2050

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Apocalyptica

Galax Acheronian

Genüsslich strecke ich mich in alle Richtungen. Die halbe Nacht gezockt, den ganzen Morgen geschlafen. Einzig der Hunger treibt mich aus den Federn. Kraftlos taste ich nach der Lampe neben meinem provisorischen Bett, inmitten dieses ebenso provisorisch hergerichteten Kellerraumes, ohne Fenster und Heizung, stets ein wenig muffig.

Wie spät es wohl ist? Eigentlich egal, denn inzwischen ist jedes Gefühl und Bewusstsein von Zeit ohne Bedeutung. Während des Dienstes in der Armée française riss mich der Wecker zu einer Zeit aus dem Schlaf, die heute meinen Bettgang stellt. Monate ist meine Fahnenflucht nun her, verfolgt werde ich noch immer. Im Grunde absurd, denn die Notwendigkeit einer Armee und insbesondere meinen damaligen Befehl gibt es nicht mehr. Denn all die ach so wichtigen Persönlichkeiten unserer Welt sind längst entkommen und gelangten, wenn auch nur zum Teil unbehelligt, auf ihre verdammte Arche. Der letzte weltweite Befehl an alle Militärs war es, diese Leute während ihrer Flucht zu schützen.

Zurück blieben wir Diener, Befehlsempfänger und Arbeiter. Einzig, um auf den Tod zu warten.

Ich taste nach der Bedienung des Mediasystems. Es streamen nicht mehr viele Sender, aber einige machen noch immer ihren Job, stellen sich quasi in den Dienst der Menschheit. Ein wenig erinnern sie an die Musiker auf der Titanic, die der Überlieferung nach bis zuletzt gespielt haben sollen.

Ich lade die nach meinen Interessengebieten, Regional-, Welt- und Fortschrittsberichten, vorsortierte Auswahl aktueller Nachrichten, welche mit jedem Tag weniger werden. Die Strukturen von einst sind noch immer vorhanden, digital wie real. Die Menschen nutzen sie nur anders, werden von lästiger Werbung verschont und müssen nirgendwo mehr Gebühren oder Freischaltungen zahlen. Nur zwei verfügbare Berichte stehen in meinem Angebot, die ich beide zum Abspielen auswähle.

»Ich grüße Sie«, beginnt eine Sprecherin mit trauriger Stimme. »Wir schreiben den fünfzehnten Mai 2050 und es bleiben uns nur noch wenige Tage. Also machen Sie das Schönste daraus. Tun Sie, was auch immer Sie jemals tun wollten.« Bilder von überfüllten Stränden werden eingeblendet. Überall auf der Welt sind Menschen auf der Suche nach Ausgleich und Vergnügen, solange es geht. Sie feiern, singen, liegen sich in den Armen, weinen oder trinken.

Seit Jahren das gleiche Bild. Niemand ist mehr daran interessiert, einen Konflikt herbeizurufen, sich zu bereichern oder langfristige Ziele zu verfolgen. Vergnügungsparks wurden von den Menschen übernommen und haben daher rund um die Uhr geöffnet. Berge werden bestiegen, Schiffe, Panzer oder Flugzeuge von einfachen Menschen ausprobiert. Aus dem Off setzte die Stimme der Sprecherin wieder ein. »Knapp fünf Jahre ist es inzwischen her, dass der Asteroid Apocalyptica entdeckt und als Bedrohung erkannt wurde«, erinnert sie unnötigerweise an den Felsbrocken, der beinahe ein Viertel des Mondes misst, und einen direkten Kurs auf die Erde hält. Wie ein zweiter Erdtrabant wandert er über das Firmament und kündigt schweigend das nahende Ende an.

»Abermals verließen in der zurückliegenden Nacht einige der letzten verbliebenen Persönlichkeiten unsere Welt. Zwei private Raumshuttles wurden bei dem Versuch, der Arche nachzufliegen, aufgrund eines Antriebsfehlers zerstört.«

Bilder eines zerbrochenen und abstürzenden Schiffes dominieren den Bildschirm.

