Ius Publicum Europaeum

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

c) Alternative Formen der Streitbeilegung

40

Vor allem in den skandinavischen Ländern haben alternative Formen der Streitbeilegung eine lange Tradition. Eine herausragende Rolle nimmt insoweit der Justizombudsmann in Schweden ein. Er ist seit der Staatsreform von 1809 für die Kontrolle der Gerichte zuständig[152] und kann etwa gegen die Untätigkeit oder bei einer zu langsamen Bearbeitung von Fällen angerufen werden.[153] Im Rahmen seiner Ermittlungen tritt er sowohl mit dem sich durch den Bescheid benachteiligt fühlenden Kläger als auch mit den Vertretern der Behörde in Kontakt. Eine Einigung kann er aber nicht erzwingen und ebenso wenig Schadensersatz zusprechen.[154]

41

Die meisten Rechtsordnungen haben dieses Modell mehr oder weniger übernommen. Ombudsleute[155] finden sich heute etwa in Belgien,[156] Frankreich,[157] Großbritannien,[158] den Niederlanden,[159] Österreich, wo sie die Bezeichnung Volksanwältinnen und Volksanwälte führen,[160] Polen,[161] einzelnen Kantonen und Städten der Schweiz[162] sowie in Ungarn.[163]

42

Mit dem Maastrichter Vertrag hat der Europäische Bürgerbeauftragte auch in das Unionsrecht Eingang gefunden.[164] Der Vertrag von Lissabon regelt ihn in Art. 24 Abs. 3 und in Art. 228 AEUV. Auch wenn der Bürgerbeauftragte keine rechtlich bindenden Entscheidungen treffen kann,[165] dient seine Anrufung nicht nur der Durchsetzung individueller Interessen, sondern auch der objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU.[166] Beim Europäischen Bürgerbeauftragten handelt es sich um eine beim Europäischen Parlament gebildete allgemeine Beschwerdeinstanz, die von jeder Unionsbürgerin und jedem Unionsbürger sowie jeder natürlichen oder juristischen Person mit Wohnort oder satzungsmäßigem Sitz in der EU angerufen werden kann. Die Beschwerde beim Bürgerbeauftragten ergänzt das Petitionsrecht der Art. 24 und 227 AEUV und wird auch vom Kommunikationsrecht des Art. 24 UAbs. 4 AEUV abgedeckt. Sie ist gegenüber anderen Rechtsbehelfen nicht subsidiär. Nach Art. 228 Abs. 1 AEUV ist der Bürgerbeauftragte darüber hinaus befugt, von jeder natürlichen oder juristischen Person mit Wohnort oder satzungsmäßigem Sitz in einem Mitgliedstaat erhobene Beschwerden zu prüfen. Damit leistet er zugleich einen Beitrag zur objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle des Handelns von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU.[167]

43

In Deutschland[168] hat man auf Ombudsstellen zwar mit Blick auf den umfassenden gerichtlichen Verwaltungsrechtsschutz verzichtet; ersatzweise hat man hier aber auf Bundes- wie auf Landesebene eine ständig wachsende Zahl von „Beauftragten“ eingerichtet, die teils vom Parlament, teils von der Regierung eingesetzt werden und für bestimmte Bereiche verantwortlich zeichnen (z.B. der Wehrbeauftragte, der Datenschutzbeauftragte, der Ausländerbeauftragte, der Gleichstellungsbeauftragte, der Antisemitismusbeauftragte, der Suchtbeauftragte u.v.a.m.).[169] Allein die Bundesregierung hat derzeit 38 Beauftragte benannt (Stand: August 2018). Deren inflationärer Einsatz wird allerdings zunehmend kritisch gesehen, weil er – je nach Ausgestaltung – dem Parlament entweder eine Art Nebenregierung ermöglicht oder der Regierung eine weitere Disziplinierung des Parlaments,[170] ohne dass der Ertrag für den Verwaltungsrechtsschutz hinreichend deutlich würde.[171]

44

Ungarn hat nicht nur Ombudsleute und einen „Unabhängigen Beschwerdeausschuss Öffentliche Ordnung“ eingerichtet; Verwaltungsrechtsschutz wird hier in Form einer (primär objektiven) „Gesetzlichkeitsaufsicht“ der Sache nach auch durch die Staatsanwaltschaft gewährt.[172] Vergleichbares gilt für Polen.[173] Das ist mit Blick auf den europäischen Rechtsraum eher außergewöhnlich und dürfte ein Überbleibsel aus dem Sozialismus sein.

