ihren Gesprächen mit den Eltern und rundete ihren Bericht mit den Worten ab: „Der alte Jahn ist allen Ernstes Vornehmens, nach Köln zu kommen, um uns bei unseren Ermittlungen auf die Finger zu schauen.“

Heinz brach in schadenfrohes Lachen aus, an dessen Ende er gluckste: „Da wird sich unser Chef aber richtig freuen. Vermutlich wird er ihn an die Unkel verweisen, damit die sich mit ihm abplagen muss.“

Der Kommissariatsleiter hatte sich von Maître André sämtliche Adressen seines Personals geben lassen, aber darauf verzichtet, die im Salon anwesenden Angestellten direkt zu befragen. Er zog es vor, zu Fuß bis zu Nilles Wohnung zu pilgern, um diesen erneut zu vernehmen, obwohl ihm noch nicht klar war, was er ihn denn überhaupt fragen wollte. Schließlich war noch immer nichts Neues aufgetaucht, worüber Nille eventuell nähere Auskunft hätte geben können.

Nille war immer noch mit einem Morgenrock bekleidet, als er dem Hauptkommissar die Wohnungstür öffnete. Sein Äußeres wirkte auf den Hauptkommissar, wie das eines gerade aus dem Bett Geklingelten, seine Fahne wie die, eines gerade erst ins Bett Gegangenen. Passend zu beiden Optionen Heikos Reaktion.

„Oh, Sie, Herr Kommissar! Ist was passiert?“

Steiner schnaubte. „Was passiert ist, dürfte ja wohl reichen,“ und spazierte unaufgefordert durch die Tür den Gang hindurch bis ins Wohnzimmer, wo er sich genauso uneingeladen in einen Sessel setzte. Nille war ihm hilflos und perplex gefolgt, fand aber nicht die Kraft, irgendwie gegen Steiners selbstherrliches Auftreten zu opponieren, sondern ließ sich selber auf sein Sofa nieder. Harald erfasste mit einem Augenaufschlag den Grund für Nilles Zustand, der auf dem Salontisch stand. Daher seine Bemerkung: „Sie scheinen schwer an Frau Jahns Tod zu tragen.“

 

Fast schon über diese Feststellung Steiners erleichtert, antwortete Heiko: „Ja, das sehen Sie richtig.“

„Nun, ich bin nicht hier, um Ihnen über Ihren Schmerz hinwegzuhelfen. Dazu fehlen mir augenblicklich das Feingefühl und die Zeit. Ich bin hier, um Sie zu bitten, mir Einblick in Angelas privaten Nachlass nehmen zu lassen, eventuell auch mir zu erlauben, mir wichtig erscheinende Dinge daraus mitzunehmen. Wären Sie damit einverstanden? Ich darf doch annehmen, dass sie ihre gesamte Habe bei ihrem Einzug bei Ihnen eingelagert hat.“

Heiko zögerte und überlegte. Angela hatte nie mitbekommen, womit er sein Geld machte. Für ihre geschäftlichen und privaten Papiere hatte er ihr ein verwaistes Schlafzimmer zur Verfügung gestellt, das so zu ihrem Arbeitszimmer geworden war. Die Möbel aus ihrer alten Wohnung hatte er in eine der beiden hinter dem Haus befindlichen Garagenboxen einlagern lassen. Einige kleinere Utensilien hatten eine vorläufige Bleibe auf dem Dachboden gefunden. Nur ihre Kleider und ihr Make-up hatte sie in ihrem zum gemeinsamen Schlafgemach gewordenen Zimmer untergebracht. Im Badezimmer befanden sich auch noch einige Sachen von ihr. Unter dem Strich gab es keinen Grund, dem Ermittler diesen Wunsch zu verwehren, zumal in allen diesen Räumen nichts zu finden war, was auf Heikos Geschäfte hinwies. So kurz diese Reflexionen auch waren, Harald hatte sie irgendwie unausgesprochen wahrgenommen.

„Selbstverständlich dürfen Sie das.“ Er erhob sich träge und redete weiter: „Folgen Sie mir bitte.“ Was Steiner auch tat. Zunächst führte ihn Nille in Angelas Arbeitszimmer. „Sehen Sie sich in aller Ruhe um, Herr Kommissar. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, werde ich mich in der Zwischenzeit frisch machen und mich anziehen.“

Das hätte natürlich auch der Versuch Nilles sein können, schnell das wegzuräumen, was ihn aus Angelas Besitz als potenziellen Urheber ihrer Ermordung in Verdacht bringen konnte. Allerdings wussten beide Männer, dass diese Annahme unsinnig war, denn Heiko hätte genau das bereits vor dem Mord getan. Also sah sich Steiner nicht veranlasst, einen Einwand zu erheben, der ihm in der momentanen Situation ohnehin nicht zustand vorzubringen.

