Ius Publicum Europaeum

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In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wurden in Belgien tiefgreifende Reformen eingeleitet. Vielfach wurde kritisiert, dass in der Zeit des gerade errungenen allgemeinen Wahlrechts eine echte Verwaltungsgerichtsbarkeit fehlte. Auch war die fehlende Verantwortlichkeit der Verwaltung für ihre hoheitlichen Handlungen nicht mehr haltbar.

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Im belgischen Zivilrecht war in dieser Hinsicht das La Flandria-Urteil vom 5. November 1920[65] ein entscheidender Meilenstein. In diesem wurde die Stadt Brügge dazu verurteilt, den Schaden auszugleichen, der durch einen auf kommunalem Grund umgestürzten Baum an den Pflanzen eines Gärtnereibetriebes entstanden war. Die konkreten Auswirkungen dieses Urteils blieben jedoch zunächst begrenzt. Es sollte nämlich noch bis 1963 dauern, bevor der Kassationshof erstmals feststellte, dass die Verwaltung durch den Erlass einer Verwaltungsmaßnahme eine rechtswidrige Handlung vorgenommen habe,[66] und erst 1980 entschied er, dass es den ordentlichen Gerichten obliege, die Verwaltung zur Wiedergutmachung eines durch ihr Fehlverhalten entstandenen Schadens durch Naturalrestitution zu verurteilen, sofern eine solche möglich ist und nicht auf der missbräuchlichen Ausübung eines Rechtes beruht.[67] Nichtsdestotrotz stellte bereits das La Flandria-Urteil den Anstoß für eine Haftung des Staates dar.

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Bezüglich des politischen Kontexts des La Flandria-Urteils ist anzumerken, dass die Regierung in dieser Zeit ein Änderungsvorhaben hinsichtlich der Art. 25, 105 und 106 Belg. Verf. (damals Art. 33, 157 und 158) verfolgte. Auf diese Weise wollte sie die Errichtung einer echten Verwaltungsgerichtsbarkeit ermöglichen, mit einem Staatsrat, der nach französischem Vorbild an der Ausarbeitung der Gesetze beteiligt gewesen wäre, zugleich aber auch Zuständigkeiten für Verwaltungsstreitsachen inne gehabt hätte. Die Debatte in den Ausschüssen der Abgeordnetenkammer[68] und des Senats[69] war lebhaft, wobei beide einer Verfassungsänderung, durch die die Einrichtung einer solchen Gerichtsbarkeit ohne weitere Maßnahme des Gesetzgebers ermöglicht worden wäre, sehr reserviert gegenüberstanden. Zumindest dem Anschein nach war ja durch das La Flandria-Urteil[70] das Problem der Entschädigungsansprüche insoweit bereits ausgeräumt worden, als der Kassationshof „den Gerichten die von diesen zuvor abgelehnte, vollständige Gerichtsbarkeit zurückgegeben hatte“[71]. 1921 wurde dieses Vorhaben der Errichtung eines Staatsrates mangels der hierfür notwendigen qualifizierten Mehrheit aufgegeben,[72] die Idee lebte allerdings in der Rechtslehre fort.

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Während der damaligen Krise der belgischen Verfassungsordnung[73] veröffentlichte Henri Velge, späterer Präsident des Staatsrates, 1930 das Werk „L’Institution d’un Conseil d’État en Belgique“.[74] Im selben Jahr legte Graf Carton de Wiart der Abgeordnetenkammer einen Gesetzesvorschlag zur Schaffung eines Verwaltungsgerichtshofs vor, der jedoch wegen der Auflösung des Parlaments hinfällig wurde. Am 26. Januar 1934 brachte Graf Carton de Wiart, unterstützt von König Albert, seinen Vorschlag ein weiteres Mal ein, scheiterte jedoch auch diesmal aus denselben Gründen.