Die zweite Meldung enthält die Berichterstattung betreffend der Arbeiten am Projekt Orion, und die Erkenntnis, dass die Stadt am Grund des Ozeans nicht rechtzeitig fertig wird. Einige wenige Milliardäre unserer Welt, die, die sich schon immer sozial engagierten, weigerten sich damals, die Arche mitzufinanzieren und zu betreten. Stattdessen nutzten sie ihr Vermögen für das Orionprojekt, um so vielen Menschen wie möglich das Überleben zu sichern. Die Zeit war jedoch zu knapp, und ehrlich gesagt hätte es mich auch überrascht, wenn ein solches Vorhaben tatsächlich gelungen wäre.

Noch im Pyjama entriegele ich die Tür zum eigentlichen Keller meines Elternhauses. Von außen ist die Tür als solche nicht zu erkennen. Vater montierte einfach ein leeres Weinregal an die Außenseite; simpel und genial zugleich. Wenn es nicht so ernst wäre, würde ich es cool finden, denn schon als Kind wollte ich genauso wie Batman ein Geheimversteck haben.

Ich nehme die Treppe in die erste Etage und spähe in den Wohnbereich, der in einem hellen Rotton erstrahlt. Dazu passend ist es spürbar warm hier oben, da die Sommersonne seit dem frühen Morgen auf das Haus niederschlägt. Rotbraune Vorhänge verdecken die Fenster, nicht wegen der Hitze, sondern um mich vor möglichen Augen und Sensoren zu verbergen.

Zähneputzen, waschen mit sonnengewärmtem Wasser und anschließend die Morgentoilette – in dieser Reihenfolge. Der nächste Fluss befindet sich einen halben Tag entfernt, daher sparen wir unser Wasser, wo immer es möglich ist. Mein nächstes Ziel ist die Küche im vorderen Bereich des Hauses. Bereits im Korridor höre ich Geschirr klappern.

»Salut«, begrüße ich André, meinen kleinen Bruder, der offenbar schon länger auf den Beinen ist. Gestern Abend versprach ich ihm, im Laufe des heutigen Tages endlich unsere aktuelle Serie abzuschließen. Es gibt noch so vieles, das er sehen sollte und nichts bedeutet mir mehr, als ihm sein viel zu kurzes Leben so angenehm wie nur möglich zu machen. Täglich muss ich still mit dem Gedanken kämpfen, dass er sein dreizehntes Lebensjahr nie erreichen und ihm alles Lebenswerte verwehrt bleiben wird. Niemals würde er sich verlieben oder jemanden ausführen können. Auch wird er nie alle Schönheiten dieser Welt kennenlernen und ebenso keine der Erfahrungen machen, die jeder Mensch einmal gemacht haben sollte. Es zerfrisst mich, wie es auch Mutter zerfressen hatte. Manchmal glaube ich, dass die tägliche Ablenkung aus Spaß und Abenteuer, die ich André biete, mir weit mehr hilft als ihm.

»Salut«, grüßt er mit einem Lächeln zurück und schiebt sich sein schulterlanges Haar hinter sein Ohr. Vor zwei Jahren sind wir das letzte Mal bei einem Friseur gewesen; Dienstleistungen dieser Art gibt es einfach nicht mehr.

Ich nehme meine Frühstückstasse und schaue ihn an. »Haben wir noch Kaffee?«

»Tee«, antwortet er und deutet auf eine kleine Plastikdose neben dem Wasserkocher.

»Besser als nichts.«

Dank der Solaranlage auf dem Dach und zwei Dutzend kleiner Kondensatoren hat unser Haus ausreichend Strom. Keine Ausnahme hier in der Region, weshalb es noch immer viele in die Provinzen ziehen lässt.

In den Städten ist die Energieversorgung deutlich schwieriger. Der größte Teil unserer weltlichen Infrastruktur funktioniert zwar noch immer, jedoch liegen die meisten Firmen, Hersteller und Versorger mangels Energie brach.

