Einführung in die Ethik

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Damit haben wir über den Gegenstand der EthikEthik, das moralische HandelnHandeln/Handlungmoralische(s), bereits einiges in Erfahrung gebracht.

Wir fällen ja tagtäglich fortwährend moralische Urteile, und dies so selbstverständlich, dass es uns kaum noch auffällt. Ob wir z.B.

 uns selber anklagen, schlampig gearbeitet zu haben,

 beim Einkaufen jemandem, der sich an der Kasse vordrängelt, Rücksichtslosigkeit vorwerfen,

 über die Reklame im Fernsehen schimpfen und dabei von Verdummungseffekten reden,

 uns über politische Ereignisse entrüsten oder

 dem Nachbarn für seine angebotene Hilfe danken,

 uns über ein besonders gut gelungenes Werk freuen,

 einen kritischen Kommentar in der Tageszeitung mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen,

so drückt sich in allen diesen ablehnenden bzw. zustimmenden Äußerungen ein Werturteil aus über das, was wir für gut halten.

Wer es nun nicht dabei belässt, einfach moralisch zu urteilen, sondern sich dafür interessiert, was das MoralischeMoral eigentlich ist, und ob es überhaupt einen Sinn hat, moralisch zu handeln, wie man solches Handeln begründen und rechtfertigen kann – wer solche Fragen stellt, fängt an, EthikEthik zu betreiben.

Die EthikEthik erörtert alle mit dem Moralischen zusammenhängenden Probleme auf einer allgemeineren, grundsätzlicheren und insofern abstrakteren Ebene, indem sie rein formal die Bedingungen rekonstruiert, die erfüllt sein müssen, damit eine Handlung, ganz gleich welchen Inhalt sie im Einzelnen haben mag, zu Recht als eine moralische HandlungHandeln/Handlungmoralische(s) bezeichnet werden kann. Die EthikEthik setzt somit nicht fest, welche konkreten Einzelziele moralisch gute, für jedermann erstrebenswerte Ziele sind; vielmehr bestimmt sie die Kriterien, denen gemäß allererst verbindlich festgesetzt werden kann, welches Ziel als gutes Ziel anzuerkennen ist. Die EthikEthik sagt nicht, was das Gute in concreto ist, sondern wie man dazu kommt, etwas als gut zu beurteilen. Diese die Aufgabe der EthikEthikAufgabe der betreffende These wird noch weiter präzisiert werden. Soviel kann jedoch schon festgehalten werden: Die Ethik ist nicht selber eine MoralMoral, sondern redet über MoralMoral.

Moralische Urteile und Aussagen über moralische Urteile sind zweierlei Dinge, die verschiedenen Sprach- und Objektebenen zugehören – so wie es auch etwas anderes ist, ob ich etwas erkenne und diese Erkenntnis formuliere oder ob ich über mein Erkennen überhaupt rede. Im einen Fall gilt meine Rede dem Etwas meiner Erkenntnis, im anderen Fall der Art und Weise, wie ich überhaupt etwas erkenne, d.h. hier liegt der Schwerpunkt nicht mehr auf dem einzelnen Etwas, sondern auf dem Wie. Die EthikEthik fällt entsprechend nicht moralische Urteile über einzelne HandlungenHandeln/Handlung, sondern analysiert auf einer Metaebene die Besonderheiten moralischer Urteile über HandlungenHandeln/Handlung.

1.1 Herkunft und Bedeutung des Wortes »EthikEthik«

ARISTOTELESAristoteles war der Erste, der die EthikEthik als eine eigenständige philosophische Disziplin behandelt und von den Disziplinen der theoretischen Philosophie (LogikLogik, PhysikPhysik, MathematikMathematik, MetaphysikMetaphysik) unterschieden hat. Die praktische Philosophie untergliederte er in EthikEthik, ÖkonomikÖkonomik und PolitikPolitik. Während es die theoretische Philosophie mit dem veränderlichen und unveränderlichen Seienden zu tun hat, geht es in der praktischen Philosophie um menschliche HandlungenHandeln/Handlung und ihre Produkte.

