Triangel

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Hassler atmete nun ruhiger. Er legte sich rücklings auf die Pritsche und verschränkte die Arme im Nacken. Nächste Woche sollte er überstellt werden. Er war aufgeputscht. Vierzehn Tage Begutachtungsstation, das bedeutete einen gewaltigen Schritt nach vorne. Er betrat die Arena. Er wusste, der Gutachter würde ihn mit allen Mitteln reizen, um in sein Innerstes vorzudringen, seine Gedanken und Fantasien ans Licht zu zerren und schließlich darüber zu befinden, ob man ihn wieder auf die Menschheit loslassen könne. Hassler musste dafür sorgen, dass er den Kampf gewann, dass er die Arena als Sieger verließ. Ficken, wieder ficken, nicht gefickt werden. Siebzehn Jahre waren genug.

Die erste Zeit hatte Hassler als Justizirrtum abgesessen. Geschworenenverhandlung – Urteil (schuldig, mit nur einer Gegenstimme), Berufung, Nichtigkeit. Bestätigung des Urteils: lebenslang. Verlegung in eine Vollzugsanstalt und der Versuch einer Wiederaufnahme des Verfahrens. Arbeitsverweigerung, Disziplinarstrafen, Verlegung in eine andere Anstalt, jetzt schon mit einem gewissen Ruf, der ihm Respekt verschaffte und ihn in der Häftlingshierarchie deutlich nach oben schob. Ablehnung der Wiederaufnahme. Hassler zerlegte seinen Haftraum, zerfetzte sich mit einem Messer den Arm und drohte in der ersten Wut, seinen Anwalt zu liquidieren. Er weigerte sich, die Begräbniskosten für seine Opfer zu zahlen. Er »blieb auf Nein«, wie man das hier nannte.

»Es sind mehrere.« Benkö musste es wissen. Der kleine drahtige Mann hatte die Prozedur schon zweimal mitgemacht. »Sexualdelikt, mehr brauchst du nicht zu wissen.« Hassler nickte. »Ich kann dir ein paar Gutachten beschaffen, damit du siehst, worum es geht.«

Hassler schwieg. Alles eine Frage des Preises. Man bekam hier alles, wenn man Geld hatte. Von Insassen. Von Beamten. Er hantierte mit dem Tauchsieder, rührte reichlich Löskaffee ins heiße Wasser und schob Benkö eine Tasse hin.

»Kooperation heißt das Zauberwort«, dozierte Benkö und musterte sein Gegenüber aufmerksam. »Du musst zusammenarbeiten. Einsichtig sein. Erzählen. Kindheitstrauma, alles. Sie fragen dich, zu welchen Bildern du wichst und wie du dir deine Zukunft vorstellst. Und noch einmal alles zur Tat.« Er nahm einen Schluck Kaffee und drehte sich eine Zigarette. Seine flinke Zunge fuhr über den Klebefalz, er fusselte zwei, drei Tabakbrösel von den Lippen. »Opferempathie. Du hast verstanden, was du dem Weib angetan hast. Kapierst du?« Er sah Hassler lauernd an. »Heute fühlst du mit ihr. Es tut dir leid. Du bereust.«

Hassler wollte etwas sagen, überlegte es sich aber. Er nickte.

»Es sind mehrere Psychologen, Psychiater, was weiß ich. Auch Weiber«, fuhr Benkö fort. »Der eine macht die Tests, aus denen sie herauslesen wollen, ob du gestört bist und wie sehr. Deine Intelligenz, Aggressivität, alles.« Er ließ sein Zippo aufspringen, zündete sich eine neue Zigarette an und sog hastig den Rauch ein. Er hatte harte, verhornte gelbe Finger und zu lange Nägel. Hassler ekelte sich mit einem Mal. »Egal, ob sie freundlich oder beiläufig fragen: Vergiss nie, worum es geht. Am Ende hockst du dann beim Alten, und der hat alles vor sich liegen, was du in den zwei Wochen, wem gegenüber auch immer, von dir gegeben hast. Und nimmt dich noch einmal auseinander.«

»Und warum«, wollte Hassler wissen, »hat es bei dir beim ersten Mal nicht geklappt?«

»Ich rede gern. Der junge Psychologe, so ein Bürschchen, ein Lehrling, sollte wohl bei mir üben. Hat viel gefragt. Wollte lernen. Hat mich zum Reden gebracht. Hab zu viel erzählt. Gespräch unter Männern, gewissermaßen. Eine Wellenlänge. Kam mir wenigstens so vor.«

»Und?« Der Hellste ist er wohl nicht, dachte Hassler, der seine Fantasien als Privatsache betrachtete. Die meisten hier geilten sich an ihren eigenen Schilderungen auf. Er hatte sich da immer zurückgehalten.