45

In allen (Teil-)Rechtsordnungen haben darüber hinaus alternative Formen der Streitbeilegung wie Schiedsverfahren oder die Mediation an Bedeutung auch für den Verwaltungsrechtsschutz gewonnen. Das gilt vor allem dort, wo verwaltungsgerichtliche Verfahren besonders lange dauern.[174] Insofern „flankieren“ diese Instrumente den Verwaltungsrechtsschutz im engeren Sinne,[175] ersetzen können sie ihn nicht.[176]

46

Von Privaten eingesetzte Schiedsgerichte erfüllen die Anforderungen der Rechtsschutzgarantie dagegen nicht, weil sie keinen rechtsstaatlichen Grundsätzen genügenden Rechtsschutz bieten. Sie können die Gerichte nicht ersetzen und die Richter weder hinsichtlich des Beweisergebnisses noch hinsichtlich der Rechtsfragen binden.[177]

§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › IV. Verfassungsrechtliche Anforderungen an den „Rechtsweg“ und seine Ausgestaltung › 3. Primär- und Sekundärrechtsschutz

3. Primär- und Sekundärrechtsschutz

a) Vorrang des Primärrechtsschutzes

47

Die Ausweitung des Verwaltungsrechtsschutzes auch auf Sekundäransprüche gehört zu den moderneren Entwicklungen des Verwaltungsrechts.[178] Zwar zielen die Garantien effektiven Rechtsschutzes in der Regel darauf ab, die Integrität der von der öffentlichen Gewalt betroffenen (Grund-)Rechte zu gewährleisten, d.h. auf gerichtlich durchsetzbare Unterlassungs- und (Folgen-)Beseitigungsansprüche; moderne Interpretationsansätze erstrecken sie jedoch zunehmend auch auf Sekundäransprüche.

48

Die Zuerkennung bestimmter Kompensationsansprüche kann allerdings auch Teil des Primärrechtsschutzes sein. So ist etwa in Deutschland die Figur der sog. ausgleichspflichtigen Inhaltsbestimmungen des Eigentums, bei der die Intensität eines Eingriffs (vor allem) in das Schutzgut der Eigentumsgarantie – etwa im Polizei-, Bauplanungs-, Denkmal- und Naturschutzrecht – durch eine finanzielle Entschädigung gesenkt und dadurch seine Verhältnismäßigkeit sichergestellt wird,[179] unmittelbarer Ausfluss des grundrechtlichen Abwehr- und Beseitigungsanspruchs. Vom Vorhandensein einer entsprechenden Entschädigungsregelung hängt es daher in derartigen Fällen ab, ob der in Rede stehende Akt der öffentlichen Gewalt eine Rechtsverletzung bewirkt oder nicht.[180]

49

Kompensationsansprüche stehen den Betroffenen grundsätzlich nur nachrangig zu. In aller Regel haben sie nicht die Wahl zwischen primär- und sekundärrechtlichen Ansprüchen. Insoweit gilt in den meisten europäischen Rechtsordnungen ein Vorrang des Primärrechtsschutzes.[181] Der noch aus dem Spätabsolutismus überkommene Grundsatz des „dulde und liquidiere“, wie ihn etwa §§ 74, 75 Einl. PrALR vorsahen, ist heute überholt.[182] Auch in dieser Hinsicht deckt sich die verfassungsrechtliche Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes mit den Vorgaben der EMRK, die ausweislich der Art. 13 und 41 EMRK in erster Linie auch eine restitutio in integrum verlangt.[183]

b) Sekundärrechtsschutz als „Minus“

50

Unabhängig davon, auf welcher Grundlage sie beruht, ist eine Staatsunrechtshaftung ein wesentlicher Teil des Verwaltungsrechtsschutzes. Auch soweit den einschlägigen Verfassungsbestimmungen – wie etwa in Deutschland Art. 34 GG – selbst keine Grundrechtsqualität zukommt,[184] stellen sie ein wichtiges Mittel zum Schutze des Bürgers vor der öffentlichen Gewalt dar und sind heute als Teil des verfassungsrechtlich gebotenen Verwaltungsrechtsschutzes anerkannt. Denn auch durch die Gewährung (subsidiärer) Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche sichern sie – gleichsam als „Minus“ gegenüber dem Primärrechtsschutz – ein Minimum an Integrität der betroffenen Rechte gegenüber der öffentlichen Gewalt.[185] Das französische und das griechische Verwaltungsrecht gehen sogar von einer verschuldensunabhängigen Haftung der Verwaltung für Schäden aus, die durch ihr Handeln verursacht werden.[186] Diese Haftung wird teils als Gefährdungshaftung konstruiert, teils aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz abgeleitet.