Es waren auch eher die ersten Jahre, die im Chaos versanken und von Panik beherrscht wurden. Heute sind die meisten Menschen entspannt, haben akzeptiert und resigniert. Dennoch, Hunderttausende wählten in den letzten Jahren den Freitod und mit jedem Tag, an dem sich der Asteroid nähert, häufen sich solche Vorfälle. Nochmal so viele bauten sich Bunker und legten Vorräte an.

Auch Vater wollte unter unserem Haus ein Loch ausheben, als den Menschen klar wurde, dass ein Einschlag unabwendbar war. Ich riet davon ab, denn es würde nur das unvermeidliche Ende hinauszögern und die wenigen Jahre, die blieben, verschwenden.

Stattdessen wollen wir Spaß haben, solange es geht.

»Salut«, grüßt nun auch mein Vater. Er ist ebenfalls noch im Pyjama. Seine Bartpflege hat er seit Monaten vernachlässigt, was ihn inzwischen wie einen Wilden aussehen lässt.

»Ich gehe heute noch in den Wald, etwas jagen. Kommst du mit?«

Die Frage gilt André. Ich darf das Haus natürlich unter keinen Umständen verlassen. Die Drohnen des Militärs würden mich binnen Minuten orten, aufspüren und in die längst verlassene Kaserne schaffen.

André schüttelt seinen Kopf. »Heute nicht.«

Auch ich spreche mich dagegen aus und erinnere daran, dass vom letzten Reh noch mehr als die Hälfte im Kühlschrank liegt. Unser alter Herr brummt nur, spart sich dieses Mal jedes weitere Wort über die angebliche, ihn so sehr traktierende, Langweile.

»Du kannst doch mitgucken«, bietet André an und entblößt seine übergroßen Schneidezähne. Vater aber wehrt sofort ab. »Nein, nein, da genieße ich lieber das gute Wetter.« Er greift nach dem selbstgebackenen Brot, schneidet sich ein großzügiges Stück ab und reicht mir den Rest.

Langsam schlurft er ins Wohnzimmer und aktiviert das dortige Mediasystem. Im Sammelmenü erscheint die Anmerkung der von mir bereits abgerufenen Inhalte. »Du hast die Nachrichten schon gesehen?«

Ich nicke nur. »Nichts Aufregendes. Orion wird nicht fertig und heute Nacht sind irgendwo zwei Shuttles abgestürzt.«

Vater zuckt mit den Schultern. »Nur noch mehr Ratten, die das sinkende Schiff verlassen wollten.«

Ratten. Das ist der einzig passende Begriff für diese Leute. Kaum, dass der Asteroid damals erkannt wurde, vergaßen die führenden Köpfe unserer Welt all ihre Differenzen, packten gemeinsam ihre Reichtümer, um die Arche für sich und ihre Familien zu bauen. All das, bevor der Rest der Menschheit realisierte, was es bedeutet, wenn dieser Brocken mit der Erde zusammenstoßen wird.

Beinahe drei Jahre ließen sie dieses gigantische Fluchtschiff im Orbit zusammenstellen. Über eine halbe Million Menschen aus allen Teilen der Welt pferchen sich derzeit in winzige Luxuskabinen, um die Zeit nach dem Einschlag auszusitzen, bis eine Landung wieder sicher sein wird.

 

Meine Kompanie war eingeteilt worden, die Eliten Frankreichs auf ihrem Weg in das Überleben abzusichern und dafür zu sorgen, dass Normalsterbliche all dem nicht in die Quere kamen, denn immer wieder versuchten Einzelne, ebenfalls auf die Arche zu gelangen. Die meisten fanden dabei den Tod. Es war brutal, sogar unmenschlich, und doch sah ich es irgendwie ein, denn es waren schließlich deren Mittel, mit denen die Arche gebaut wurde. Auch wenn dieses Geld in den letzten einhundert Jahren nur mit vielen zweifelhaften Tricks angehäuft wurde. Rechtlich war es ihres.

