Der Gesang des Todes

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«Francesco! Schön, dich mal wieder zu sehen. Ah, und das ist deine schöne Kollegin! »

«Nicht nur schön, Herr Stalder, auch intelligent.»

«Und sehr emanzipiert», der Professor kicherte. «Genau so, wie du sie mir beschrieben hast, Francesco … Ich bin Teddy.»

«Freut mich, dich kennenzulernen.» Nadine schaute sich im Restaurant um. «Hier waren wir noch nie. Sieht gemütlich aus.»

«Das finde ich auch und das Essen ist wirklich gut. Ich bin über Mittag oft hier, wenn ich an der Uni Vorlesungen besuche. Bitte setzt euch.»

«Ich bin richtig hungrig.»

Ferrari studierte ausgiebig die Speisekarte. Fleisch oder Vegetarisch? Hm. Eine schwierige Entscheidung.

«Um zwei müssen wir im Theater sein», ermahnte Nadine.

«Ja, ich entscheide sofort … Also, für mich zur Vorspeise einen Salat … Nein, ich nehme doch die Tagessuppe und bitte Menü zwei ohne Dessert. Ich mag kein Schoggimousse. Dazu ein Rivella blau.»

«Oh, kein Alkohol?»

«Wundert mich nicht nach gestern», lachte Teddy. «Ich habe dein Foto gesehen.»

«Das nur den kleinsten Teil der Tragödie zeigt. Wenn Agnes, Sabrina und Francesco unterwegs sind, wird die Stadt leergesoffen.»

«Aber nur vom Feinsten.»

«Der Herr ist auch noch stolz auf seine Besäufnisse.»

«Er war schon früher ein Schluckspecht, Nadine. Ab und zu schleppte ich ihn an klassische Konzerte. Er kam nur mit, wenn im Anschluss ein edler Tropfen lockte.»

«Wobei wir schon bei unserem Thema angelangt sind. Teddy, was kannst du uns über Maria Racco sagen?», fragte der Kommissär und schlürfte genüsslich sein Süppchen.

«Ich darf von mir behaupten, dass ich massgeblich an ihrer Karriere beteiligt bin und darauf bin ich auch stolz. Ich beobachtete sie schon am Konservatorium, eine hervorragende Cellistin. Zu vergleichen mit Sol Gabetta.»

Der Kommissär schaute von seinem Suppenteller auf.

«Das heisst im Klartext, Maria ist die beste Cellistin der Schweiz. Oder in anderen Worten, damit auch du es verstehst, sie ist der Marco Streller der klassischen Musik.»

«Ja, ja, gib nur mit deinem Yvo-und-ich-stehen-halt-auf-klassische-Musik-Wissen an.»

«Francesco, wie er leibt und lebt. Wenn ihn etwas nicht interessiert, gehts vollkommen an ihm vorbei. Sein Leben besteht aus Rolling Stones und FC Basel.»

«Und ab und zu aus der Aufklärung eines Mordfalls.»

«Oh, der Herr ist eingeschnappt.»

«Es gibt übrigens Parallelen zwischen den beiden Frauen. Sol sang bereits als Mädchen und, wie mir versichert wurde, wirklich gut. Sie entschied sich dann fürs Cello. Eine absolut richtige Entscheidung, denn sie spielt dieses Instrument schlicht grandios. Kennst du das SOLsberg Festival?»

«Ja, das findet im Kloster Olsberg statt. Ich war mit Monika einmal dort.»

«Genau. Das wird von ihr organisiert. Im Juni 2006 fand das erste Festival statt, mit dem sie sich einen Traum erfüllte – das Musizieren mit Gleichgesinnten in einer historisch bedeutenden Umgebung und das Gestalten spannender Programme. Ich bin beeindruckt, Francesco, du bist doch kein hoffnungsloser Fall. Aber zurück zu Maria, sie war eine hervorragende Cellistin und eine noch bessere Sängerin. Zum Glück konnte ich sie davon überzeugen, dass ihre Stimme einmalig ist. In der Folge nahm sie Gesangsunterricht und ihr Lehrer, den kennst du auch, Markus Hofer …»

«… der trägt eine extrem starke Brille, oder?»

«Trug, er ist vor einem Jahr gestorben. Markus hielt Maria für das grösste Talent auf Erden. Leider sahen das nicht alle so und es kam zum Fiasko in Basel.»

Der Kommissär säbelte konzentriert an seinem Pouletschnitzel rum.

«Du musst das Huhn nicht erlegen, es ist schon tot», kommentierte Nadine.

«Mach ich doch gar nicht. Was für ein Fiasko?»