»Die Sau hat dem Alten alles Stück für Stück geschildert. Das war’s dann.«

Hassler nickte. Er war zuversichtlich. Zu viele Worte waren noch nie sein Problem gewesen.

Dieses Gespräch hatte die Wende gebracht. Hassler gab seinen Widerstand auf und entschied sich für Plan B.

Der blitzblaue Clio hatte freie Fahrt, während sich auf der Gegenfahrbahn die Autos drängten, Stoßstange an Stoßstange. Regina blickte in blasse müde Gesichter. Sie sah einen rotgesichtigen Mann in einem grellbunt gestreiften Kurzarmhemd aufgebracht gestikulieren, die Frau auf dem Beifahrersitz starrte mit leerem Gesicht vor sich hin. In einem Angeberwagen rasierte sich ein Mann, und am Straßenrand trödelten ein paar Schulkinder. Regina beschleunigte und ließ die Stadt hinter sich. Nach einer langen Reihe gesichtsloser Einfamilienhäuser hinter genormten Gärten, in denen sich Plastikrutschen und Schaukeln den wenigen Platz mit kleinen Blumenbeeten und frisch gesetzten Sträuchern teilten, bog sie rechts ab und atmete tief durch. Sie liebte diese Morgen. Die Luft war noch kühl. Der warme Duft von frischem Heu umwehte sie und vertrieb den fremden Geruch in ihren frisch geschnittenen Haaren. Alleebäume zeichneten ein bewegtes Schattenmuster auf den Asphalt. Die Landschaft wurde weit, sanft hügelig. Wiesen wechselten mit Feldern.

Sie fuhr zügig und ließ ihre Gedanken laufen. Bald war sie daheim. Zuhause, dachte sie, ein Ort, wo sie hingehörte. Wo jemand auf sie wartete. Den ihr niemand mehr nehmen konnte. Niemand! Sie schluckte. Eine Kleinigkeit hatte genügt, um die alten Ängste wieder aufflammen zu lassen, ihr den Boden unter den Füßen wegzuziehen.

Wie hartnäckig die Vergangenheit an einem klebte. Keine zwei Jahre an einem Ort. Immer wieder fremde Menschen, fremde Gerüche. Feindliche Augen oder neugierige, die ihr Gesicht abtasteten und wissen wollten, woher sie kam. Schulklassen, die sie taxierten und einzuschätzen versuchten. Sie machte sich bald nicht mehr die Mühe, die Gesichter zu unterscheiden. Wenn man sich wappnete, tat es nicht weh. Morgens aus dem Schlaf gerissen werden. Ein hastiger Aufbruch. Zwischen abgestellten Koffern und Reisetaschen frieren. Gereizten Erwachsenen im Weg stehen. Um ihre Katze Winnie weinen, die nicht mehr da war. Wenn sie sich an eine Wohnung gewöhnt hatte, an das Knacksen der Böden, den Wind im Kamin, die Schritte in der Nachbarwohnung und die Geräusche im Stiegenhaus, wenn das Zimmer endlich ein wenig nach ihr roch, nach ihrer Seife, dem Pyjama, den sie immer so lange wie möglich trug, ging es von Neuem los. Kündigten nächtliches Weinen, Schreien, Türenknallen, ein heftiger Streit einen weiteren Umzug an. Eine kleine Villa, möblierte Mietwohnungen, einmal eine halbe Etage in einem Stadtpalais und bald darauf das Internat. Wieder eine kleine Wohnung, diesmal allein mit dem Vater, und danach – sie fühlte die Scham noch immer siedend heiß – ein Obdachlosenheim. Für wenige Monate nur, aber die Angst war geblieben. Die Schande ließ sich nicht abwaschen, nicht verdrängen. Sie hatte die erste Gelegenheit genützt, um wegzugehen. Weit genug, um alles hinter sich zu lassen. Auf eigenen Füßen stehen, von niemandem mehr abhängig sein. Selber verdientes Geld, ein sicherer Job. Das Haus. Das war das Wichtigste.

Regina straffte sich. Mach dich nicht verrückt, befahl sie sich. Du bist kein Kind mehr. Ihre Stirn glättete sich. Sie atmete durch und versuchte ein Lächeln. Der Fahrtwind streichelte ihren nackten Unterarm. Sie winkte einem entgegenkommenden Radfahrer, bremste kurz, als eine Katze über die Straße huschte, und erreichte wenig später das Dorf.