Doch schon nahezu alle Dialoge PLATONPlatons enthalten ethische Überlegungen – insbesondere gilt dies für die zwischen SOKRATESSokrates und den Sophisten ausgetragene Auseinandersetzung über das Ziel der ErziehungErziehung:

ErziehungErziehung wurde von den Sophisten (insbesondere von PROTAGORASProtagoras und GORGIASGorgias) als Einübung in die von den Vätern überkommenen SittenSitte und Satzungen, deren Geltung fraglos und unbestritten anerkannt war, verstanden. SOKRATESSokrates dagegen sah Erziehung als einen an der Idee des GutenGuteIdee des orientierten Lernprozess an, dessen Ziel der Erwerb von Mündigkeit im Sinne kritischer Urteilsfähigkeit war.

Während ErziehungErziehung also für SOKRATESSokrates ein ethisch begründeter Lernprozess ist, betonen die Sophisten den Wert der Rhetorik als Mittel zur Gewinnung und Aufrechterhaltung von politischer MachtMacht. Entsprechend verstanden sie ErziehungErziehung primär als Anleitung zu Rhetorik.

PLATONPlaton hat also zweifellos Untersuchungen zum Ethischen durchgeführt, jedoch sind derartige Überlegungen von ihm nicht systematisch zu einer EthikEthik zusammengefasst worden. Vielmehr durchziehen sie die einzelnen Dialoge in unterschiedlicher Gewichtung und sind von PLATONs metaphysischem Denkansatz nicht abtrennbar. Die menschliche PraxisPraxis wird von PLATON immer im Zusammenhang mit der Ideenlehre und damit verbunden der Frage nach den unveränderlichen, ewigen Prinzipien des SeiendenSein insgesamt erörtert.

Ausgehend von sophistischen und sokratisch-platonischen Thesen über die menschliche PraxisPraxis und das GuteGute, das hat dann ARISTOTELESAristoteles die praktische Philosophie von der theoretischen abgegrenzt und die EthikEthik als eine eigenständige Disziplin begründet. Dies dokumentieren verschiedene Werke, vor allem seine Vorlesungen über das Thema EthikEthik: die ›Eudemische Ethik‹ und die sog. ›Große Ethik‹. Am berühmtesten aber ist seine ›Nikomachische Ethik‹ geworden, die ihren Titel vermutlich vom Namen des Sohnes Nikomachos her erhalten hat. Die Nikomachische EthikEthik enthält eine umfassende Theorie des Handelns, die sowohl eine Glücks- als auch eine TugendlehreTugend ist, und erhebt den Anspruch, den Schüler der EthikEthik so über sein Tun aufzuklären, dass er lernt, das GuteGute, das immer besser zu tun und sich dadurch immer mehr als ein guter Mensch zu erweisen.

Der seit ARISTOTELESAristoteles verwendete Disziplintitel EthikEthik leitet sich ursprünglich von dem griechischen Wort ethosEthos her, das in zwei Varianten vorkommt, nämlich einmal als ἔθοςEthos – Gewohnheit, SitteSitte, Brauch: Wer durch ErziehungErziehung daran gewöhnt worden ist, sein Handeln an dem, was SitteSitte ist, was im antiken Stadtstaat, in der Polis Geltung hat und sich daher ziemt, auszurichten, der handelt »ethisch«, insofern er die Normen des allgemein anerkannten ›MoralkodexMoral‹ befolgt. Im engeren und eigentlichen Sinn ethisch handelt jedoch derjenige, der überlieferten Handlungsregeln und Wertmaßstäben nicht fraglos folgt, sondern es sich zur Gewohnheit macht, aus Einsicht und Überlegung das jeweils erforderliche GuteGute, das zu tun: Das ἔθοςEthos wird dann zum ἦθοςEthos im Sinne von Charakter; es verfestigt sich zur Grundhaltung der Tugend.

Also entstehen die sittlichen Vorzüge in uns weder mit Naturzwang noch gegen die NaturNatur, sondern es ist unsere NaturNatur, fähig zu sein sie aufzunehmen, und dem vollkommenen Zustande nähern wir uns dann durch Gewöhnung. … Mit einem Wort: aus gleichen Einzelhandlungen erwächst schließlich die gefestigte Haltung. Wir philosophieren nämlich nicht, um zu erfahren, was TugendTugend sei, sondern um tugendhafte Menschen zu werden. (Eth. Nic. 11, 1–2; 1103a 23–b28)