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Dennoch ging die Debatte weiter, gerade auch in der Rechtslehre. In diesem Sinne trafen sich beispielsweise die Rechtswissenschaftlichen Fakultäten der vier belgischen Universitäten[75] auf Initiative der Universität Lüttich, um die Errichtung eines für Verwaltungsstreitsachen zuständigen Organs zu diskutieren und einen Vorschlag für ein Gesetzesvorhaben zum Aufbau eines Verwaltungsgerichtshofes zu erarbeiten.[76]

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1937 wurde die Bildung eines Staatsrates Teil des Programms der Regierung Van Zeeland. Zu diesem Zweck wurde ein außerparlamentarischer Ausschuss unter dem Vorsitz von Henri Rolin, Mitglied des Kassationshofes, eingesetzt. Am 24. März 1937 wurde beim Präsidium der Abgeordnetenkammer ein Gesetzesentwurf eingereicht und der dritte Vorstoß von Graf Carton de Wiart als Anhang beigefügt. Die Abgeordnetenkammer verabschiedete diesen Gesetzesentwurf am 12. April 1938, der Senat folgte am 5. Juli 1939, wobei dieser den Umfang der Befugnisse des Gerichtshofes ausdehnte, insbesondere bezüglich der Frage der Anfechtungsstreitigkeiten.

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Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der abgeänderte Gesetzentwurf von der Abgeordnetenkammer am 20. Dezember 1945 und vom Senat am 11. Dezember 1946 angenommen und das Gesetz vom 23. Dezember 1946 über die Einrichtung eines Staatsrates verabschiedet.[77] Es trat gemäß Erlass des Regenten vom 21. August 1948 am 23. August 1948 in Kraft. Mehrere Durchführungsverordnungen wurden noch am selben Tag erlassen, so unter anderem der Erlass des Regenten über das Verfahren vor der Abteilung für Verwaltungssachen des Staatsrates (VVerwSSRE)[78].

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Das erste Gutachten der Gesetzgebungsabteilung des Staatsrates wurde am 21. September 1948 veröffentlicht, die ersten Entscheidungen der Abteilung für Verwaltungssachen (heute: Verwaltungsstreitsachenabteilung) ergingen am 8. November 1948.

§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › II. Entstehungsgeschichte und Entwicklung › 2. Wichtigste Entwicklungen und Krisen bzw. Konflikte

2. Wichtigste Entwicklungen und Krisen bzw. Konflikte

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Der Rechtsrahmen, in den die Institution Staatsrat eingebettet ist, unterlag in den folgenden Jahrzehnten einer stetigen Weiterentwickelung. Durch Gesetz vom 11. Juni 1952[79] wurde das bisherige Erfordernis bereits abgeleisteter Berufsjahre, die ein im Rechtsanwaltsverzeichnis der Anwaltskammer eingetragener Rechtsanwalt tätig sein musste, damit er als Beistand oder Vertretung einer Streitpartei vor dem Staatsrat auftreten durfte, gestrichen. Zwei Jahre später – am 18. März 1954[80] – schuf man die Möglichkeit eines Wiederaufnahmeverfahrens. Des Weiteren traf ein Gesetz vom 15. April 1958[81] Regelungen über die Gerichtssprachen. Dasselbe Gesetz bestimmte, dass die Mitglieder des Auditorats am Ende der Verhandlung in Verwaltungsstreitsachen ein Gutachten abzugeben haben.

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Besonders hervorzuheben ist die weitere Veränderung des Staatsrates infolge eines Gesetzes vom 3. Juni 1971.[82] Durch dieses wurde zum einen die Zuständigkeit für Entschädigungssachen novelliert, die bislang, wie André Mast feststellte, der „Unergiebigkeit und dem Dahinsiechen“[83] überlassen waren. Fortan hatte der Staatsrat diesbezüglich Spruchkompetenz, statt zu solchen Fragen lediglich ein Gutachten erstellen zu können. Zum andern wird seitdem das Schweigen der Verwaltung als ablehnender Entscheid betrachtet, gegen den Klage erhoben werden kann – ein weiterer wichtiger Entwicklungsschritt. Schließlich sind die Verwaltungsgerichte von nun an an eine vom Staatsrat entschiedene Rechtsauslegung gebunden.

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Sämtliche Gesetze über den Staatsrat, die nach dessen Errichtung verabschiedet wurden, wurden schließlich durch königlichen Erlass vom 12. Januar 1973[84] aufeinander abgestimmt. Die Gesetze vom 23. Dezember 1946 wurden entsprechend angepasst und werden seitdem als koordinierte Gesetze über den Staatsrat (KGSR) bezeichnet.