Johanna saß in der Küche und telefonierte. Sie sah nicht auf, als Regina eintrat. Eine steile Falte zwischen den Brauen ließ ihr schönes schmales Gesicht härter wirken. Sie redete schnell, fast atemlos, schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Vor ihr lagen der Bauplan, Prospekte und Notizen. Johanna unterstrich ihre Gesten mit einem roten Kugelschreiber, den sie wie eine Waffe hielt. Kritzelte wirre Linien auf einen Block. Blickte erst auf, als Regina sich über sie beugte. Sie küsste sie auf die Wange und deutete nach oben. Johanna nickte. Sie hatte verstanden. Regina würde sich duschen und umziehen. Dann konnten sie reden.

Regina stellte ihre Tasche ab, kickte die Schuhe von den Füßen und rannte die Treppe hinauf. Der vertraute Geruch – warmes Holz, frisch gewaschene Wäsche, ein Hauch von Zitrone – umfing sie. Hier war es deutlich wärmer. Ihre Stirn, der Nacken wurden feucht. Mit wenigen Schritten durchquerte sie den Raum und öffnete die Fenster. Ein leichter Windhauch streifte sie. Regina zerrte sich die Jeans von den Beinen und zog hastig die Bluse über den Kopf. Ein Knopf sprang ab und rollte unters Bett. Sie fluchte und ging auf die Knie. Der hellblaue Knopf kreiselte, kippte um und kam wenige Zentimeter außerhalb ihrer Reichweite zu liegen. Sie würde das Bett verrücken müssen. Einen Besen holen, um nach dem Ding zu angeln. Sie setzte sich auf, lehnte sich an die Bettkante und schloss die Augen. Öffnete sie wieder. Blinzelte. Ihr Mund war ausgetrocknet, die Kehle brannte. »Reiß dich zusammen«, befahl sie sich. Ein breiter Sonnenstreifen ließ den Boden aufleuchten. Das geölte Holz unter ihren Handflächen fühlte sich samtig an. Im Nacken spürte sie den glatten kühlen Stoff der Bettwäsche. Sie wischte sich über die Augen und erhob sich langsam, sammelte die abgelegten Kleidungsstücke auf. Die Badezimmertür war nur angelehnt. Regina streifte die Unterwäsche ab und nahm ein frisches Badetuch aus dem Schrank. Dann duschte sie, seifte sich ein, stand lange unter dem kräftigen Wasserstrahl. Zitronenduft stieg auf. Sanfter warmer Nebel hüllte sie ein. Sie griff nach einem Shampoo und wusch den Friseurgeruch weg. Langsam fiel die Anspannung von ihr ab. Noch tropfnass strähnte sie mit den Fingern die Haare. Sie griff nach dem großen weißen Badetuch und rubbelte sich trocken. Ein Poltern über ihrem Kopf ließ sie zusammenzucken. Dem Aufprall folgte eine wilde Jagd mit Kratzgeräuschen quer über das Dach. Der Eichkater mit Gespielin. Regina lächelte, während ihr Puls sich langsam wieder beruhigte. Wenig später betrat sie die Küche.

 

Johanna hob den Blick von ihren Notizen. Ihr Gesicht war leicht gerötet, die kurzen grauen Haare verstrubbelt. Ihre Augen blitzten kampflustig. »Ich hab jetzt mit dem halben Dorf gesprochen. Mit allen, auf die es ankommt. Der Raufer wird sich anschauen. Glaub mir.«

»Hat er …?« Regina setzte sich, griff nach der Thermoskanne und nahm sich Kaffee.

»Lügengeschichten verbreitet. Dass wir ausbauen wollen. Der Wintergarten soll nur der Anfang sein, der zweite Schritt ein Zubau auf der anderen Seite, zum Nachbargrundstück hin. Dass du hier, zusammen mit deiner Freundin aus der Stadt, ein Wohnprojekt für Haftentlassene aufziehen willst, erzählt er allen unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Wenn ich erst tot bin. – Deshalb hat es wohl auch eine ganze Weile gedauert, bis jemand mir gegenüber den Mund aufgemacht hat. Falsch verstandene Pietät, Feigheit – ich weiß es nicht. Aber als ich sie dann direkt angesprochen habe, ging es Schlag auf Schlag. Jeder nannte weitere Details.« Johanna lachte verächtlich. »Das Nachbargrundstück dazukaufen – da kämen wir ihm allerdings ganz schön in die Quere, nach dem, was ich gehört habe.«

»Was hast du … ich meine, der ist ja verrückt!« Sofort war die Wut wieder da. »Ich bin froh, dass zwischen hier und der Anstalt eine gute Stunde Fahrzeit liegt. Ich bin froh, wenn ich keine Insassen sehe …« Das hatte sich allerdings verändert. Die Arbeit war ein bloßer Brotjob geworden, den sie mehr oder weniger routiniert erledigte.