Das lateinische Wort mos (Plural: mores) ist eine Übersetzung der beiden griechischen ethosEthos-Begriffe und bedeutet daher sowohl SitteSitte als auch Charakter. Von mos wiederum leitet sich das deutsche Wort MoralMoral her, das ein Synonym für SitteSitte ist. Zur MoralMoral oder SitteSitte werden jene – aus wechselseitigen Anerkennungsprozessen in einer Gemeinschaft von Menschen hervorgegangenen und als allgemein verbindlich ausgezeichneten Handlungsmuster zusammengefasst, denen normative Geltung zugesprochen wird. Die Ausdrücke MoralMoral und SitteSitte bezeichnen mithin Ordnungsgebilde, die gewachsene Lebensformen repräsentieren, Lebensformen, die die Wert- und Sinnvorstellungen einer Handlungsgemeinschaft widerspiegeln. Während der Bedeutungsgehalt von MoralMoral/SitteSitte mehr dem entspricht, was mit ἔθοςEthos gemeint ist, stehen die Abstrakta Moralität/Sittlichkeit in ihrer Bedeutung dem näher, was unter ἦθοςEthos verstanden wird: der Qualität eines Handelns, das sich einem unbedingten Anspruch (dem GutenGute, das) verpflichtet weiß.

Die Adjektive moralisch/sittlich dagegen sind doppeldeutig und können sowohl im Sinne von ἔθος wie von ἦθος verwendet werden. Wenn eine HandlungHandeln/Handlung als moralisch/sittlich beurteilt wird, so kann dies sowohl heißen: sie folgt einer Regel der geltenden MoralMoral/SitteSitte, als auch: sie hat ihren Grund in der Moralität/Sittlichkeit des Handelnden. Wenn ich von jemandem sage, er sei ein unmoralischer Mensch, so meine ich entweder, sein Verhalten entspreche nicht dem von den meisten anerkannten MoralkodexMoralkodex, oder aber, er habe einen verdorbenen Charakter.


Hinsichtlich der Verwendung der Wörter EthikEthik und ethisch ist folgendes festzustellen: Sowohl in der traditionellen EthikEthik als auch in der Umgangssprache wird das Adjektiv ethisch häufig synonym mit moralisch bzw. sittlich gebraucht: es ist die Rede von ethischen HandlungenHandeln/Handlung, ethischen Ansprüchen, ethischen Normen usf. Dieser Sprachgebrauch ist keineswegs unberechtigt, wenn man an die Herkunft des Wortes EthikEthik aus ἔθοςEthos denkt. Um jedoch die verschiedenen Reflexionsniveaus von vornherein bereits sprachlich scharf gegeneinander abzugrenzen, ist man in der EthikdiskussionEthik weitgehend dazu übergegangen, den Titel EthikEthik wie auch das Adjektiv ethisch ausschließlich der philosophischen Wissenschaft vom moralischen/sittlichen HandelnHandeln/Handlung des Menschen vorzubehalten.

 

Nach einem sich einbürgernden Sprachgebrauch bezeichnen wir als ›Moral‹ den Inbegriff moralischer Normen, Werturteile, Institutionen, während wir den Ausdruck ›Ethik‹ (sprachgeschichtlich mit ›MoralMoral‹ bedeutungsäquivalent) für die philosophische Untersuchung des Problembereichs der Moral reservieren. (G. PATZIGPatzig, G., Ethik ohne Metaphysik, 3)

Nicht immer wird zwischen ›Ethik‹ und ›MoralMoral‹ unterschieden. Trotzdem ist es nicht unzweckmäßig, eine solche Unterscheidung zu treffen – selbst wenn sich herausstellen sollte, dass die beiden entsprechenden Bereiche aneinander grenzen und dass eine exakte Grenzziehung kaum möglich ist. Deshalb wollen wir in Übereinstimmung mit einem in der Philosophie nicht ganz ungewöhnlichen Sprachgebrauch im Folgenden ›Ethik‹ als gleichbedeutend mit ›Moralphilosophie‹ verstehen. (N. HOERSTERHoerster, N., Texte zur Ethik, 9)

Die Sprache der MoralMoralSprache der oder die moralische Sprache umfasst das umgangssprachliche Reden über Handlungen, sofern sie einer kritischen Beurteilung unterzogen werden. Die Sprache der Ethik oder Moralphilosophie dagegen ist ein reflektierendes Sprechen über die moralische Sprache.