Heiko beeilte sich mit seiner Morgentoilette und dem Ankleiden. Provisorisch strich er die Bettbezüge glatt, kehrte in den Raum zurück, in dem er den Polizisten zurückgelassen hatte, und fragte: „Kaffee? Espresso?“

Harald schaute auf seine Armbanduhr. Es war Viertel nach zwölf, eigentlich Essenszeit. Aber er hatte kein Hungergefühl. Kaffee war ihm recht. Also schlurfte Nille zur Küche.

Steiner hatte inzwischen einige Schubladen in Angelas Büro durchforstet. Prospekte jüngeren Datums über Einrichtungen und Gegenstände für Frisiersalons und dergleichen überwogen. Nur ein Ordner, - wenn auch schon ziemlich gut gefüllt -, hatte mit dem gesamten Gründungsverfahren für den neuen Salon zu tun. Des Weiteren fand er eine Korrespondenzmappe, die ebenfalls mit der Geschäftsgründung zu tun hatte. Echt private Niederschriften konnte er nicht ausfindig machen, obschon er sich sicher war, dass es die gegeben haben musste. Dann kam Nille erneut ins Zimmer und verkündete, der Kaffee warte in der Küche auf seine Abnehmer. Steiner folgte dem Hausherrn in die Küche, die, wie er es erwartet hatte, rundum bestens ausgestattet war und natürlich nicht von einem x-beliebigen Hersteller stammen konnte. Heiko hatte die Tassen auf der Küchentheke platziert, um die herum acht barhockerähnliche Sitzgelegenheiten standen. Als sich beide vor ihren gefüllten Tassen gegenüber saßen, - Nille war in einem dunkelblauen Anzug mit weißem Hemd, aber ohne Krawatte gehüllt und sah nun durchaus agiler aus als dreißig Minuten zuvor -, fragte er den Hauptkommissar: „Haben Sie inzwischen etwas herausgefunden?“

Zum Glück hatten die Hocker Rückenlehnen, sodass sich Harald gewichtig nach hinten zurückgleiten lassen konnte, um seiner anstehenden Ansprache den ebenso gewichtigen Anstrich verpassen zu können.

„Herr Nille, grosso modo rühren wir immer noch im Trüben. Haben wir es mit einem Irren zu tun, dem Frau Jahn zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort über den Weg gelaufen ist? Möglich! Aber ein solcher Verrückter wird schnell lokalisiert sein. Sie haben ja selber die Filmaufnahmen und die Phantombilder gesehen. Morgen früh werden diese Bilder in allen lokalen Zeitungen und in vielen überregionalen Blättern erscheinen und vermutlich zur besten Sendezeit auch übers Fernsehen flimmern.“ Nille ließ einen Laut der Erleichterung vernehmen, um sogleich darauf den Dämpfer zu erfahren. „Ich hingegen glaube nicht an einen Schwachkopf als Täter. Es gibt genügend Hinweise auf andere Motive.“

„Ach!“ stöhnte Heiko zu ängstlich, als dass das Ach nach Überraschung klang.

„Was wir über Frau Jahns bisheriges Leben, Tun und Sein wissen, ist noch sehr vage. Sicher ist nur, dass es da einige Ansätze gegeben hat, die sie bis in die Gegenwart verfolgt haben könnten. Insbesondere eine Geschichte aus ihren Lehrjahren in Kassel wird unsererseits eine gewisse Aufmerksamkeit gewidmet. Dann wäre da eventuell das Nicht- oder Wohlwissen ihres letzten Arbeitgebers über ihre Planungen zur Eröffnung eines eigenen Salons genauer zu untersuchen. Aber, - und das möchte ich Ihnen gegenüber keinesfalls verhehlen -, auch ihre Beziehung zu Ihnen erscheint uns in einem erweiterten Kontext nicht verwahrlosbar.“

Nille schien für den Bruchteil einer Sekunde zusammenzuzucken. Auch der Erpresser hatte Angelas Ermordung in seinem letzten Telefonat hervorgehoben. Er fing sich aber wieder, ehe Steiner seine Reaktion überhaupt hatte wahrnehmen können. „Worin soll denn da die Ursache zu finden sein?“