»Der ist schlau, Regina. Schlauer, als ich dachte.« Johannas dunkle Augen blitzten. »Erpressung ist eine Sache, die auch schiefgehen kann. Die Leute wägen ab, was ihnen wichtiger ist. Niemand steht gern unter Druck. Der eine oder andere lässt sich das nicht bieten, und das kann selbst einem wie Raufer gefährlich werden.« Sie betrachtete den Kugelschreiber, drehte und wendete ihn und stach dann in die Luft. »Streue ein Gerücht. Dort ein paar Worte, da eine halbe Geschichte. Ganz im Vertrauen. Lauter kleine Feuer, die hochzüngeln. Es braucht seine Zeit, aber über kurz oder lang hast du einen Flächenbrand. – Die Leute haben Angst. Ein Resozialisierungsprojekt, glaub mir, will hier keiner. Die einen fürchten um ihr Eigentum, die anderen haben Angst um die Kinder. Und um ihre Frauen. Vor Vandalismus. Vor Einbrüchen. Man liest ja schließlich die Zeitung … Und Raufer verspricht, sich für die Leute einzusetzen: Das kriegen wir schon hin. Ohne Demonstrationen und ohne großes Aufsehen. Vertraut mir. Die maßgeblichen Leute müssen halt mittun …«

»Aber, Johanna, das ist doch … wie kommt er nur auf den verrückten Gedanken?« Dann fiel es ihr ein: »Karla! Als sie damals zu Besuch war und sich nach dem unbebauten Nachbargrundstück erkundigt hat: Das wäre doch was für eine Wohngemeinschaft für straffällige Jugendliche. Für junge Erwachsene. Die Jungs könnten im Ort arbeiten und sich in der Dorfgemeinschaft engagieren. Eine intakte Umgebung. Überschaubare Strukturen, klare Regeln – die besten Voraussetzungen für eine gelungene Resozialisierung.«

Johanna nickte. »Genau.«

»Aber das ist doch völlig verrückt. Kein Mensch denkt an so was. Und Karla sicher als Letzte. Die hält keine zwei Tage auf dem Land aus und findet es krank, dass ich hier lebe. Sie fand einfach den aufgeblasenen Kerl zum Kotzen und hat ihm kühl lächelnd ein hübsches kleines Projekt angetragen. Um ihn zu ärgern.«

»Du siehst, was Raufer daraus gemacht hat. Er dürfte bald danach mit den … Vorarbeiten begonnen haben. Er hat sich das wohl so gedacht: Über unseren Antrag wird ohne viel Diskussion abgestimmt. Er wird abgelehnt. Und in der gleichen Sitzung das Nachbargrundstück umgewidmet. Raufer hat bereits die Besitzer kontaktiert. Er will über kurz oder lang sein eigenes Hotelprojekt bauen. Da steht ihm dann allerdings unser Haus wieder im Weg.«

»Das ist nicht dein Ernst!« Regina beugte sich vor und stützte sich auf die Tischplatte. Ihr Atem ging schneller.

»Man erzählt, er plant ein Wellnesshotel. Klein, gediegen, idyllisch gelegen. Die Gemeinde finanziert mit und Raufer zieht das Ganze auf.«

»Und – unser Haus?« Regina erstarrte. »Man müsste diesen gierigen, großkotzigen, miesen Scheißkerl –«

»Unser Haus bleibt«, unterbrach Johanna mit fester Stimme. »Wir bauen den Wintergarten. Er wird sich von seinem Projekt verabschieden müssen, glaub mir. Und wenn ich mir die Füße wund laufe. Wenn es das Letzte ist, was ich tue.« Sie beugte sich vor und ergriff Reginas Hand. »Keine Angst. Es wird alles gutgehen. Vertrau mir.«

Nach dem Duschen übernahm Hassler drei Briefe. Die Kuverts waren offen. Jegliche Post ging durch die hausinterne Zensur. Er war daran gewöhnt. Wie an den Umstand, dass sein Tagesablauf von anderen bestimmt wurde: das Wecken, die Mahlzeiten, der Hofgang, der Zeitpunkt, an dem das Licht an- und ausging. Beamte schauten durch den Spion in seinen Haftraum, öffneten zu unterschiedlichen Zeiten die Tür zu seiner Zelle und verschlossen sie wieder. Bestimmten, wann er duschen durfte, einkaufen, aus einem Katalog Kleidung bestellen, Briefe hinausgeben, Besuche empfangen. Früher, als er noch in Freiheit war, hatte er einen Namen. Hier war er eine Nummer. Sein Geld wurde vom Haus verwaltet, Ansuchen ohne Angabe von Gründen bewilligt oder abgelehnt. Wenn jemand es für notwendig hielt, wurden sein Haftraum und sein Körper durchsucht. Er musste sich ausziehen, vorbeugen und es über sich ergehen lassen. Er hatte zu arbeiten, wenn man es anordnete. Aufzustehen, wenn ein Beamter die Zellentüre aufschloss. Eine Weigerung zog eine Ordnungsstrafe nach sich.