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Der Staatsrat wagte sich nach und nach auch auf rechtspolitisches Gebiet vor, u.a. bei den Konflikten zwischen den Sprachgemeinschaften (insbesondere in Voeren [frz. Fourons] und Gemeinden der Brüsseler Peripherie).[85] Im August 1978 legte beispielsweise die Gesetzgebungsabteilung der Regierung Tindemans mehrere Gutachten zum Gesetzentwurf Nr. 461 über eine Institutionenreform (sog. Egmont-Stuyvenberg-Entwurf, durch den zwei politische Übereinkommen bzgl. der Reform des Staates, durch die drei Regionen geschaffen wurden, institutionell verankert werden sollten) vor. Darin formulierte der Staatsrat verfassungsrechtliche Bedenken bzgl. einiger Bestimmungen, die französischsprachigen Einwohnern der Brüsseler Peripherie das Recht zustanden, durch die Wahl eines fiktiven Wohnsitzes in einer der Brüsseler Gemeinden bestimmte öffentliche Rechte gegenüber der Verwaltung ausüben zu können.[86] Die Reaktionen der Presse und der Regierungsparteien führten zum Rücktritt des Premierministers.[87]

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Da sich Belgien zunehmend zu einem föderalen Staat mit zentrifugalen Kräften entwickelte, übertrug das Institutionenreformgesetz vom 9. August 1980[88] der Gesetzgebungsabteilung des Staatsrates die Aufgabe, Kompetenzstreitigkeiten zwischen dem Staat und den föderierten Teilgebieten (Gemeinschaften und Regionen) vorzubeugen. Zuständigkeitskonflikte zwischen dem Regelungsbereich von Bundesgesetzen und Dekreten sollten ursprünglich durch eine Abteilung für Zuständigkeitskonflikte geklärt werden. Diese wurde jedoch niemals eingerichtet; mit Verfassungsergänzungsgesetz vom 28. Juni 1983 wurde an deren Stelle der Schiedshof (heute: Verfassungsgerichtshof) geschaffen (Art. 142 Belg. Verf. [früher: Art. 107ter]).

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Der Staatsrat erhielt durch Art. 15 des Gesetzes vom 16. Juni 1989 über verschiedene Reformen der Institutionen[89] die Befugnis, den Vollzug einer Verwaltungsmaßnahme auszusetzen, sofern vom Kläger vorgebracht wird, Art. 10, 11 oder 24 Belg. Verf. (früher: Art. 6, 6bis und 17) seien verletzt. Ein allgemeines vorläufiges Rechtsschutzverfahren für Verwaltungssachen wurde durch das am 22. Oktober 1991 in Kraft getretene Gesetz vom 19. Juli 1991 zur Änderung der koordinierten Gesetze über den Staatsrat[90] eingeführt. Seither sind Anträge auf Aussetzung des Vollzugs einer Verwaltungsmaßnahme auch aus weiteren ernstzunehmenden Gründen möglich. Erforderlich war im Rahmen dieses allgemeinen vorläufigen Rechtsschutzverfahrens zunächst allerdings, dass der Kläger belegte, dass ihm ein schwerer und nur schwer wiedergutzumachender Schaden drohte. Diese Voraussetzung wurde 2014 durch ein Dringlichkeitserfordernis ersetzt. Auch der Begriff der „Dringlichkeit“ ist jedoch ein „einem ständigen Wandel unterworfener Begriff […], der im Zusammenhang mit der üblichen Verfahrensdauer bei Nichtigkeitsklagen zu betrachten ist“[91].

 

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Diese Reform war eine Reaktion auf in der Rechtslehre geäußerte Kritik, die das fehlende Verfahren zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes im Verwaltungsgerichtsverfahren bemängelt hatte. Das Erfordernis einstweiligen Rechtsschutzes ergibt sich daraus, dass zugunsten der Verwaltung die Vermutung der Rechtmäßigkeit ihrer Maßnahmen eingreift, die sie zudem durch Zwangsmaßnahmen durchsetzen kann. Ein Rechtsschutz in der Hauptsache kann daher nicht immer rechtzeitig erfolgen. Beispielsweise erklärte der Staatsrat am 11. Februar 1977 zwei rechtswidrige Erlasse des ständigen Ausschusses des Provinzialrates von Brabant vom 19. und 26. Juni 1975, die zwei Rennen einschließlich Vorbereitungstraining auf der Rennstrecke Nivelles-Baulers genehmigt hatten, erst lange nach der bereits tatsächlich erfolgten Durchführung der Rennen für nichtig.[92] Zwar gewährten die ordentlichen Gerichte zu dieser Zeit bereits einstweiligen Rechtsschutz, um Rechtsnormen der ausführenden Gewalt nicht anzuwenden (dies zunächst nur in Fällen offensichtlich rechtswidriger Maßnahmen, anschließend in zunehmend allgemeinerer Weise[93]). Dennoch blieb das System des einstweiligen Rechtsschutzes gegen Verwaltungsmaßnahmen lange widersprüchlich, auch wenn das Gesetz vom 15. Dezember 1980 über die Einreise, den Aufenthalt, die Niederlassung und die Ausweisung von Ausländern dem Staatsrat erstmalig die Möglichkeit eröffnete, in dem sehr begrenzten Gebiet des Asylrechts eine Verwaltungsmaßnahme auszusetzen.