«Maria sang für eine Nebenrolle im Stadttheater vor und wurde abgelehnt. Die Beurteilung war vernichtend. Es hiess, sie habe keine gute Stimme.»

«Die Idioten!»

«Ganz meine Meinung. Nach diesem Schock liess Markus seine Beziehungen spielen. Maria bekam ein Engagement in Spanien. Sie sang in einer kleinen Rolle neben Montserrat Caballé, danach gings steil bergauf.»

«Und dann rissen sich plötzlich auch die Verantwortlichen in Basel um Maria?»

«Exakt. Sie boten ihr jede Rolle an, aber sie lehnte alle ab. Die Abfuhr in ihrer Heimatstadt überwand sie nie. Dafür sang sie an allen grossen Häusern.»

«Sicher mit das Verdienst von Philipp Tanner, ihrem Agenten.»

«Man munkelt, dass er mehr als ihr Agent war.»

«Schon immer oder erst nach ihrer Scheidung von Martin Hoffmann?»

«Den Namen solltest du in meiner Gegenwart nicht erwähnen, Francesco. Ich bin eigentlich kein nachtragender Mensch, aber jedes Mal, wenn ich diesen drittklassigen Schauspieler sehe, drehe ich durch. Zwanzig Jahre jünger und ich würde den Mann eigenhändig vermöbeln.»

«Oho! So kenne ich dich gar nicht. Was hat er dir getan?»

«Hoffmann ist eine miese Kreatur, ein ganz durchtriebener Mensch. Maria ist voll auf ihn reingefallen. Die ganze Stadt wusste, dass er sie betrügt. Ich stellte ihn, das war kurz nach Tamaras Geburt, zur Rede, was ein grosser Fehler war.»

«Weil er Maria davon erzählte und sie sich von dir zurückzog», vermutete Nadine.

«Überhaupt nicht. Ich war mit Markus unterwegs und wir trafen ihn zufällig am Rümelinsplatz, im Schlepptau hatte er irgendeine Schnepfe. Ich bin hin, packte ihn am Revers und drohte ihm, Maria alles zu erzählen, wenn er nicht endlich mit den Seitensprüngen aufhören würde. Er … er schlug mir links und rechts ins Gesicht. Markus kam mir zu Hilfe, doch ihm erging es genauso. Hoffmann ist ein äusserst gewalttätiger Mensch. Vor dem müsst ihr euch in Acht nehmen, Nadine.»

«Ich fürchte mich nicht, denn ich habe meinen Beschützer dabei.»

«Bei allem Respekt, ich glaube nicht, dass Francesco mit ihm klarkommen würde. Der ist richtig gewalttätig. Er trainiert auch jeden Tag in einem Fitnessstudio. Nimm ja Verstärkung mit, wenn du ihn verhörst.»

«Habt ihr ihn angezeigt?»

«Nein, das wäre nur auf Maria zurückgefallen. Als sie dann endlich die Scheidung einreichte, war ich so was von glücklich. Damals war Tamara zwei Jahre alt.»

«Zurück zu Philipp Tanner …»

«Also ehrlich gesagt, ist mir Philipp unsympathisch.»

«Maria schien, einen eigenartigen Schlag Mensch anzuziehen», kommentierte Ferrari.

«Geschäftlich gesehen war Philipp genau der Richtige für Maria. Ein knallharter Verhandlungspartner. Da gab es nichts umsonst. Er sorgte dafür, dass die Gagen flossen.»

«Offenbar ein Topagent. Und was stört dich an ihm?»

«Seine Geldgier. Im vergangenen Jahr feierte mein kleines Kammerorchester das zwanzigjährige Bestehen. Ich bat Philipp, abzuklären, ob Maria für uns singen würde. Nur ein oder zwei Lieder. Nach einer Woche schickte er mir ein Freundschaftsangebot, sie würde zum halben Preis auftreten. Ich war enttäuscht und liess es bleiben.»

«Wusste Maria davon?»

«Sie erfuhr es erst nach dem Anlass. Du warst übrigens damals auch dabei.»

«Ich erinnere mich. Es war ein sehr schönes Konzert.»

«Du bist ein schlechter Lügner, Francesco. Das Konzert war in Ordnung, nur fand es leider vor lauter Freunden statt. Ich hätte mich über mehr Publikum gefreut. Tja, einer berühmten Sängerin, die Engagements in der ganzen Welt hat, bleibt wohl keine Zeit für alte Freunde.»

«Jetzt solltest du aber auch noch den Rest der Geschichte erzählen.»

«Lassen wir das, Francesco.»

«Ihr macht mich neugierig.»