Die Ethik hat somit MoralMoral (SitteSitte) und Moralität (Sittlichkeit)1 zu ihrem Gegenstand. Ihre Fragen unterscheiden sich von denen der MoralMoral dadurch, dass sie sich nicht unmittelbar auf singuläre Handlungen bezieht, also auf das, was hier und jetzt in einem bestimmten Einzelfall zu tun ist, sondern auf einer Metaebene moralisches Handeln grundsätzlich thematisiert, indem sie z.B. nach dem MoralprinzipMoralprinzip oder nach einem Kriterium zur Beurteilung von Handlungen fragt, die Anspruch auf Moralität erheben; oder indem sie die Bedingungen untersucht, unter denen moralische Normen und WerteWert allgemein verbindlich sind.

Aus dieser begrifflichen Differenzierung zwischen MoralMoral und Ethik folgt, dass ethische Überlegungen nicht eo ipso moralisch sind, aber durchaus aus einem Interesse an einer bestimmten Problematik der MoralMoral hervorgehen können, so wie umgekehrt moralische Überlegungen nicht eo ipso ethisch sind, aber durchaus zu ethischen Fragestellungen radikalisiert werden können.

Zusammenhang und Unterschied zwischen Ethik und MoralMoral lassen sich durch folgende Analogien verdeutlichen:

Gegenstand der Literaturwissenschaft ist die sog. »schöne Literatur«, die unter verschiedenen (z.B. linguistischen, formaltechnischen, inhaltlichen) Aspekten untersucht und klassifiziert wird. Wer Literaturwissenschaft betreibt, schreibt – indem er dies tut – keinen Roman, kein Gedicht etc., obwohl er dazu durchaus in der Lage sein mag; vielmehr analysiert er literarische Texte im Hinblick auf bestimmte regelmäßige Strukturelemente und -formen, um zu allgemeinen Aussagen über »den« Roman, »das« Drama, »die« Ode etc. zu gelangen, und versucht, vermittels dieser Regeln wiederum einzelne Romane, Dramen, Oden kritisch zu beurteilen. Wer dagegen einen Roman schreibt, betreibt nicht – indem er dies tut – Literaturwissenschaft, obwohl ihm literaturwissenschaftliche Kenntnisse bei der Abfassung durchaus von Nutzen sein können.

Eine andere Analogie:

Ein guter Theaterkritiker muss nicht notwendig auch ein guter Schauspieler sein (in der Regel wird er dies gerade nicht sein). Ihn zeichnet ja eben die Distanz zum Stück, zum Spiel aus, und nur aus dieser Distanz heraus gelingt es ihm, etwas Treffendes über das Stück, über den Schauspieler zu sagen. Wenn er selber ein unmittelbar Beteiligter wäre, könnte er nicht zugleich und in derselben Hinsicht als Kritiker fungieren, weil ihm die nötige Distanz fehlte.

Analog zum Literaturwissenschaftler und Theaterkritiker urteilt auch der Ethiker aus einer gewissen Distanz zu seinem Gegenstand über diesen Gegenstand, die MoralMoral nämlich. Indem der Ethiker Ethik betreibt, handelt er nicht moralisch, sondern reflektiert aus theoretischer Perspektive über das Moralische und damit aus der kritischen Distanz des Wissenschaftlers.

Diese Distanz kann im Extremfall so weit gehen wie in der folgenden Anekdote: Max SCHELERScheler, M., einer der führenden Wertethiker um die Jahrhundertwende, hat sich angeblich nicht immer moralisch einwandfrei verhalten und gelegentlich gegen die sogenannten guten Sitten verstoßen. Darauf angesprochen, ob dies denn nicht im Widerspruch zu dem stehe, was er in seinen ethischen Arbeiten vertrete, soll er sinngemäß gesagt haben: Kennen Sie einen Wegweiser, der selber in die Richtung geht, die er anzeigt?

Das mag zunächst frivol klingen, ist aber durchaus nicht absurd, denn die Ethik als Theorie der moralischen PraxisPraxis ist nicht selber schon die PraxisPraxis der MoralMoral, und man kann sich sehr wohl eine richtige Theorie der PraxisPraxis vorstellen, die unabhängig davon richtig ist, ob derjenige, der diese Theorie entwickelt hat, sie auch praktiziert oder nicht. AndersAnders, G. gesagt: Über die Richtigkeit der Theorie entscheidet nicht die Tatsache, dass ihr Urheber sie praktiziert. Aber wenn die Theorie richtig ist, kann man sagen, dass es praktisch inkonsequent ist, wenn sie für die PraxisPraxis ihres Urhebers folgenlos bleibt. Das Bild des Wegweisers ist somit insofern zutreffend, als man den Wegweiser und den zu gehenden Weg voneinander trennen muss. Man kann also nicht sagen, im Idealfall müsste der Wegweiser tatsächlich den von ihm gewiesenen Weg gehen, d.h. Ethik und MoralMoral müssten zusammenfallen. Der Wegweiser steht für eine richtige Theorie der Ethik, und jeder, der sie verstanden hat, hat damit zugleich eine bestimmte Form von PraxisPraxis als verbindlich anerkannt, die er handelnd verwirklichen soll.