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1993 wurde der Begriff der „Verwaltungsgerichtsbarkeit“ endlich auch im Text der Verfassung (Art. 161) verankert.[94] Auch das Bestehen und die Aufgaben des Staatsrates bekräftigte der Verfassungsgesetzgeber in Art. 160 Belg. Verf.

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Die Verwaltungssachenabteilung wurde durch Gesetz vom 15. September 2006[95] in Verwaltungsstreitsachenabteilung umbenannt. Dieses Gesetz richtete – und dies ist bemerkenswert – auch ein Gericht für Ausländerrechtsstreitsachen ein.[96] Auch in Belgien steigt die Anzahl der Verwaltungsstreitsachen – wie in vielen westlichen Staaten – kontinuierlich an. Dies hat eine stetig steigende Dauer der anhängigen Verfahren zur Folge. Gleichzeitig gab es eine Reihe von Verurteilungen des belgischen Staates durch belgische Gerichte[97] und den EGMR wegen überlanger Verfahrensdauern. Ein Geschäftsbericht betonte 1996 den „erheblichen Anstieg der Begutachtungsanträge innerhalb der vergangenen fünf Jahre sowie, in noch viel stärkerem Maße, der Nichtigkeitsklagen und Aussetzungsanträge“. Dies war insbesondere auf die massive Zunahme der Rechtsstreitigkeiten im Bereich des Ausländerrechts zurückzuführen.[98] Die Schaffung eines Gerichts für Ausländerrechtsstreitigkeiten ist daher im Wesentlichen eine Antwort auf die erhebliche Überlastung des Staatsrates mit derartigen Streitigkeiten. Seit dem Reformgesetz des 19. Juli 1991, durch das ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vor dem Staatsrat geschaffen wurde,[99] ist das Gesetz vom 15. September 2006 zweifelsohne die bedeutendste Reform.[100]

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Auch das Revisionsverfahren vor dem Staatsrat wurde grundlegend novelliert, zunächst durch das bereits erwähnte Gesetz vom 15. September 2006,[101] des Weiteren durch einen königlichen Erlass vom 30. November 2006.[102]

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Ein Gesetz vom 23. Dezember 2009[103] ergänzte das Gesetz vom 24. Dezember 1993 über Aufträge der öffentlichen Hand und bestimmte öffentliche Bauleistungs-, Liefer- und Dienstleistungsaufträge um einen zusätzlichen Abschnitt zu Begründungs- und Informationspflichten sowie verfügbaren Rechtsmitteln und führte ein besonderes gerichtliches Verfahren für Verwaltungsmaßnahmen im Zusammenhang mit öffentlichen Aufträgen ein. Hierdurch wurde zum einen die generelle Anwendbarkeit der Vorschriften des Eilverfahrens auch auf derartige Fälle klargestellt. Zum anderen erfolgte 2014 die Streichung der im Eilverfahren bis dahin vorgesehenen Voraussetzung der Darlegung eines drohenden schweren und nur schwer wiedergutzumachenden Schadens. Des Weiteren ist die Vergabebehörde seither verpflichtet, zwischen der Vergabeentscheidung und deren Mitteilung an den Auftragnehmer eine Frist einzuhalten, die es den unterlegenen Bietern ermöglichen soll, den Staatsrat im Eilverfahren anzurufen.