Steiner nahm kaum ein Blatt vor seinen Mund, als er darauf einging. „Betrachten Sie es mal von einer externen, neutralen Position, Herr Nille. Sie sind nicht gerade im Reichtum hineingeboren worden. Alles, was Sie heute besitzen, ist das Resultat Ihrer ökonomischen Aktivitäten.“ Heiko nickte dezent und zustimmend. „Wir fragen uns, inwiefern Frau Jahn in Ihren Aktivitäten involviert war, aber insbesondere, woraus diese detailliert resultieren.“

Offenbar vom Koffein wieder etwas alerter geworden, erwiderte der Angesprochene: „Meine Buchführung ist korrekt, und ich habe keine Veranlassung, sie Ihnen vorzuenthalten.“

„Sehr lobenswert,“ äußerte sich Steiner in einem Tonfall, der so aufrichtig klang, dass man ihm das auch als aufrichtig gemeint abzunehmen geneigt sein musste, „Aber es sind nicht immer die Bücher, die rundum Auskunft über den Gang der Dinge erteilen. Wie wäre es mit bösen Differenzen? Auch solchen Dingen werden wir nachgehen müssen.“

Heiko hob seine Schultern lang angezogen hoch. „Ich habe nichts zu verbergen, wüsste aber auch beim besten Willen nicht, wieso meine Geschäfte einen solch brutalen Mord ausgelöst haben könnten.“

„Ich auch nicht, Herr Nille,“ entgegnete Harald, als sei seine vorherige Aussage nur eine von vielen seiner in der Schwebe baumelnden Überlegungen gewesen. „Übrigens, was mich auch interessiert, sind Ihre früheren Beziehungen. Oder sind Sie vor Ihrer Begegnung mit Frau Jahn wie ein Mönch durchs Leben gewandelt?“

Heiko musste kurz auflachen. Er und ein Kostverächter!? „Nein, Herr Kommissar, Frauen haben mich immer schon interessiert, - jedenfalls seitdem ich meine erste Erektion hatte. Allerdings, sobald ich mich gut mit einer Schnecke verstanden habe, bin ich ihr auch treu geblieben.“

„Das hört sich aber zweideutig an,“ warf der Kriminalbeamte ein. „Es hört sich nämlich so an, als seien Sie mehreren Ihrer ‚Schnecken’ dann doch abtrünnig geworden.“

Auch hierüber musste Heiko schmunzeln. „Tja, irgendwann treten auch in der heißesten und innigsten Beziehung kaum überbrückbare Unstimmigkeiten auf, die man vorher nicht hatte sehen können oder wollen.“

„Über wie viele Beziehungen dieser Art reden wir denn?“ wollte es Steiner genauer wissen und fügte hinzu: „Namen und Adressen würden mir vielleicht weiterhelfen.“

„Wenn’s sein muss,“ sagte Nille. „Also da war die Maike, Maike Gröber. Wo die heute wohnt, weiß ich nicht, aber damals wohnte sie in Bedburg, Bedburg-Kaster. Mit ihr habe ich ein halbes Jahr zusammengelebt. Dann war da die Aischa Gül, eine aufgeklärte Türkin aus einer ebenso aufgeklärten türkischen Familie. Mit ihr war ich etwa drei Jahre zusammen. Soviel mir bekannt ist, arbeitet und lebt sie heute in Düsseldorf. Im letzten Mai habe ich mich mit meiner letzten Freundin, die ich vor Angela hatte, verworfen. Sie heißt Helga Bode. Mit ihr war ich auch ungefähr drei Jahre zusammen. Ich werde Ihnen gleich ihre Adresse und Telefonnummern geben. Irgendwo habe ich noch Visitenkarten von ihr.“ Steiner hatte währenddessen alles fleißig notiert.