1.2 Die Rolle der MoralMoral in der Alltagserfahrung

Die MoralMoral spielt im alltäglichen Erfahrungsbereich eine große Rolle: In allen menschlichen Verhaltensweisen und Sprachgewohnheiten stellt sich mehr oder weniger ausdrücklich ein bestimmtes EngagementEngagement dar, das wiederum auf bestimmten Wertvorstellungen basiert.

Es macht gerade die HumanitätHumanität des Menschen als Mitgliedes einer Sozietät aus, dass er sich nicht schlechthin gleichgültig gegen alles das verhält, was seine Mitmenschen sagen und tun, sondern Partei ergreift, indem er durch die Äußerung von Lob und Tadel, von Billigung und Missbilligung, von Zustimmung und Ablehnung erkennen lässt, was er für gut oder böse, richtig oder falsch hält. Diese grundsätzliche Möglichkeit, nicht alles, was geschieht, kritiklos hinzunehmen, sondern – sei es aus eigenem Interesse, sei es aus innerer Überzeugung oder sei es um eines allgemein für erstrebenswert gehaltenen Ziels willen – seine persönliche Stellungnahme in die Gemeinschaft der miteinander Redenden und Handelnden einzubringen, ist ein Indiz für die FreiheitFreiheit als Fundament aller menschlichen Praxis.

Doch birgt diese Möglichkeit die Gefahr der Verkehrung von FreiheitFreiheit in Unfreiheit. Nirgends sind die Meinungsverschiedenheiten und die Widersprüche zwischen miteinander unverträglichen Standpunkten größer als in der Beurteilung von Handlungen bezüglich ihrer Richtigkeit und Moralität. Was der eine für gut hält, lehnt der andere rigoros ab und ist oft nicht einmal dazu bereit, seinen Standpunkt zu problematisieren, d.h. der Kritik auszusetzen und Gegenargumenten zu begegnen. Solche dogmatisch als unangreifbar behaupteten, zu bloßen Vorurteilen erstarrten Haltungen sind Formen eines »Moralisten-« oder »Pharisäertums«, das FreiheitFreiheit nicht als FreiheitFreiheit aller begreift, sondern als FreiheitFreiheit von Auserwählten missversteht. Die Folgen eines solchen unkritisch verallgemeinerten Ethos sind bekannt: religiöse Verfolgung, Diffamierung von Minderheiten, Rassen- und Geschlechterdiskriminierung, Ächtung politisch oder ideologisch Andersdenkender, Verfemung moralisch Andershandelnder usf. Hier werden die Menschen in Klassen, in Über- und Untermenschen eingeteilt, und zwar nach Maßgabe desjenigen, der sich einen absoluten Standpunkt angemaßt hat und nicht mehr bereit ist, diesen zu problematisieren.

FreiheitFreiheit als Fundament menschlicher Praxis ist keine regellose Willkürfreiheit, der gemäß jeder tun und lassen kann, was ihm beliebt. Der Mensch ist auch nicht wie das Tier schon von Natur aus durch Instinkt und Triebe so optimal eingerichtet, dass FreiheitFreiheit überflüssig würde. Vielmehr besteht die menschliche FreiheitFreiheit als moralische FreiheitFreiheit darin, sich selber RegelnRegel im Hinblick auf das, was man als von Bedürfnissen und Trieben abhängiges, durch diese aber nicht schlechthin determiniertes Sinnenwesen ist, zu geben und diese RegelnRegel aus FreiheitFreiheit und zur Erhaltung der FreiheitFreiheit zu befolgen. Erst durch die Selbstbindung an solche RegelnRegel der FreiheitFreiheit entsteht VerbindlichkeitVerbindlichkeit und damit eine MoralMoral.