Entlarvend bleibt nur, welche Personen plötzlich alles noch zu den »sehr wichtigen Menschen« zählen. Von skrupellosen Wirtschaftsherrschern über Waffenschieber, Mafiabosse, Banker, die korruptesten Politiker und die schlimmsten Hassprediger diverser Religionen ist einfach alles an Abschaum dabei, was dieser Planet je hervorgebracht hat.

Was hatte Vater vor Wut gepoltert – zu Recht, denn es offenbart, wer unsere Welt stets regiert hat: Diebe und Gauner, sagt schon der Volksmund, und Apocalyptica zeigt uns schlussendlich ihre hässlichen Gesichter.

War jemand ernsthaft überrascht? Ich nicht. Vor Jahrtausenden wurden freie Völker von religiösen Fanatikern niedergemetzelt und ausgerottet. Mordend und zerstörend zogen sich Heere aus Eroberern über den Globus, bereicherten sich und entschieden anschließend, nachdem alles unterjocht und aufgeteilt war, eine Zivilisation zu gründen. Die Macht- und Wirtschaftskriege der einzelnen Nationen, allem voran die der Amerikaner, setzte jedoch nie ganz aus. Bis zu dem Tag, an dem Apocalyptica erschien.

Mit einem Schlag schwieg plötzlich jede Waffe und seitdem herrscht Frieden auf unserer Welt. Vater nennt diese Offenbarung nur »ekelhaft« und »heuchlerisch«. Er mag recht haben. Nur, wer ist er? Was kann er tun? Genauso wenig – oder viel – wie wir anderen, denn unsereins wird geboren, beherrscht, soll arbeiten und konsumieren, bis wir am Ende sterben.

Ich sehe meinen kleinen Bruder an und fühle diese innere Schwere. Unsere Mutter verfluchte sich so oft, ihn geboren zu haben, nur um ihn einem solchen Ende auszusetzen. Aus ihren ungerechtfertigten Selbstvorwürfen bildete sich eine schwere Depression, die sie anfangs zu überspielen und später zu leugnen versuchte. Ganz zum Leid von André, welches sie sich dann ebenfalls zuschrieb und eines Nachts unter Tränen das Haus verließ.

Seitdem hoffen wir auf ihre Rückkehr, ohne etwas Argen in unseren Gedanken. Jedenfalls gilt das für mich. Ich teile ihren Schmerz und verzeihe ihr, uns im Stich gelassen zu haben. Daher übernehme ich an ihrer Stelle die Fürsorge der Familie, in der wir still auf das Unabwendbare warten.

»Ratten.« André kichert. »Vermutlich werden Nagetiere überleben.« Ich nicke.

»Je kleiner ein Tier, desto höher ist dessen Überlebenschance.« Mein Bruder sah mich grübelnd an.

»Wenn das doch alles schon beschlossen ist … wieso versteckst du dich noch?«

Er ist ein viel zu kluger Junge, obwohl er nie eine Schule besucht hat. Ich streiche ihm durch sein volles Haar und lächele. »Das sind noch die Regeln der alten Welt.« Mit dem Zucken meiner Schultern erkläre ich ihm die Fahnenflucht.

»… und deshalb ist es Hochverrat. Die Systeme werden mich bis zum letzten Tag suchen.«

»Viele Tage sind das ja nicht mehr«, brummt Vater, als er die Wetter-App über den Schirm anzeigen lässt. Ich halte für einen Moment den Atem an und blicke auf André hinab, der ebenfalls nur meinen Vater anstarrt und schluckt. Uns alle wird einmal mehr bewusst, dass es wirklich nicht mehr viele Tage sein werden, an denen die Sonne für uns scheint. André wird heute Nacht gewiss wieder Albträume haben.

Ein schriller Ton dringt plötzlich aus den Lautsprechern und weckt unsere Aufmerksamkeit.