Nach einem raschen Blick auf die Absender blieb er stehen. »Ist das alles?«

Der Beamte nickte gleichmütig und folgte dem Nächsten die Post aus. Hassler stopfte die Briefe achtlos in die Tasche seiner Trainingshose. Der Brief, auf den er wartete, war nicht dabei! Er biss die Zähne zusammen, beherrschte sich mühsam. »Kann ich trainieren, Chef?«

»Wenn wir da fertig sind. Der Kollege geht mit euch hinüber.« Er deutete mit dem Kinn auf den Supersportler, der breitbeinig in einer offenen Haftraumtüre stand. Hassler wechselte einen Blick mit Varga. Der nickte. Hassler ging in seine Zelle. Um diese Zeit waren die Türen offen. Er ließ sich auf das Bett fallen und schüttelte das dickste Kuvert – Fotos. Yvonne hatte Fotos beigelegt. Nach einem flüchtigen Blick schob er die Bilder zurück und überflog die Briefe der beiden anderen, ohne viel davon wahrzunehmen. Was als Zeitvertreib begonnen hatte, mit Hoffnung auf Abwechslung, Ablenkung, wurde zunehmend mühsam. Sie erzählten von ihrem Alltag draußen, zu dem er keine Verbindung hatte, fragten Dinge, die er nicht beantworten konnte oder wollte. Alles begann sich im Kreis zu drehen: Wiederholungen, Floskeln, Geschichten, die den Anschein erwecken sollten, im Leben des anderen einen Platz zu haben, wichtig zu sein. Selbst Yvonne, die wöchentlich zu Besuch kam, blieb ihm fremd. Alles Humbug, dachte Hassler. Alles Betrug. Nichts als schöne Worte, die schon morgen nicht mehr galten.

Mit einem Mal packe ihn heftige Wut. Sollte das verdammte Weib verrotten! Sie wusste, dass er auf sie angewiesen war, und zierte sich. Nun zahlte sie ihm heim, was er damals getan hatte. Was erwartete sie? Dass er zu Kreuze kroch? Der Sozialarbeiter hatte vorgefühlt: Sie lebte noch dort. Hatte eine Kontaktaufnahme nicht grundsätzlich abgelehnt, was immer das heißen mochte. Seit vier Wochen wartete er nun auf ihre Antwort. Und sie ließ ihn zappeln. Er hatte Varga, der regelmäßig Ausgang hatte, hingeschickt. Er sollte ihr auf den Zahn fühlen. Hassler wollte Gewissheit. Als der Beamte wuchtig mit dem Schlüsselbund an die Tür schlug, erhob er sich und verließ den Haftraum. Die Gruppe war bereits im Aufbruch. Der Auftrainierte stolzierte voran, Kreuzer, ein älterer schweigsamer Beamter mit buschigen Augenbrauen, den Hassler in Ordnung fand, schloss hinter ihnen ab. Er streifte ihn mit einem kurzen Blick, sagte aber nichts.

Im Trainingsraum wartete Hassler, bis Varga auf ihn zukam. Sie trabten eine Weile nebeneinander auf dem Laufband, wechselten dann nach hinten zu den Geräten. Hassler wählte die Beinpresse. Er steckte die Gewichtsscheiben auf die Pendel und legte sich hin. Er hörte Vargas regelmäßiges Atmen neben sich und konzentrierte sich auf sein Training. Das Brennen in seinen Oberschenkeln wurde stärker. Neben ihm arbeitete Varga konzentriert an seinem Bizeps. Weiter vorne instruierte der Superhero zwei Neuzugänge. Er stolzierte wie ein Gockel vor ihnen hin und her und redete vermutlich Schwachsinn. Hassler deutete mit dem Kopf auf den Kerl. Varga zog verächtlich den linken Mundwinkel nach unten. Wenig später tauschten sie die Geräte.

»Und?«, fragte Hassler schließlich und bemühte sich um einen gleichgültigen Gesichtsausdruck.