Regellose FreiheitFreiheit ist keine menschliche, sondern unmenschliche FreiheitFreiheit. Das andere Extrem, eine total von RegelnRegel bestimmte, in Zwangsmechanismen erstarrte Freiheit – z.B. in totalitären Staaten oder Gesellschaftsformen, wo kein Spielraum mehr bleibt für die Freiheit des einzelnen – ist ebenso unmenschlich. Moralische FreiheitFreiheitmoralische dagegen setzt sich selbst um der Freiheit aller willen RegelnRegel, an die sie sich bindet, so wie man beim SpielSpiel RegelnRegel gehorcht, die das Spielen nicht aufheben, sondern als SpielSpiel gerade ermöglichen sollen.

Was genau beinhaltet nun das Wort MoralMoral?

Eine Moral ist der Inbegriff jener NormenNorm und WerteWert, die durch gemeinsame AnerkennungAnerkennung als verbindlich gesetzt worden sind und in der Form von

 Geboten (Du sollst …; es ist deine Pflicht …) oder

 Verboten (Du sollst nicht …)

an die Gemeinschaft der Handelnden appellieren. Jede MoralMoral ist somit als geschichtlich entstandener und geschichtlich sich mit dem Freiheitsverständnis von Menschen verändernder Regelkanon immer eine GruppenmoralGruppenmoral, deren Geltung nicht ohne weiteres über die Mitglieder der Gruppe hinaus ausgedehnt werden kann.

Der Versuch, eine umfassende Menschheitsmoral aus der Vielzahl vorhandener Moralen herauszudestillieren, würde letztlich weniger daran scheitern, dass über universale BasisnormenBasisnorm bzw. Grundwerte keine Einigung zustande käme: Es lässt sich wohl bis zu einem gewissen Grad einsichtig machen, dass keine MoralMoral ohne die Ideen FreiheitFreiheit, GleichheitGleichheit, MenschenwürdeMenschenwürde, GerechtigkeitGerechtigkeit u.a. auskommen kann. Die eigentliche Schwierigkeit besteht vielmehr darin, die RegelnRegel einer solchen UniversalmoralMoral im Kontext unterschiedlicher, geschichtlich gewachsener Lebensformen und Kulturkreise »anzuwenden«, d.h. mit den jeweiligen Lebensbedingungen (Klima, geographische Lage, religiöse Überzeugungen, wirtschaftlicher Status, Stand der Zivilisation etc.) zu vermitteln. Auch TraditionTradition und KonventionKonvention bestimmen den durch den jeweiligen MoralkodexMoralkodex repräsentierten, kulturell geprägten Sinnhorizont einer Sozietät wesentlich mit und führen zu unterschiedlichen, ja manchmal sogar entgegengesetzten Ausprägungen einer und derselben BasisnormBasisnorm.

Die inzwischen vorliegenden Berichte über die moralischen Verhaltensregeln und ihren Zusammenhang in bestimmten ethnischen Gruppen sind für die Ethik deshalb bedeutsam, weil wir aus solchen Untersuchungen lernen, dass bei gleichen zugrunde liegenden moralischen Grundsätzen doch vollkommen verschiedene ›moralische Landschaften‹ entstehen können, je nach den aktuellen geographischen, ökonomischen und historischen Bedingungen, unter denen die Angehörigen solcher Gruppen leben. (G. PATZIGPatzig, G.: Relativismus und Objektivität moralischer NormenNorm, in: Ethik ohne Metaphysik, 79)

Was genau heißt es, dass bei gleichen zugrundeliegenden moralischen Grundsätzen dennoch ganz verschiedene »moralische Landschaften« entstehen können? Ein extremes Beispiel mag dies veranschaulichen:

Bei manchen ›primitiven‹ Gruppen, z.B. bei den Eskimos, soll es Brauch gewesen sein, alte und schwache Leute zu töten. Diese Regel steht in krassem Widerspruch zu unserem Verständnis von Menschenwürde und wird nur nachvollziehbar vor dem Hintergrund extremer Lebensverhältnisse, die durch große Unwirtlichkeit des Lebensraums und knappe Lebensmittel gekennzeichnet sind. Nur so ist es verstehbar, dass die moralische NormNorm, seinen Eltern Gutes zu tun und ihnen Leid zu ersparen, dadurch erfüllt wird, dass man ihnen einen qualvollen Tod erspart, indem man sie auf schmerzlose Weise tötet und somit die Überlebenschance der Jungen vergrößert.

 

Hier wird also der moralische Grundsatz: ›Du sollst deinen alten Eltern Gutes tun‹ durchaus anerkannt, allerdings auf eine Weise, die uns als das genaue Gegenteil einer moralischen Praxis erscheint.