„Inwiefern waren diese drei Frauen und auch Angela Jahn in Ihren Geschäften eingebunden oder über diese im Bilde?“

Nille verzog seine Lippen zu einer hässlichen Grimasse, die wohl ausdrücken sollte, dass er es selber nicht zu sagen vermochte. „Eigentlich habe ich mein Business immer von meinem Privatleben zu trennen vermocht. Die Mädchen hätten schon ziemlich gut kombinieren können müssen, um aus den paar Telefonaten, die ich in ihrem Beisein geführt hatte, ein Gesamtbild gewinnen zu können.“

„Sind diese denn solch geheimen Transaktionen, die Sie da durchziehen, dass andere nichts Genaues darüber wissen dürfen?“

„Natürlich nicht!“ entrüstete sich Nille. „Alles geht korrekt von Statten. Wie gesagt, ich trenne Beruf von Privatem und lehne darüber hinaus jegliche Fremdeinmischung ab. Weder wünsche ich eine Beeinträchtigung meiner Privatsphäre durch meine Geschäftspartner, noch umgekehrt meiner Geschäfte durch meine privaten Kontakte.“

„Das leuchtet ein,“ tat Harald so, als sei für ihn das Thema abgehakt, und steckte sein Notizbüchlein wieder ein. „Ich bin eigentlich im Büro der Frau Jahn erst einmal durch. Könnte sein, dass wir da später noch einmal genauer reinschauen müssen.“

„Soll mir recht sein.“

„Erlauben Sie mir, Frau Jahns Rechner sicherzustellen?“

„Gewiss doch. Nehmen Sie den ruhig mit.“

„Was gibt es sonst noch, was Frau Jahn hier hinterlassen hat?“

Nille zeigte Steiner Angelas Kleider- und Kosmetiksammlung, ihren überwiegend häuslichen Kleinkram auf dem Speicher und ihre spärlichen Möbel in der Garage. Von alledem schien Steiner nichts zu interessieren. Dann bat er Heiko darum, ihn in das Geschäftslokal in die Bonner Straße zu begleiten, das sie mit seinem Geld für ihre zukünftige selbständige Tätigkeit angemietet hatte. Da Harald zu Fuß gekommen war, fuhren sie mit Nilles Porsche dorthin. In dem großzügig bemessenen und gut aufgeräumten und sauberen, ehemaligen Konfektionsladen stand nur ein Verkaufstresen, der wohl vom Vorbesitzer stammte. In dessen Fächern fand Steiner wieder nur allerlei Prospekte vor. Auf dem Rückweg zur Villa in der Lindenallee bat Harald Nille, ihn vor Maître Andrés Laden herauszulassen, damit er seinen Dienstwagen für die weitere Fahrt bis zu Heikos Haus benutzen konnte, da er immerhin noch Angelas Rechner abholen wollte. Kaum hatte er den Computer im Beisein Nilles eingeladen, fragte er ihn: „Wer sind denn eigentlich die Bewohner der Parterrewohnung? Ich habe die Leute noch nicht kennenlernen dürfen.“

Heiko machte eine auf Gelangweilt hindeutende Geste. „Ein älteres Ehepaar. Er Musiklehrer, der manchmal noch privat bei sich zuhause Unterricht erteilt. Sie eine aufgedonnerte Madame, die ihre beiden Pudel morgens und abends Gassi führt.“

„Herr Nille, sicherlich werden wir nochmals auf Sie zukommen, aber augenblicklich habe ich keine weitere Fragen an Sie. Wie heißen denn Ihre Nachbarn im Erdgeschoss?

Robert Renner (72) und seine Frau Karmen (71) waren zuhause, als Steiner sie nach seiner Verabschiedung von Nille, aufsuchte. Die Renners waren äußerst biedere Leute, wie man es von ehemaligen Studienräten, was sie zu sein, schnell durchblicken ließen, erwartete.

Über den Tod Angela Jahns waren sie bereits von Heiko Nille informiert worden und dennoch nach wie vor äußerst bestürzt. Ihre Einstellung zu ihrem Nachbarn im Geschoss über ihnen war auch rasch auf den Punkt gebracht. „Ein feiner Mann, der Herr Nille, der keinem zur Last fällt und immer sehr hilfsbereit ist,“ erklärte Frau Renner. Ihr Mann ergänzte: „Im Gegensatz zu seinem Vorbewohner hat er sich nie darüber beklagt, wenn ich oder meine Schüler Klavier spielen. Andererseits hat er selber auch nie Krach erzeugt. Wenn man manchmal so hört, was andere Vermieter zu erleiden haben, dann haben wir es doch echt gut mit ihm getroffen.“

 

„Darf ich daraus schließen, dass Ihnen dieses Haus gehört?“

Karmen Renner schien vor Stolz zu platzen. „Ja, meine Eltern haben es von ihren Eltern geerbt, und ich habe es von meinen Eltern geerbt, Sie müssen wissen, meine Großeltern hatten…“

„Karmen, bitte!“ herrschte Robert Renner seine Frau an, „Den Herrn Hauptkommissar interessieren unsere Familienhistorien nicht,“ und wandte sich wieder an Steiner. „Was können wir für Sie tun, Herr Hauptkommissar?“

Harald wollte alles wissen, was mit Heiko Nille zu tun hatte, und bekam alles zu wissen, was die Renners über ihn wussten.