Varga begann mit dem Training. Er war drahtig und muskulös. Ein Läufer mit einem Raubvogelgesicht. »Ich war bei ihr.« Pause. Auch Hassler schwieg. »Ein hartes Weib«, bemerkte Varga und warf Hassler einen kurzen prüfenden Blick zu. »Sie hat mich an der Haustüre abgefertigt. Hat mir ohne Umschweife gesagt, dass sie an keinem Kontakt interessiert ist. Weder brieflich noch persönlich. Sie hat abgeschlossen. Wenn er noch einen losschickt, um mich umzustimmen, hat sie erklärt, fange ich an zu graben. Sagen Sie ihm das. Er kennt sich aus.«

Hassler, mittlerweile schweißüberströmt, hielt in der Bewegung inne. Der Seilzug ruckte. Hassler brachte ihn mit mühsam erzwungener Ruhe langsam in die Ausgangsposition zurück. Er starrte Varga an.

»Ich soll dir sagen, dass es ihr damit ernst ist«, fuhr Varga fort und machte eine kurze Pause. »Sie hat sich abgesichert, was immer das bedeutet.« Varga lockerte seine Beinmuskeln und nahm das Training wieder auf. Er schaute Hassler nicht an.

»Ist gut«, erklärte Hassler knapp und erhob sich. Er säuberte das Gerät und legte sich das Handtuch um den Nacken, der vor Schweiß troff. »Ich lasse dir die Ware zukommen.«

Varga nickte. »Passt.« Er blickte starr geradeaus.

Steifbeinig ging Hassler ein paar Schritte und sah sich um, ohne etwas wahrzunehmen. Die anderen hielten Abstand. Er atmete zwei-, dreimal keuchend aus. Öffnete und schloss die Fäuste und versuchte an nichts zu denken, das eben Gehörte zu verdrängen. Rund um ihn war Bewegung. Man hörte das Ächzen und Stöhnen der Männer und roch ihren Schweiß. Eingespannt in ihre Maschinen arbeiteten sie konzentriert an ihrem Körper. Hassler suchte den Blick des älteren Beamten und deutete auf den Sandsack. Kreuzer nickte. Hassler griff zum Sprungseil und wärmte sich auf. Er bandagierte sich die Hände und zog die Handschuhe über. Tänzelte, probierte ein paar rasche Schlagkombinationen und drosch dann auf den Sandsack ein, als ginge es um sein Leben. Er nahm um sich nichts mehr wahr. Sein Kopf wurde leer.

»Bewilligung ist durch. Wir bauen!! Hanna« Die Nachricht erreichte Regina per SMS in einer Verhandlungspause kurz vor der Urteilsverkündung. Sie las den Text, die wenigen Worte, wieder und wieder, erklärte dem Kollegen, dass sie austreten müsse, und rief sofort zurück.

Johanna klang euphorisch. »Wir haben die Bewilligung!«

»Ich hab’s grade gelesen. Ich kann nur ganz kurz …« In der Kabine lehnte Regina den Kopf an die kühlen Fliesen. Sie wollte schreien und losrennen. Rennen wie damals als Kind, wenn ein Glück fast zu groß war, um es zu ertragen. Wie später, als sie schon in der Stadt lebte und regelmäßig laufen ging, um die Anspannung, den Druck loszuwerden, den sie, den halben Tag vor arroganten, teuer bestrumpften Gänsen auf den Knien liegend, aufgebaut hatte. Um dann, weit weg von allen, mitten im Wald, den Wind im Gesicht, zu schreien, bis ihr die Stimme brach.

»Was sagst du? Bist du noch da?«

»Es ist … großartig, Johanna. Ich bin …«

»Saal 305, eintreten zur Urteilsverkündung.« Die Durchsage unterbrach sie. Der Richtersenat war mit den Beratungen zu einem Ende gekommen. Regina verabschiedete sich hastig und eilte auf den Gang. Unter den Wartenden entstand Unruhe. Die Anwälte klappten ihre Handys zu. Regina vergewisserte sich nochmals, dass ihres ausgeschaltet war. Aufgeregte Angehörige redeten durcheinander. An der Tür Gedränge, der Verhandlungssaal füllte sich rasch wieder. Die Luft war immer noch stickig, der Raum überhitzt. Die beiden Angeklagten, die ihr Kollege und sie bewachten, wirkten abwesend und angespannt. Beide starrten den Richtern entgegen. Alle erhoben sich, das Gemurmel im Raum erstarb. Richter und Geschworene nahmen ihre Plätze ein. Die Laienrichter hielten den Blick gesenkt.

 

Schuldig, dachte Regina. Die kleine rundliche Frau mit den wachen Augen, die im Laufe der Verhandlung mehrmals nachgefragt hatte, presste die Lippen zusammen. Dem zweiten von rechts, einem blassen Mann im karierten Sakko, wurde der Kragen eng. Er starrte auf das Kreuz auf dem Richtertisch.