»Was war denn das?«, frage ich, denn ein solches Signal hatte es nie zuvor gegeben. Mein erster Gedanke ist, dass es die akustische Ausgabe eines Fehlers sein könnte. Mein Verdacht erhärtet sich, als das Auswahlmenü daraufhin bei allen Sendeanstalten das gleiche Thumbnail zeigt.

»Das muss ein Fehler sein«, murmele ich in mich hinein, obwohl sich die Beschreibungen bei allen Sendern unterscheiden.

»Und das?«, fragt nun aber mein Vater und deutet auf den Bildschirm; am oberen Rand zählen sich alle zur Meldung passenden Updates und geteilte Inhalte zusammen. Zwanzig … einhundertsechzig … achthundert, und das in nur Sekunden! Irgendetwas muss soeben geschehen sein und flutet nun das Internet. Also berühre ich das erstbeste Angebot auf dem Hauptschirm. Das Video wird frei ausgestrahlt, es gibt keine Lizenzhinweise oder Hilfeaufrufe. Ich bestelle die Sendung und setze mich. André nimmt zwischen mir und meinem Vater Platz.

»Werte Zuschauer«, begrüßt uns eine Stimme hinter schwarzen Grund. »Die folgende Datei wurde uns soeben zugespielt. Sie liegt in über zwanzig Sprachen allen Sendezentralen der Welt vor und wird derzeit auch im gesamten Netz verbreitet. Der übermittelte Inhalt ist derart brisant, dass wir uns in der Pflicht sehen, diesen unverzüglich zu offenbaren.«

»Na, das klingt ja wichtig«, mein Vater brummt missbilligend und lehnt sich zurück. »Kommen die Ratten etwa zurück, um noch ein wenig Nahrung mitzunehmen?«

Mein Bauchgefühl sagt mir jedoch etwas anderes, als der Bildschirm eine Aufnahme des Apocalyptica-Asteroiden zeigt. Es ist eine unglaublich detaillierte Aufnahme. Die steinige Oberflächenstruktur ist so klar zu erkennen, als stünde man direkt davor.

Nach einem Moment der Stille setzt eine verzerrte Stimme ein: »Bürger dieser Erde.« Die Darstellung des Asteroiden offenbart sich vor unseren Augen als ein Rendering. »Wir sind eine weltumspannende Organisation, die vor über fünf Jahren diesen digitalen Asteroiden erstellt und in die Datenbanken aller Raumfahrtorganisatoren und Beobachtungssysteme eingeschleust hat.«

Unbewusst richte ich mich ein wenig auf, halte den Atem an und versuche, das gerade Gesehene zu begreifen.

»In jeder einzelnen Station sind wir vor Ort vertreten, um unsere Daten aufrecht zu erhalten.«

Ich blicke meinen Vater an, fast so als wolle ich prüfen, dass er noch dabei ist und dasselbe sieht wie ich. Mein alter Herr sitzt nur da, vollkommen regungslos und blass im Gesicht.

»Papa?«, frage ich, doch er verbietet mir mit einer unwirschen Geste den Mund und unterdrückt ein Husten. Der Sprecher setzt derweilen unvermindert fort. »Der Grund, warum 2047 die durch die USA eingesetzten Raketen den Asteroiden verfehlten, liegt daran, dass er nicht existiert.«

»Was zur …?«, raunt mein Vater und schlägt die Hände vor seinen Mund. Auch ich meine im ersten Moment, mich verhört zu haben. Tausend Gedanken drängen sich auf, doch nur eine Frage bleibt übrig: Kann das wirklich wahr sein? André runzelt nur seine Stirn, schaut uns an, als sähe er einen schlechten Film.

»Er ist nicht real«, wiederholt die Stimme und der Schirm zeigt nun einen Satelliten, der der Erde einen steuerbaren Spiegel entgegenhält, um das Sonnenlicht zu reflektieren, sowie ein zweidimensionales Hologramm des Asteroiden ausgibt, das zwischen Erde und Spiegel steht.