Nachdem die Kinder des Ehepaars Renner flügge geworden waren, hatten sie die Villa so umbauen lassen, dass das Obergeschoss und das Dachgeschoss eine eigene Einheit bildeten. Zudem hatten sie im hinteren Bereich ihres Grundstücks zwei Garagen für den oder die künftigen Mieter errichten lassen. Ihr erster Mieter war ein Luftikus gewesen, der nur moserte, aber selber in allem nachlässig und säumig war. Sie waren anfangs erstaunt gewesen, als sich ausgerechnet ein junger Mann von kaum 20 Jahren als Nachmieter dieser Wohnung beworben hatte. Immerhin war die Miete kalt auf 1.200 Euro festgesetzt worden und die Kaution auf weitere drei Monatsmieten. Aber Nille hatte anstandslos das Geld hingeblättert, und vor allem hatte er einen disziplinierten und kultivierten Eindruck vermittelt. Er war in den Jahren nicht ein einziges Mal säumig geblieben, auch nicht, was die Nebenkosten anging. Konform mit den Aussagen Nilles sagten die Rentner aus, dieser habe, seit seinem Einzug vor zirka acht Jahren, vier längere Verhältnisse mit „Damen“ gehabt, die auch längere Zeit hier gewohnt hatten. Sie konnten sich noch schwach an Maike Gröbe erinnern, umso besser an Aischa Gül und Helga Bode, und sowieso an Angela Jahn. Drei von diesen Frauen hätten sich ja besonders vorbildlich verhalten, nur diese Bode sei ihnen extrem arrogant vorgekommen, hieß es. Als Letzteres einmal ausgesprochen war, erging sich Karmen Renner in allerlei alltägliche Details, um die gemachte Behauptung zu untermauern. Was die Frau hervorhob, betraf vermeintlich oberflächliche Verfehlungen der Bode, diente Steiner aber zu den Ausgangspunkten einer näheren Charakterstudie dieser Person und rückte sie für ihn in den Bereich der interessanteren Figuren des Geschehens. Die Kernpunkte der Kritik Frau Renners an Helga Bode, - Herr Renner hielt sich diesbezüglich vornehm zurück -, waren ihre Nachlässigkeiten. Aus technischen Gründen hatten beide Wohnungen eine gemeinsame Waschküche im Keller. Helga, so die Renner, habe, wenn sie überhaupt mal die Waschmaschine benutzt hatte, immer wieder Wäscheteile herumliegen lassen. Das Bügelbrett habe sie niemals in Benutzung genommen… Und dann war da noch die Sache mit den Herrenbesuchen, die über Nacht blieben, wenn Heiko mal einige Tage abwesend war. „Robert hat sich immer die Kennzeichen der Autos notiert. Nicht wahr, Robert?“

Ihr Mann nickte verlegen und wich erläuternd aus. „Aber nur, weil du das so wolltest.“

„Na hör mal, Robert, wenn die Helga bei Nacht und Nebel hier ausgezogen wäre und Heikos Sachen oder sonst was mitgenommen hätte…“

„Hat sie aber nicht,“ fiel ihr Robert in die Rede. „Sie ist einfach ganz normal ausgezogen, und einige Wochen später ist die Angela eingezogen. Also sahen wir keine Veranlassung, noch mehr Öl ins Feuer zu gießen, indem wir dem Heiko etwas über diese Herrenbesuche gesteckt hätten.“

„Haben Sie diese Notizen zu den Kennzeichen noch?“ interessierte es Steiner.

„Aber ja doch,“ reagierte die Frau spontan, sprang wie ein Floh von ihrem Stuhl auf, eilte zum Büffetschrank und kehrte mit einer Ringkladde zum Tisch zurück. „Da haben wir erst einmal…“ Steiner konnte genau vernehmen, wozu diese Kladde angelegt worden war. Außer den Herrenbesuchen war jede kleinste Unstimmigkeit oder Besonderheit darin mit Datum und Uhrzeit vermerkt. Jeder Besucher, jede verspätete Müllabholung, jedwedes Erscheinen seltsamer Personen in Sichtweite des Hauses und sogar die Tatsache, dass ein Nachbar höchst eigenhändig eine Eiche in seinem Garten gefällt hatte.