»Frage eins«, begann die Sprecherin der Geschworenen. Sie hatte ein leichtes Zittern in der Stimme, fasste sich aber rasch. »Vier Ja, zwei Nein.«

Reginas Kollege straffte sich und trat näher an die Angeklagten heran. Er roch unter seinem Rasierwasser leicht nach Schweiß. Regina klebte die Uniformbluse am Leib. Unter ihren Brüsten bildeten sich Rinnsale, ihr Nacken war feucht.

»Frage zwei: fünf Ja, ein Nein.«

Die weiteren Fragen wurden einstimmig mit Ja beantwortet. Regina tauschte einen raschen Blick mit dem Kollegen und trat gleichfalls vor. Von den beiden Beamten flankiert vernahmen die Angeklagten das Urteil.

Regina beeilte sich, aus der Anstalt zu kommen. Das Handy am Ohr, nickte sie den Kollegen zu, schulterte ihre Tasche und beschleunigte den Schritt. Johannas Anschluss war besetzt. Regina versuchte es wieder und wieder. Sie erreichte sie erst, als sie bereits im Auto saß.

»Nicht auszudenken«, erklärte Johanna, »wenn ich nicht mit dem Pfarrer und dem Gemeindesekretär telefoniert hätte.«

»Aber dass Petra kein Wort gesagt hat. Oder Wolfgang …« Ihm nahm es Regina besonders übel.

»Vergiss nicht, beide sind keine Einheimischen«, erklärte Johanna. »Die Petra mag in der Bäckerei das eine oder andere Wort aufgeschnappt haben, aber alle wissen, dass ihr euch gut versteht. Da hält man sich zurück. Und der Doktor ist ja erst seit vier Jahren da, der gehört noch nicht dazu. Der wird davon nichts gewusst haben.«

»Glaube ich nicht«, pfauchte Regina. »Er hat mich belogen. Zwei Jahre lang. Hat mir Hoffnungen gemacht, mir eine gemeinsame Zukunft vorgegaukelt. Und ist dann zu seiner Frau zurück, weil sie schwanger war.«

Johanna ging nicht darauf ein. »Bei mir hat es sicher an die fünfzehn Jahre gedauert, bis ich im Ort akzeptiert worden bin. Als die Kinder dann öfter ein Stück ihrer Ferien hier verbracht haben, wurde jede eingeschlagene Fensterscheibe, jedes geklaute Fahrrad im Dorf den Fratzen aus der Stadt angelastet.« Sie verstummte.

Regina hing ihren eigenen Gedanken nach. Was zuerst Schmerz gewesen war, wurde nun langsam zu Wut.

Es war bereits später Nachmittag, als Regina nach Hause kam. Johanna saß am Gartentisch und hatte eine große Schale Milchkaffee vor sich und eine Schüssel mit frisch gepflückten Erbsenschoten auf dem Schoß, die sie sorgfältig auslöste. Die Katze lag mitten in der blühenden Katzenminze im Hochbeet und regte sich nicht. Der Kater war nicht zu sehen.

»Du kommst spät. Wie war dein Tag?« Johanna sah sie besorgt an. Ihre grauen, sehr kurz geschnittenen, dichten Haare waren frisch gewaschen. Der warme Duft von Rosen umwehte sie.

Regina lächelte, beugte sich vor und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Nichts Besonderes.« Sie schob ein Sitzkissen zurecht, ließ sich Johanna gegenüber auf der Bank nieder und griff nach der Thermoskanne mit dem Kaffee. »Eigentlich sollten wir Sekt trinken!« Sie lachte, sprang wieder auf, lief in die Küche und kam mit einem voll beladenen Tablett wieder. »Was magst du?«

»Ich hab keinen Hunger«, winkte Johanna ab.

»Du isst wie ein Vogel«, rügte Regina. Sie nahm sich ein Stück Brot, bestrich es sorgfältig mit Butter und Marillenmarmelade, schnupperte vergnügt und verscheuchte eine Biene. Sie schenkte sich Kaffee nach und kaute mit vollen Backen. Ihr Blick ging über den Garten. Ihre Züge wurden weich.