«Also gut, Nadine. Meine Frau rief Maria nach dem Konzert ohne mein Wissen an. Sie fiel aus allen Wolken, sie hatte gar nichts von meiner Anfrage gewusst. Es kam zu einem Riesenstreit zwischen Maria und Philipp, was mir natürlich sehr unangenehm war. Das wollte ich wirklich nicht. Und dann …» Teddy war den Tränen nahe. «… traten wir im Rhypark auf. Ich war überwältigt, der Saal war vollkommen ausverkauft. Plötzlich, nach dem ersten Stück, betrat Maria die Bühne, nahm mich in den Arm und sang mehr als zwei Stunden – wie eine Göttin.» Der alte Professor grübelte ungeschickt ein Taschentuch aus dem Jackett. «Das war einer der schönsten Momente in meinem Leben. Aber jetzt … jetzt ist Maria tot. Ein immenser Verlust, der sich nicht in Worte fassen lässt.»

«Kannst du uns noch etwas über ihr Umfeld erzählen, Teddy?»

«Bedingt durch ihre weltweiten Engagements gehörten nur wenige Menschen zu ihrem engsten Kreis. Ihre Tochter Tamara und ihre Mutter Ursina waren ihre wichtigsten Bezugspersonen. Über Philipp haben wir schon gesprochen und dann ist da noch Lore Suter.»

«Wer ist das?»

«Ihre beste Freundin. Die müsstest du eigentlich auch kennen, Francesco.»

«Das sagt mir im Moment nichts.»

«Sie ist Anwältin in einer Kanzlei am Bankverein.»

«Ist das die Rothaarige? So um die fünfzig mit Haaren auf den Zähnen?»

«Exakt. Sie ist mit Mitch Kamber liiert.»

«Dem schönen Mitch?»

Nadine sah den Kommissär fragend an.

«Mitch Kamber ist Zahnarzt, Fasnächtler und Hansdampf in allen Gassen. Früher war er der absolute Schönling von Basel und sehr begehrt. Inzwischen ist der Lack etwas ab. Ich habe schon lange nichts mehr von ihm gehört.»

«Vielleicht Lores Verdienst. Sie hat ihn ziemlich aus dem Verkehr gezogen.»

«Das wäre keine Frau für mich.»

«Tja, wohin die Liebe fällt. Da muss frau auch Kompromisse machen. Frag Monika.»

Ferrari verzog das Gesicht.

«Ihr seid ein eigenartiges Team. Gehts bei euch immer so zu und her?»

 

«Heute ist meine werte Kollegin noch harmlos, sie will bei dir einen guten Eindruck schinden.» Der Kommissär blickte auf seine Uhr. «Halb zwei, wir müssen bald los. Was munkelt man in der Basler Szene über Maria?»

«Sie sei ausgebrannt, stehe kurz vor einem Burnout und habe sich mit Philipp überworfen.»

«Von wem stammen diese Informationen?»

«Nicht aus der Klassikszene, sondern von meiner Frau. Sie trifft sich einmal in der Woche mit Ursina zum Kaffee.»

«Ich hatte gestern Abend aber nicht den Eindruck, dass Maria ausgebrannt ist. Komisch.»

«Ich war leider nicht am Konzert. Meiner Frau gehts gesundheitlich nicht besonders gut, deshalb bin ich zu Hause geblieben.»

«Und warum wurde Maria ermordet?»

«Sind es nicht immer die gleichen Gründe, Francesco? Aus Liebe, Eifersucht, Geld- oder Machtgier? Aus unsäglicher Wut oder purer Angst?»

«Worauf tippst du?»

Mit Tränen in den Augen schüttelte der Professor langsam den Kopf.

«Ich weiss es nicht.»

Einzelne wasserspeiende Figuren des Tinguely-Brunnens quietschten bedenklich. Fasziniert beobachtete der Kommissär die stetigen Bewegungen. Es schien, als wären diese eisernen Maschinen miteinander im Gespräch wie die Schauspieler und Tänzer einst an diesem Ort.

«Wir kommen zu spät.»

«Nur einen Augenblick. Unglaublich! Ich entdecke jedes Mal etwas Neues. Hier stand früher die Bühne des alten Stadttheaters.»

«Ja, das hast du mir schon zig Mal erzählt.»

«Ich mag diese Verspieltheit. Meinst du Tinguely hat exakt nach Plan gearbeitet?»

«Bestimmt.»

«Könnte die hohe Kunst nicht gerade darin bestehen, dass der Künstler am Anfang gar nicht weiss, was am Ende dabei herauskommt?»

«Beinahe wie bei uns, Herr Philosoph.»

«Aber wir wissen, wie das Ende aussehen soll. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Verlies.»