Robert Renner erklärte hierzu entschuldigend: „Uns geht es nicht darum, Leute anzuzeigen, nur weil sie sich etwas merkwürdig benehmen. Aber wir leben in einer äußerst unsicheren Zeit. Da ist es besser, man dokumentiert solche Vorgänge für den Fall, so etwas müsse mal amtlich untersucht werden.“

Typische Bleistiftlutscher, dachte Harald. Doch ausnahmsweise war er froh, dass ausgerechnet die Renners so veranlagt waren. „Dürfte ich dieses Heft bitte mitnehmen, um es zu kopieren. Das könnte uns vielleicht im Mordfall der Frau Jahn weiterhelfen. Sie bekommen es auch sofort morgen wieder.“

Vor lauter Stolz, einer polizeilichen Behörde, ja, sogar einer kriminalpolizeilichen Behörde bei der Lösung eines Mordfalls dienlich sein zu dürfen, überschlugen sich die Renners regelrecht in Hilfsbereitschaft. Der Herr Hauptkommissar könne auch die anderen Hefte mitnehmen, und Steiner befand, das sei kein schlechter Vorschlag, insofern diese Niederschriften den gesamten Zeitraum seit Nilles Einzug in die Villa betrafen.

Als Harald seinen Mercedes zurücksetzte und davonfuhr, schaute ihm das Ehepaar hinterher, und sie sagte zu ihrem Mann: „Siehst du, Robert? Ich habe doch immer schon gesagt, dass wir diese Notizen nichts für nichts angelegt haben.“

Auch Heiko Nille hatte rausgesehen, als der Hauptkommissar losfuhr. Er schaute auf die Küchenuhr. Es war bereits 14.40 Uhr durch. Steiner, so stellte er nun fest, hatte sich ziemlich lange mit ihm, dem Abstecher zu Angelas Laden und den Renners aufgehalten. Stand er, Heiko, eventuell doch unter Mordverdacht? Absurd! Vollkommen absurd! Er hatte doch nun wirklich keinen Grund gehabt, Angela umbringen zu wollen. Das hatte dieser Steiner sicherlich längst begriffen. Und trotzdem hatte er sich so lange hier aufgehalten. Ein hartnäckiger Typ, dieser Polyp. Plötzlich überlagerten andere Gedanken Heikos Grübeln um die Vorgehensweisen des Kriminalers. Ihm fiel ein, dass der Erpresser ihn an diesem Morgen genau zu dem Zeitpunkt angerufen hatte, als er aus dem Bett gekrochen war und ihn, obwohl es bereits später Vormittag gewesen war, gefragt hatte, ob er gut geschlafen hatte, und er hatte eine Bemerkung über Heikos Alkoholexzess gemacht. Aber woher sollte er überhaupt gewusst haben, wann Heiko aufgestanden war und dass er sich in der Nacht vorher hatte volllaufen lassen? Konnte jemand im Haus gewesen sein? Auch absurd! Die Wohnung war zwar groß, aber sie war auch gemäß ihrer Einrichtung nicht gerade dafür ausgelegt, erfolgreich Verstecken spielen zu können. In ein noch so gut gesichertes Haus herein- und wieder herauszukommen, so wusste Nille aus eigener Erfahrung, ist kein Ding der Unmöglichkeit. Allerdings sich unbemerkt darin aufzuhalten, während die Bewohner selber anwesend sind, das grenzt schon ans Fantastische. Da hatte er die Eingebung. Irgendwer überwachte ihn per Video. Diese Kameras waren ja heutzutage inzwischen so klein wie Nadelköpfe, die Mikrofone auch. Na klar, man hatte ihm heimlich diese Dinger in seiner Wohnung installiert, und mit Gewissheit waren sie noch da. Am Morgen müssen sie jedenfalls noch dagewesen sein. Also mussten sie auch jetzt noch da sein. Wie sonst hätte dieser Fiesling wissen können, wann er aufgestanden war? Sollte er sie suchen? Nein. Vielleicht ließ sich aus dem Wissen um das, was er eigentlich nicht wissen sollte, anderswie Kapital schlagen. Ihm schwebte bereits schemerhaft vor, wie er das anzustellen hatte. Denn, wie hieß es doch so schön? „Einem nackten Mann kann man nicht in die Tasche greifen.“