»So simulieren wir die optische Darstellung von Apocalyptica«. Die Stimme macht eine Pause, als wüsste sie, dass das eben Gesagte noch sacken musste. »Es wird keinen Einschlag geben.«

Der Bildschirm zeigt nun die Arche, in der sich die derzeitigen Welteliten verkrochen haben.

»Niemand wird sterben, bis auf all jene, die sich die Güter unserer Welt angeeignet, dieses Schiff nach unseren Plänen konstruiert und anschließend bezogen haben.«

Das Bild stellt nun einen grafischen Kurs dar, der von der Erde wegführt. »Die Arche befindet sich seit mehr als sechs Monaten auf ihrem Kurs in die Sonne und wird innerhalb der nächsten Jahre dort einschlagen, ohne dass jemand an Bord etwas dagegen unternehmen kann.«

Die Stimme pausiert und die Animation zeigt nun, wie ein Pfeil in die Sonne verschwindet. »Willkommen auf Erde II«, setzt der Sprecher fort. »Beginnen wir von vorn, ohne aufgezwungenes Ungleichgewicht, ohne Kriege, ohne Raffgier, Notstände oder den Hass unserer Religionslenker.« Eine Grafik baut sich auf und vergleicht den Reichtum Einzelner mit dem aller anderen Menschen. Dazu kommen Ausgaben für Kriege, deren Resultate, Umweltverschmutzung und wer sich an all diesem Leid bereicherte. »Sie haben uns keine Wahl gelassen.«

Das Bild verdunkelt sich und zurück bleibt Schwärze.

»Die zivilen Opfer …«, setzt nun eine gleichfalls verfremdete Frauenstimme an, ohne dass das Bild sich ändert, »… dieser Scharade zur Befreiung der Menschheit bedauern wir sehr und möchten uns bei allen Hinterbliebenen aufrichtig entschuldigen.«

Eine neue Einstellung taucht aus dem Schwarz auf. Unzählige Personen, große, kleine, dicke und dünne in dunklen Anzügen stehen vor einem roten Vorhang und senken ihre maskierten Gesichter.

Eine ganze Minute lang, dann ergreift die Frauenstimme erneut das Wort. »Diese Chance forderte viele Opfer, auf allen Seiten.« Damit endet die Sendung.

Mein Vater, der seine Frau und meine Mutter aufgrund dieses Fake-Asteroiden verloren hat, starrt noch immer regungslos auf die Bildausgabe des Mediasystems. Ich kann ebenfalls keinen klaren Gedanken fassen.

»Die Welt stirbt nicht?«, fragt André ganz so, als sei etwas nicht in Ordnung. Vater und ich schauen ihn an. Ich merke, wie mein Mund offen steht und Tränen an meinen Wangen herablaufen. Langsam schüttle ich den Kopf und schlucke trocken.

»Das ist sie gerade«, antwortet mein alter Herr und lächelt. »Und du bist in eine neue hineingeboren.« Er lacht lautstark auf, nimmt André und anschließend mich fest in seine kräftigen Arme.

Ich ergebe mich meinen Gefühlen, lache und weine zugleich. Tief in mir realisiere ich, dass vor uns das größte Abenteuer der Menschheit steht, dem ich angemessen begegnen möchte; indem ich heute mit André nicht unsere Serien weiterschaue, sondern ihm Lesen und Schreiben beibringen werde. Als erstes aber werden wir Mutter finden.


Galax Acheronian ist ein Autor und Illustrator, der bereits in jungen Jahren Geschichten, Comics und Fanfictions schrieb. Seit 2010 erscheinen unter seinem Namen regelmäßig Kurzgeschichten, Novellen, Coverarts und Romane aus dem Bereich der Phantastik, primär der Science-Fiction. Ebenfalls war er schon Mitherausgeber einiger Anthologien.

Website: http://www.acheronian.de/

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