Wenn man jedoch bedenkt, wie lieblos bei uns alte Menschen oft ohne Not in Alten- oder Seniorenheime abgeschoben werden, so kann man sich mit Recht fragen, ob diese Form der »Aussetzung« in der Tat sehr viel menschenwürdiger ist als die Praxis sogenannter »primitiver« Stämme.

Wohlgemerkt: Die Tötung alter Menschen geschah bei den Eskimos nicht gegen den Willen der Alten, sondern mit ihrem Einverständnis. Sie waren ja mit dieser RegelRegel bereits aufgewachsen und wußten um ihre Bedeutung. Ihnen wurde also keineswegs Zwang oder GewaltGewalt im eigentlichen Sinn angetan.

Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist die, wie solche unterschiedlichen Praktiken ethisch zu beurteilen sind. Hier ist es sicher nicht mit ToleranzToleranz getan, wie der Ethnologe Melville J. HERSKOVITSHerskovits, J. meint, der folgende drei Thesen aufstellt:

1 Das Individuum verwirklicht seine Persönlichkeit im Rahmen seiner KulturKultur; daher bedingt die Achtung individueller auch die Achtung kultureller Verschiedenheiten. …

2 Die Achtung kultureller Unterschiede folgt aus der wissenschaftlichen Tatsache, dass noch keine Methode zur qualitativen Bewertung von Kulturen entdeckt worden ist. …

3 Maßstäbe und Werte sind relativ auf die KulturKultur, aus der sie sich herleiten. Daher würde jeder Versuch, Postulate zu formulieren, die den Überzeugungen oder dem Moralkodex nur einer KulturKultur entstammen, die Anwendbarkeit einer MenschenrechtserklärungMenschenrechte auf die Menschheit als ganze beeinträchtigen. (Ethnologischer RelativismusRelativismus und MenschenrechteMenschenrechte, in: Texte zur Ethik, 39f.).1

Die ethischeEthik Schlussfolgerung in Bezug auf den oben beschriebenen Fall müsste vielmehr die sein, dass alles darangesetzt wird, die Lebensverhältnisse und die wirtschaftlichen Bedingungen dieser Menschen so zu verbessern, dass die geschilderten Praktiken von selbst obsolet werden.

Bisher war die Rede von der Gruppenmoral im Rahmen unterschiedlicher KulturkreiseKultur. Im alltäglichen Erfahrungsbereich begegnet einem die MoralMoral jedoch nicht nur als ein kulturspezifisches Phänomen, das im Unterschied zu Sinndeutungen anderer gesellschaftlicher oder nationaler Handlungsgemeinschaften den Sinnhorizont der Handlungsgemeinschaft darstellt, in der der einzelne aufgewachsen ist und an der aktiv mitzuwirken er aufgerufen ist, sondern innerhalb der Gesamtmoral haben sich auch besondere MoralenMoral herausgebildet, deren RegelnRegel nur für einen Teil der gesamten Gruppe gelten.

 So tritt die christliche MoralMoralchristliche mit dem Anspruch religiös fundierter moralischer RegelnRegel an die Christen heran, wobei diese RegelnRegel nach katholischer Überzeugung sowohl ihrer Form als auch ihrem Inhalt nach anders ausfallen als nach evangelischer Auffassung – von den zahlreichen Sekten und Weltanschauungslehren ganz zu schweigen.

 So hat jeder Beruf mehr oder weniger ausdrücklich sein eigenes Berufs- oder Standesethos entwickelt, dessen Normen für den verbindlich sind, der diesen Beruf gewählt hat und ausübt.

Der »Eid des HippokratesHippokrates« verpflichtet den Arzt in Anwendung der allgemeinen moralischen Forderung, seinen Mitmenschen in der Not zu helfen, auf die ärztliche Tätigkeit dazu, nach bestem Wissen und Gewissen für das körperliche Wohlergehen und die Gesundheit der ihm anvertrauten Patienten zu sorgen.

Das EthosEthos des Lehrers besteht in der Forderung, die Schüler über die angemessene Vermittlung bestimmter Wissensinhalte zu aufgeklärten, mündigen Menschen zu erziehen.

Das EthosEthos des Busfahrers liegt in der Verantwortung für seine Passagiere, die er ungefährdet an ihr Ziel zu bringen hat.