»Ich möchte zum Notar fahren«, erklärte Johanna unvermittelt. Sie öffnete mit raschen Bewegungen Schote um Schote und ließ die frischen grünen Kügelchen in eine Glasschüssel fallen. Sie hob den Blick. »Ich will, dass du das Geld bekommst. Es ist unsinnig, einen Kredit aufzunehmen, wo ich es doch am Sparbuch habe.«

Regina wehrte ab. »Nein, das will ich nicht. Wozu auch? Ich hab es durchgerechnet, Johanna. Ich schaffe das locker. Mach dir keine Sorgen.«

»Es ist unsere gemeinsame Sache. Und wenn etwas ist«, Johanna machte eine vage Handbewegung, »kommen die Hyänen und du schaust durch die Finger …«

»Wenn was ist?« Regina war augenblicklich alarmiert. »Was soll sein? Die Baugenehmigung ist da. Wir haben das Geld. Raufer kann uns nicht mehr an. Das stimmt doch?«

Johanna nickte. »Sicherheitshalber, Regina. Man kann nie vorsichtig genug sein. Du kommst ins Grundbuch. Und wir regeln das mit dem Zubau. Basta.«

»Hat das nicht Zeit? Ich wollte die drei freien Tage gern …«

»Ich fühle mich einfach wohler, wenn alles geklärt ist.«

Beide schwiegen. Die Sonne wanderte. Sie rückten ein Stück weiter in den Schatten. Der Kater kam und sprang Regina auf den Schoß. Sie kraulte ihn mechanisch hinter den Ohren.

»Denkst du, dass …«, Regina stockte, »dass er irgendwann hier auftaucht?«

»Nein«, erklärte Johanna bestimmt und presste die Lippen aufeinander. »Nein, Regina. Mach dir keine Sorgen.«

Karla arbeitete in einer Wohngemeinschaft für Haftentlassene. »Im Grunde ist es ein Scheißjob«, hörte Regina sie zunehmend häufiger klagen. Sie gab der Freundin recht. Sie hörte sich erschöpft an. »Wir sind schon wieder chronisch unterbesetzt. Tagelang läuft es so dahin, Erstgespräche, Aufnahmen, Einkäufe checken und Mieten kassieren. Im Hintergrund dröhnt der Fernseher, alle qualmen, und die Zeit zieht sich wie ein Kaugummi. Wenn ein Bewohner sich eingelebt hat, geht es an die Planung. Alle wollen zu viel und versprechen sich und uns, was sie niemals halten können. Frust ist vorprogrammiert. In letzter Zeit tickt die Chefin ständig aus, und hätte ich nicht Kollegen wie Kilian und Lotte, ich hätte den Krempel längst hingeschmissen.«

Regina hielt das für eine ausgesprochen gute Idee. Der Verein, der die Einrichtung betrieb, war klein und auf Subventionen und Spenden angewiesen. Karla hatte als Einzige eine fundierte Ausbildung. Der Job war reine Selbstausbeutung, die Chefin eine magere hysterische Ziege und die Bewohner Psychopathen. Die Schilderungen Karlas am Telefon hatten sie in dieser Annahme bestärkt.

»Kilian behauptet, man könne sich am Vollmond orientieren. Zwei, drei Tage vorher wird der eine oder andere unruhig, Sticheleien untereinander nehmen zu. Aber ich denke, ich bin einfach nur ausgepowert. Ich ertrage es zunehmend schlechter, meine Nerven liegen blank. Wie letztens.«

Regina stellte sich auf ein längeres Telefonat ein.

»Ich habe sofort gewusst, schon beim Einzug, dass wir mit diesem Typen Ärger kriegen werden. Zu glatt, zu höflich, zu kontrolliert. Kalte Augen. Provokant. Schon am dritten Tag eine Auseinandersetzung mit einem anderen Bewohner. Und dann tigert er durch die Nacht auf der Suche nach einem weiteren, an dem er sich austoben kann. Und ich sitze da im Büro mit seinem Kontrahenten, der vor Wut bebt. Drecksau, keucht er. – Die anderen Schimpfworte erspare ich dir. – Ich finde ihn. Das lasse ich mir nicht gefallen. Ich steche die Drecksau ab! Sein Atem geht stoßweise. Er stinkt nach Gasthaus. Nach Schnaps und billigem Rasierwasser. Und natürlich hat er die Waffe gleich mitgebracht. Ich starre auf das Messer, keine Armlänge von mir entfernt. Ein Fahrtenmesser, scharf geschliffen. Ich könnte mich mit einem Stoß vom Schreibtisch wegkatapultieren und mit zwei Schritten bei der Tür sein. Im Notfall. Betrunkene sind unberechenbar, aber was erzähle ich dir! Aus dem Aufenthaltsraum dröhnt der Fernseher. Und wie immer, wenn es eng wird, ist eine neue Nachtdienstmitarbeiterin im Einsatz. Ich parke sie sicherheitshalber nebenan. Keine Zeit, auch sie noch im Auge zu behalten. Und die Hütte wie ausgestorben.«

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