§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › V. Praktische Konsequenzen der verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes

V. Praktische Konsequenzen der verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes

51

Als „systemprägende Leitvorstellung“[187] für die einfach-gesetzliche Ausgestaltung des (Verwaltungs-)Rechtsschutzes entfaltet eine verfassungsrechtliche Garantie Direktionskraft auch bei Auslegung und Anwendung des Prozessrechts durch den Richter[188] und verpflichtet ihn zu einer möglichst wirksamen gerichtlichen Kontrolle.[189]

§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › V. Praktische Konsequenzen der verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes › 1. Statthafte Klagearten

1. Statthafte Klagearten

52

Gewährleistet die Verfassung umfassenden Rechtsschutz gegen die öffentliche Gewalt, kann die einfach-gesetzliche Typisierung von Klagearten nur den Zweck haben, den Zugang zum verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz spezifischen Zulässigkeitsvoraussetzungen zu unterwerfen[190] – dem Erfordernis eines obligatorischen Vorverfahrens etwa[191] oder bestimmten Klagefristen.[192] Sie kann somit lediglich dazu dienen, den Anspruch auf effektiven Rechtsschutz zu kanalisieren und einzugrenzen; ausschließen kann sie ihn nicht.[193] In Deutschland findet dies – den Vorgaben von Art. 19 Abs. 4 GG entsprechend – seit dem Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsordnung 1960 eigentlich in der verwaltungsgerichtlichen Generalklausel des § 40 Abs. 1 VwGO Ausdruck, auch wenn die Praxis damit immer wieder Schwierigkeiten hat.[194] Die Schweizer Kantone mussten eine solche Anpassung nach der Einführung des Art. 29a BV 2007 vornehmen,[195] während die Überwindung des Enumerativsystems in Ungarn in der Zeit nach dem Systemwechsel 1989/90 auf der Grundlage der neu eingeführten Rechtsschutzgarantie vor allem vom Verfassungsgericht vorangetrieben wurde.[196]

 

53

Zwar steht der Verwaltungsakt – die klassische Handlungsform der Verwaltung – in den meisten Verwaltungsrechtsordnungen Europas nach wie vor im Zentrum des Verwaltungsrechtsschutzes;[197] seine praktische Bedeutung ist gleichwohl zurückgegangen. So hat die deutsche Verwaltungsrechtsprechung die einzelnen Klagearten der VwGO (Anfechtungs-, Verpflichtungs-, Feststellungs- und Leistungsklage) einander so weit angenähert, dass sie sich nur noch in Details unterscheiden.[198] Ähnliches lässt sich auch für andere Rechtsordnungen feststellen.[199] So wurde etwa in Frankreich – und anderen am Vorbild des Conseil d’État orientierten Jurisdiktionen[200] – die traditionelle Unterscheidung zwischen dem auf Aufhebung einer Maßnahme gerichteten recours pour excès de pouvoir und dem auf alle anderen gerichtlichen Maßnahmen zielenden recours de plein contentieux im Laufe der Zeit stark relativiert, sodass der Kläger zwischen beiden Klagearten heute teilweise frei wählen kann.[201]

54

Der unverkennbare Trend zur Überwindung der noch vorhandenen „aktionenrechtlichen“ Spuren im Verwaltungsrechtsschutz hat auch mit der Pluralisierung der Handlungsformen der Verwaltung zu tun und der damit zusammenhängenden Einsicht, dass auch (exekutive) Rechtsetzung, der Abschluss von Verträgen, die Vornahme von Realakten und informales Verwaltungshandeln Rechte und Interessen der Bürger beeinträchtigen können.[202] Unter dem Blickwinkel effektiven Rechtsschutzes drängt dies auf eine Entkoppelung von Verwaltungsakt und verwaltungsgerichtlicher Kontrolle und zu einer stärkeren Konzentration auf das zwischen Verwaltung und Bürger bestehende Rechtsverhältnis.[203]

§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › V. Praktische Konsequenzen der verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes › 2. Klagebefugnis