Diese Liste lässt sich beliebig fortsetzen über die »Arbeiter-«, »Angestellten-« und »Beamtenmoral« bis hin zur »Hausfrauenmoral«. Alle diese BerufsgruppenmoralenGruppenmoral basieren auf dem allgemeinen moralischen Grundsatz, das Seine im Beruf so gut wie möglich zu tun. Hier wird also der Arbeit an sich selber ein Wert zuerkannt, oder anders gesagt: Arbeit ist nicht allein definiert durch die technischen RegelnRegel, die einen reibungslosen Arbeitsprozess ermöglichen, sondern Arbeit ist zugleich eine Tätigkeit, die auf der Basis von moralischen RegelnRegel ausgeübt wird – besonders dort, wo andere Menschen mittelbar oder unmittelbar mitbetroffen sind.

Einen Sonderfall stellt die MoralMoral einer Räuberbande dar. Auch sie ist eine GruppenmoralGruppenmoral, ohne die die Gemeinschaft der Räuber nicht funktionieren würde. Es muss also z.B. geregelt sein, nach welchem Schlüssel die Beute verteilt wird, damit es gerecht zugeht; wie der einzelne sich zu verhalten hat, wenn er geschnappt wird: er darf nicht ›singen‹, um die anderen nicht zu gefährden etc. Hier geht es um die sog. Ganovenehre, um das Ethos des Berufsverbrechers, das ebenfalls eine GruppenmoralGruppenmoral ist.

Weitere Spezialisierungen der allgemeinen GruppenmoralGruppenmoralMoral einer Gemeinschaft oder Gesellschaft artikulieren sich einerseits in EhrenkodizesEhrenkodex, andererseits in oft stillschweigend respektierten Tabuzonen. Hier werden bestimmte Selbstwertvorstellungen, die durch AnerkennungsprozesseAnerkennung vermittelt sind, manifest.

Die Berufs- oder Standesehre z.B. ist eng mit den im Berufsethos zusammengefassten Regeln verknüpft, und wer gegen diese Regeln verstößt, schadet nicht nur dem eigenen Ansehen, sondern dem ganzen Berufsstand.

Ein KaufmannKaufmann, A., der minderwertige Ware zu überhöhten Preisen verkauft, verletzt seine Berufsehre ebenso wie ein Politiker, der nur seine Machtinteressen verfolgt, anstatt sich für die von ihm zu vertretenden Belange einzusetzen, oder wie ein Handwerker, der mangelhaft arbeitet. In derartigen Fällen wird dem Betreffenden die AnerkennungAnerkennung sowohl vonseiten der Betroffenen versagt (man kauft bei ihm nicht mehr ein, wählt ihn nicht mehr, ruft ihn nicht mehr zu Reparaturen) als auch vonseiten der Berufsgruppe, was den Ausschluss aus dieser Gruppe zur Folge haben kann.

Umgekehrt wird besonders vorbildliches Verhalten im Dienst am Mitmenschen durch öffentliches Lob oder die Verleihung von Preisen und Orden ausgezeichnet.

Eine besondere Art von EhrenkodexEhrenkodex stellt die Stammes- und Familienehre dar. Auch hier wird ein Verstoß gegen die Regeln (z.B. eine unstandesgemäße Heirat oder ein Eingriff von außen, wie etwa eine unbefugte Grenzüberschreitung) zumeist mit dem Ausstoß aus dem Familienclan, ja gelegentlich auch heute noch mit Blutrache geahndet.

Als besonders schwerer moralischer Verstoß gegen Anstand und SitteSitte gilt im alltäglichen Erfahrungsbereich die Verletzung eines TabusTabu. Waren es früher hauptsächlich der religiöse und der sexuelle Bereich, in dem durch Verbote unter Androhung schlimmer Strafen gewisse Bezirke (des Heiligen, Numinosen, bzw. bestimmte erotische Spielarten) ausgegrenzt, als unzugänglich (»unberührbar«) deklariert und der menschlichen Praxis untersagt wurden, so gilt heute die individuelle Privat- und Intimsphäre eines jeden als tabu. Sowohl die zu weit gehende Zurschaustellung dieses persönlichen Bereichs vonseiten bekannter Persönlichkeiten als auch unverschämte Übergriffe vonseiten der Massenmedien werden trotz der Neugier des Publikums in der Regel von den meisten als schamloser, unanständiger Eingriff in Dinge, die die Öffentlichkeit nichts angehen, empfunden.