«Nun komm schon, wir müssen einen Mord aufklären. Und die akademische Viertelstunde ist vorbei, die wir den Direktionsassistenten des Theaters warten lassen dürfen.»

Lasse Fahrner liess sie ebenfalls fünfzehn Minuten warten. Vermutlich, um sie für ihr Zuspätkommen abzustrafen. Sein Auftritt war dafür umso theatralischer.

«So schrecklich! Ich bin unsagbar traurig. Schockiert. Dieser Skandal! In unserem Haus wird eine berühmte Sopranistin, was sage ich, die berühmteste Sopranistin unserer Zeit ermordet. Ein ungeheurer Imageschaden. Eine Tragödie! Möchten Sie etwas trinken?»

«Nein, danke. Wir halten Sie nicht lange auf», brummte der Kommissär genervt. Der Kerl geht mir jetzt schon auf den Wecker. Dieses theatralische Getue und alles in einer hohen Stimmlage vorgetragen, aber deine Augen verraten dich.

«Wie gut kannten Sie Maria Rocco?», übernahm Nadine.

«Sehr gut. Ich verfolgte ihre Karriere mit grosser Bewunderung. Es war mir eine grosse Ehre, sie durch den Tag zu begleiten. In der Vergangenheit hatten wir bereits mehrmals versucht, sie zu engagieren, doch leider war sie auf Jahre ausgebucht.»

«Sie wäre wohl auch sonst dem Ruf Ihres Hauses nicht gefolgt.»

«Wie meinen Sie das?»

«Am Anfang ihrer Karriere war Maria Racco für das Stadttheater nicht gut genug.»

«Ach das», er machte eine abschätzige Handbewegung. «Schnee von gestern. Das war lang vor der jetzigen Direktorin. Man muss ja auch irgendwann mal vergeben können.»

«Hat sie das?»

«Nun … nein, leider nicht. Obwohl wir uns wirklich sehr um sie bemühten.»

«Waren Sie gestern den ganzen Abend hier?»

«Selbstverständlich. Ich bin um zwei Uhr nachmittags gekommen, kurz vor Maria, die von einem Mann gebracht wurde.»

«Von wem?»

«Bedaure, ich kenne ihn nicht. Ihr Agent war es jedoch nicht.»

«Kennen Sie Ihren Ex-Mann?»

«Oh ja! Der war gestern Nachmittag hier. Ich musste ihn entfernen lassen», Fahrner zeigte theatralisch zum Ausgang.

«Weshalb?»

«Er schrie hier im Hause herum, beschimpfte und beleidigte Maria. Ich befürchtete, dass er sich auf sie stürzen würde. Das konnte ich nicht riskieren und liess ihn hinauswerfen.»

«Und das ging problemlos?»

«So würde ich das nicht sagen. Beim ersten Versuch stiess er mich zurück. Dummerweise war ich nicht darauf gefasst und fiel über einen Stuhl. Mit der Hilfe von zwei Technikern klappte es dann.»

Klar, Rambo. In Tat und Wahrheit hast du dich hinter deinen Leuten verkrochen und wie Espenlaub gezittert.

«Als er nochmals zurückkam, bat ich ihn eindringlich, aber höflich, das Haus unverzüglich zu verlassen, weil ich sonst die Polizei rufen würde. Das verstand er.»

«Um was ging es bei diesem Streit?»

«Bedaure, das weiss ich nicht. Ich bekam nur einige Wortfetzen mit, der Name Tamara fiel mehrmals.»

«Ist sonst jemand zu Maria Racco gekommen?»

«Nein. Ich habe Frau Racco rundum betreut, ihr jeden Wunsch von den Lippen abgelesen, um sie bei guter Laune zu halten.»

«Und damit sie eine Hauptrolle in der nächsten Oper übernimmt.»

«Das wünscht sich unsere Direktorin, Frau Kupfer. Wir müssen uns an die Decke strecken, die Zeiten sind hart. Im Grossen Rat und vor allem im Landrat wird immer wieder über Subventionskürzungen diskutiert.»

«Sie erhalten ja immerhin lockere fünfundvierzig Millionen pro Jahr.»

«Das ist nicht viel für das grösste Dreispartenhaus in der Schweiz. Schliesslich sind wir der Qualität verpflichtet. Unsere Wirkung macht auch an den Landesgrenzen nicht halt, wir bieten ein anspruchsvolles Spielprogramm in der trinationalen Metropolregion.»

«Das mag sein, doch die Aufführungen interessieren nur eine Minderheit.»