2. Klagebefugnis

55

Die am Individualrechtsschutz ausgerichteten Verwaltungsrechtsordnungen – Deutschland,[204] Großbritannien,[205] Italien,[206] Österreich,[207] die Schweiz,[208] Spanien[209] – verlangen vom Kläger die Geltendmachung einer Verletzung in eigenen Rechten bzw. rechtlich geschützten Interessen (Klage-/Beschwerdebefugnis/Legitimation/standing o.Ä.). Das ist nicht nur Ausdruck der einzelnen Rechtsschutzgarantien, sondern verpflichtet die (Verwaltungs-)Gerichte auch dazu, die behauptete Rechtsverletzung in der Sache selbst zu überprüfen (sog. Sachentscheidungsgarantie).[210]

§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › V. Praktische Konsequenzen der verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes › 3. Rechtsschutzbedürfnis

3. Rechtsschutzbedürfnis

56

Die Gewährung gerichtlichen Rechtsschutzes an ein Rechtsschutzinteresse zu knüpfen, ist Ausdruck eines Missbrauchsverbotes und begegnet unter dem Blickwinkel effektiven Rechtsschutzes keinen grundsätzlichen Bedenken.[211] Ausnahmen müssen allerdings bei Wiederholungsgefahr oder einer diskriminierenden Wirkung der Maßnahme und einem entsprechenden Rehabilitierungsinteresse gelten.[212]

§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › V. Praktische Konsequenzen der verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes › 4. Fristen

4. Fristen

57

Auslegung und Anwendung prozessualer Fristenregelungen müssen in einer Weise erfolgen, dass die Inanspruchnahme von Rechtsschutz nicht unzumutbar erschwert wird. Das gilt etwa für die Anforderungen an eine wirksame Rechtsbehelfsbelehrung[213] oder die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.[214] In der Praxis kann dies bei Unkenntnis der Amtssprache[215] ebenso der Fall sein wie bei Verzögerungen im Postlauf.[216]

§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › V. Praktische Konsequenzen der verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes › 5. Rechtzeitiger Rechtsschutz

5. Rechtzeitiger Rechtsschutz

58

Es liegt auf der Hand, dass wirksamer Rechtsschutz nicht zu spät kommen, m.a.W. nicht durch Zeitablauf für den Rechtsschutzsuchenden sinnlos werden darf. Die Garantien effektiven Rechtsschutzes verpflichten daher auch zur Gewährung rechtzeitigen Rechtsschutzes.[217] Dieses Gebot richtet sich primär an die Gerichte und verlangt – durchaus in einem Spannungsverhältnis zu den Anforderungen an die Qualität richterlicher Entscheidungsfindung[218] – eine zügige Verfahrenserledigung. Das kann sowohl die Terminierungs- als auch die Erledigungspraxis beeinflussen.

59

Mehr Durchsetzungskraft als die nationalen verfassungsrechtlichen Rechtsschutzstandards hat insoweit allerdings Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK entfaltet, der in seinem Anwendungsbereich ausdrücklich ein Recht auf gerichtliche Verhandlung und Entscheidung „innerhalb angemessener Frist“ verbürgt. Nach einer Reihe von Verurteilungen durch den EGMR wegen – teils notorisch – überlanger Verfahrensdauer hat man hier Anstrengungen unternommen, um zu einer Verkürzung der Verfahrensdauer zu gelangen. In Deutschland hat der Gesetzgeber Verzögerungsrüge und Verzögerungsbeschwerde eingeführt (§ 198 GVG),[219] aber auch alle anderen Staaten sind insoweit nicht untätig geblieben.[220] Daneben wurden besondere Entschädigungsansprüche wegen überlanger Verfahrensdauer eingeführt.[221]

§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › V. Praktische Konsequenzen der verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes › 6. Vorläufiger Rechtsschutz

6. Vorläufiger Rechtsschutz

60

Ein effektiver Individualrechtsschutz erfordert ferner einen hinreichend wirkungsvollen vorläufigen Rechtsschutz.[222] Auch insofern geht es darum, dass das Rechtsschutzziel nicht während des gerichtlichen Verfahrens vereitelt wird und dass mit dem Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache ein irreversibler Verlust von Rechtspositionen droht.