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Auch die sechste Staatsreform führte zu einer Veränderung der Zuständigkeiten des Staatsrates. In Folge eines ersten Gesetzes vom 6. Januar 2014 über die sechste Staatsreform und die in Art. 77 der Verfassung aufgezählten Angelegenheiten[104] ist er fortan auch zuständig, privatrechtliche Folgen seiner Entscheidungen im Rahmen einer Nichtigkeitsklage festzulegen, sofern dem Kläger durch die Rechtswidrigkeit der für nichtig erklärten Maßnahme ein Schaden entstanden ist. Eine umfassende Novellierung des Verfahrens und der Zuständigkeiten des Staatsrates erfolgte darüber hinaus durch Gesetz vom 20. Januar 2014[105]. In den Worten von Geert Debersaques und Frederic Eggermont stellt dieses Gesetz „die größte Reform des Staatsrates seit den großen (strukturellen) Änderungen durch das Gesetz vom 15. September 2006“[106] dar. Zu den erfolgten Änderungen zählt insbesondere, dass fortan eine Anrufung des Ombudsmanns die Frist für eine Klage vor dem Staatsrat hemmt,[107] dass eine nichtige Verwaltungsmaßnahme geheilt werden kann, d.h. dass im Rahmen eines Verwaltungsprozesses der beklagten Behörde die Möglichkeit eingeräumt wird, einen festgestellten Mangel der Verwaltungsmaßnahme zu beseitigen (diese Heilungsmöglichkeit wurde vom Verfassungsgerichtshof allerdings für verfassungswidrig erklärt[108]), dass die Möglichkeit einer Verfahrensentschädigung besteht, und die oben bereits erwähnte Ersetzung des „drohenden schweren und schwer wiedergutzumachenden Schadens“ im einstweiligen Rechtsschutz durch die Voraussetzung der „Dringlichkeit“.[109]

§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › III. Funktion und Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit

III. Funktion und Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit

§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › III. Funktion und Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit › 1. Objektiver oder subjektiver Rechtsschutz bzw. Schutz individueller Rechte oder des öffentlichen Interesses?

1. Objektiver oder subjektiver Rechtsschutz bzw. Schutz individueller Rechte oder des öffentlichen Interesses?

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1949 erhielt der Staatsrat ausdrücklich die Zuständigkeit, in rein objektiven Rechtsstreitigkeiten Nichtigkeitserklärungen auszusprechen. Ursprünglich war für eine Anrufung des Staatsrates also keine subjektive Rechtsverletzung erforderlich.[110] Das Interesse an der Einhaltung des objektiven Rechts durch die Verwaltung war ausreichend,[111] sodass der Fokus des Verfahrens vor dem Staatsrat auf formalen Aspekten und nicht auf dem Schutz individueller Rechtspositionen lag.[112] Somit ist die Nichtigkeitsklage nach Art. 14 § 1 KGSR ein Verfahren zur Prüfung der objektiven Rechtmäßigkeit einer Verwaltungsmaßnahme. Die Nichtigkeitserklärung einer Verwaltungsmaßnahme als Ergebnis eines solchen Verfahrens stellt von Verfassungs wegen keine Wiedergutmachung für die Verletzung eines subjektiven Rechts in Form der Naturalrestitution dar. Vielmehr markiert sie allein das Ende des Gerichtsprozesses gegen die konkrete Verwaltungsmaßnahme. Damit ordnet das Gesetz, anders formuliert, objektive Rechtsstreitigkeiten, welche die Rechtmäßigkeit oder die Einhaltung der Normen des objektiven Rechts zum Gegenstand haben, generell den Verwaltungsgerichten zu.

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Mittlerweile setzt die Nichtigkeitsklage allerdings voraus, dass der Kläger ein individuelles Interesse an der Nichtigkeitserklärung des angegriffenen Aktes besitzt. Dieses Rechtsschutzinteresse ist „im Zusammenhang mit der Art des angefochtenen Rechtsaktes und der sich aus dieser Art ergebenden Rechtsfolgen zu würdigen“[113]. Somit sind Klagen im reinen Allgemeininteresse ausgeschlossen. Der Staatsrat hat in diesem Zusammenhang bereits entschieden, dass „[die] Zulässigkeit einer Klage vor der Würdigung der Klagegründe zu prüfen ist. Dass ein zur Bekräftigung der Klage vorgetragener Beschwerdegrund [im Rahmen der Begründetheit] von Amts wegen zu prüfen ist, […] hat keine Auswirkungen auf die Frage des Rechtsschutzinteresses des Klägers im Rahmen der Zulässigkeit. Andernfalls müsste immer, wenn eine Klage einen von Amts wegen zu prüfenden Gesichtspunkt anführt, eine Popularklage zugelassen werden.“[114]