61

Zum Gebot wirksamen Eilrechtsschutzes gehört nach deutschem Verständnis, dass Rechtsbehelfe gegen Verwaltungsakte grundsätzlich einen Suspensiveffekt entfalten und im Hinblick auf ein Unterlassen der Verwaltung (einstweilige) gerichtliche Regelungs- und Sicherungsanordnungen möglich sind.[223] Eine aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage kennt auch Österreich,[224] wo es jedoch – von Spezialregelungen für einzelne Bereiche abgesehen – noch immer an der Möglichkeit zum Erlass einstweiliger Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands fehlt.[225] Auch die Schweiz[226] geht vom Grundsatz der aufschiebenden Wirkung aus, auch wenn er dort in Teilbereichen (etwa im Beschaffungswesen) aus Gründen der Effizienzsteigerung und Beschleunigung in den letzten Jahren abgeschafft worden ist.[227]

62

Die meisten Rechtsordnungen des europäischen Rechtsraumes sehen allerdings lediglich die Möglichkeit einer behördlichen oder gerichtlichen Aussetzung des Vollzugs von Verwaltungsmaßnahmen vor. Während ihnen ein allgemeiner Suspensiveffekt fremd ist,[228] sind die gerichtlichen Entscheidungsmöglichkeiten mit Blick auf den Erlass einstweiliger Anordnungen, insbesondere was die Verpflichtung von Behörden zur Vornahme einer Handlung angeht, in den vergangenen Jahren vielfach ausgebaut worden.[229]

63

Vor allem unter dem Druck der Europäisierung hat die nationale Ausgestaltung des vorläufigen Rechtsschutzes etwa in Großbritannien[230] und Italien teils substantielle Erweiterungen,[231] teils aber auch einen Abbau von Rechtsschutzstandards erfahren. Das gilt insbesondere für die Einschränkungen des Suspensiveffekts bei Rechtsbehelfen gegen Verwaltungsakte in Deutschland wie für die Entscheidungsbefugnisse der Verwaltungsgerichte bei Verpflichtungs- und Leistungsklagen, soweit es dort um den Vollzug von Unionsrecht geht.[232]

§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › V. Praktische Konsequenzen der verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes › 7. Gerichtlicher Kontrollauftrag und Kontrolldichte

7. Gerichtlicher Kontrollauftrag und Kontrolldichte

64

Der Idee der Gewaltenteilung verpflichtet, sehen die europäischen Rechtsordnungen durchweg die Möglichkeit einer Überprüfung behördlichen Handelns durch unabhängige Gerichte vor. Dieser Kontrollauftrag ist eine notwendige Voraussetzung für die Gewährung von gerichtlichem Verwaltungsrechtsschutz. Er ergibt sich damit teils aus den ausdrücklichen Rechtsschutzgarantien,[233] teils ist er – wie in Spanien – aber auch als eigenständige Garantie formuliert (z.B. Art. 106 Abs. 1 CE neben Art. 24 Abs. 1 CE). Im Übrigen folgt er aus den das Rechtsstaatsprinzip prägenden Verfassungsnormen über die institutionelle und funktionale Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative und die Zuweisung gerichtlicher Zuständigkeiten. In Großbritannien gehört er zum Kern der rule of law.

65

Die Wirksamkeit des Verwaltungsrechtsschutzes hängt maßgeblich von der Intensität der gerichtlichen Kontrolle ab: Je intensiver ein Gericht den Fall in tatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht überprüft, desto höher ist auch das Rechtsschutzniveau. Effektiver Rechtsschutz verlangt deshalb grundsätzlich eine vollständige gerichtliche Kontrolle in tatsächlicher[234] und rechtlicher Hinsicht[235] durch ein mit zureichender Entscheidungsmacht ausgestattetes Gericht. Die gerichtliche Kontrolle der Verwaltung muss sich grundsätzlich auf die im konkreten Fall einschlägigen Normen,[236] deren Gültigkeit,[237] die Bestimmung ihres Regelungsgehalts, die Tatsachengrundlagen und die Subsumtion erstrecken. Dabei besteht zwar immer auch das Risiko einer „fehlerhaften“ Rechtsauslegung und -anwendung durch das Gericht und eines tatsächlichen Versagens des Verwaltungsrechtsschutzes.[238] Dieses Risiko wohnt dem Rechtsprechungsauftrag jedoch notwendigerweise inne. Es ist in gewisser Weise sozialadäquat und von den Rechtsuchenden – vorbehaltlich eines verfassungsrechtlich oder einfach-gesetzlich eröffneten Instanzenzuges – bis zur Grenze der Willkür hinzunehmen.[239]