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Somit muss stets ein Rechtsschutzinteresse dargelegt werden, damit eine Nichtigkeitsklage zulässig ist. Vor 2014 genügte für die automatische Herbeiführung einer Nichtigkeitserklärung des angegriffenen Rechtsaktes, sofern ein derartiges Rechtsschutzinteresse nachgewiesen wurde, bereits die alleinige Berufung auf einen von Amts wegen zu prüfenden Gesichtspunkt. Der Staatsrat hatte nämlich entschieden, dass „der Kläger sein Interesse an der Geltendmachung eines von Amts wegen zu berücksichtigenden Gesichtspunktes nicht zu belegen“[115] braucht. Nach der Reform von 2014 muss er jedoch das Rechtsschutzinteresse des Klägers für jeden einzelnen Punkt prüfen. Somit bedarf es also auch eines besonderen Rechtsschutzinteresses bezüglich der von Amts wegen zu prüfenden Gesichtspunkte. Ein von einem Verband oder einer Vereinigung vorgebrachtes Kollektivinteresse genügt allerdings.[116]

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Trotz des objektiven Rechtsschutzcharakters der Nichtigkeitsklage finden auch die subjektiven Rechte des Klägers Berücksichtigung. Zum einen schützt Art. 11 KGSR durch die Möglichkeit eines Entschädigungsgesuchs das Rechtsschutzinteresse von Privatpersonen. Hierfür wird eine Abwägung zwischen den Rechtspositionen der geschädigten Einzelpersonen und den Bedürfnissen der Öffentlichkeit vorgenommen: „Ist kein anderes Rechtsprechungsorgan zuständig, befindet die Verwaltungsstreitsachenabteilung nach Billigkeit und unter Berücksichtigung aller Umstände des öffentlichen und privaten Interesses durch Urteil über Klagen auf Ersatz der außergewöhnlichen, von einer Verwaltungsbehörde verursachten immateriellen oder materiellen Schäden.“ Auch hierbei geht es jedoch streng genommen nicht um die Durchsetzung eines subjektiven Rechts, denn der Behörde wird keinerlei Fehlverhalten zur Last gelegt.[117]

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Gleiches gilt für den neu eingefügten Art. 11bis KGSR. Dieser bestimmt, dass „[j]ede klagende oder beitretende Partei, die in Anwendung von Art. 14 § 1 oder § 3 eine Klage zur Erklärung der Nichtigkeit eines Aktes, einer Verordnung oder einer stillschweigenden Abweisungsentscheidung einleitet, […] die Verwaltungsstreitsachenabteilung ersuchen [kann], ihr durch Urteil eine Entschädigung zu Lasten des erlassenden Organs unter Berücksichtigung aller Umstände des öffentlichen und privaten Interesses zu gewähren, wenn dieser Partei infolge der Rechtswidrigkeit eines Aktes, einer Verordnung oder einer stillschweigenden Abweisungsentscheidung ein Nachteil entstanden ist.“

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Damit besteht für den von einer Verwaltungsmaßnahme Geschädigten die Möglichkeit der Erlangung einer Entschädigung, ohne zuvor den Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten beschreiten zu müssen Dies greift die Lehren aus dem La Flandria-Urteil[118] des Kassationshofes wieder auf. Die Entschädigung gem. Art. 11 und 11bis KGSR unterscheidet sich jedoch vom Schadensersatz nach Art. 1382 Code civil (klassische zivilrechtliche außervertragliche Haftung) insofern, als sie vom Staatsrat unter Berücksichtigung „aller Umstände des öffentlichen und privaten Interesses“ nach Ermessen festgelegt wird. Eine Partei, die vor dem Staatsrat um Entschädigung ersucht, kann keine Schadensersatzklage vor den Zivilgerichten für die Wiedergutmachung desselben Schadens mehr erheben.[119]

 

§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › III. Funktion und Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit › 2. Verwaltungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung, Verhältnis zu politischen Staatsorganen und zur Verwaltung