«Da muss ich Ihnen leider recht geben», seufzte der Theatermann. «Kunst ist ein hartes Brot und moderne Inszenierungen finden oft keine Mehrheit. Nichtsdestotrotz muss ein Theater, das etwas auf sich hält, Wagnisse eingehen. Das Theater ist ein lebendiges Experimentierfeld.»

«Auch wenns beim Publikum nicht ankommt?»

«Ja. Ohne neue Impulse gibt es keine Entwicklung. Kunst, und sei sie auch radikal, darf die Hand beissen, die sie füttert. Leider wird das immer schwieriger, weil es nicht den Vorstellungen der Steuerzahler entspricht. Eine fatale Entwicklung. Sehen Sie nur, was in Berlin passiert. Das Beispiel der Volksbühne …»

«Aber immer, wenn ihr eine Oper in klassischer Inszenierung aufführt, ist das Haus voll.»

«Es gibt auch andere Beispiele, etwa die Oper Satyagraha, die wir in der letzten Saison spielten. Kennen Sie diese, Frau Kupfer?»

«Nein.»

«Ein Stück über die frühen Jahre Mahatma Gandhis. Unser Haus war immer ausverkauft, obwohl es sich um eine moderne Inszenierung handelte. Satyagraha heisst übrigens Kraft der Wahrheit. Das Werk ist ein eindrückliches Plädoyer für Pazifismus und Zivilcourage. Sind Sie auch ein Opernliebhaber, Herr Kommissär?»

«Meine Lebenspartnerin, ich eher weniger. Sie wollten uns noch erklären, in welchem Zusammenhang die Theatersubventionen mit Ihrem Werben um Maria Racco stehen.»

«Genau. Wie gesagt, es wird heftig diskutiert. Das Theater koste zu viel und stellte nichts auf die Beine, so die Meinung einiger Politiker. Ich behaupte, dass die grössten Kritiker unseres Hauses nie oder selten ins Theater kommen, somit gar nicht wissen, wie aufwendig der Betrieb eines Dreispartenhauses ist. Oper, Schauspiel und Ballett unter einem Dach, das kostet Geld. Wir könnten natürlich einfach das Programm reduzieren oder eine Sparte streichen, etwa das Schauspiel oder das Ballett.»

«Gerade da hat das Theater aber einen grossen Stellenwert.»

«Sehen Sie, Herr Kommissär. Sie wollen das Ballett erhalten.»

«So habe ich das nun auch nicht gemeint.»

«Andere lieben das Schauspiel und wieder andere die Oper. Aber wenn es ums Geld geht, sind sich alle einig: Wir wirtschaften schlecht und kosten sowieso zu viel. Von den grössten Ignoranten werden wir sogar mit anderen Basler Institutionen verglichen. So eine Frechheit.»

«Zum Beispiel?»

«Dieser… dieser Mensch verglich uns doch tatsächlich mit dem FC Basel. Ein Skandal! Da rennen zweiundzwanzig Männer einem Ball nach und die hirnlosen Massen pilgern Woche für Woche ins Stadion und jubeln ihrem Team zu wie den Gladiatoren im alten Rom! Dafür gibt die Stadt Geld aus, dafür gibts Sponsoren zuhauf. Heute morgen habe ich in der Zeitung gelesen, dass der technische Leiter des Clubs …»

«Marco Steller, einer der besten Fussballer, der je bei uns auflief, und seit gut einem Jahr Sportchef beim FCB.»

«… wieder auf Einkaufstour gehen will, um die Mannschaft zu verstärken. Drei oder vier Millionen Franken dürfe eine Ablösung kosten und ein solcher Spieler verdiene mehr als eine halbe Million im Jahr. Aber hier, hier wo echt gearbeitet wird, wo täglich bis zum Anschlag geprobt wird, dafür gibts kein Geld.»

Weil der elitäre Mist nicht zieht. Darum! Und, wenn du weiter über meinen FCB lästerst, kriegst du eine verpasst! Ferrari ballte die Faust.

«Ich denke, sowohl Theater wie auch Fussball haben ihre Berechtigung, Herr Fahrner. Sie wollten uns noch erklären, weshalb Frau Racco so wichtig für Sie war», hakte Nadine nach.

«Sie war ein Weltstar aus der Region, das zieht bei den Baslern immer, und wegen ihrer Beziehung zu Olivia Vischer. Wenn es soweit kommt, und ich bin überzeugt davon, dass es diesen Populisten in den beiden Räten gelingen wird, unser Budget massiv zu kürzen, dann benötigen wir Unterstützung von privater Seite. Sonst müssen wir eine Sparte schliessen. Olivia Vischer wäre für uns Gold wert.»

«Im wahrsten Sinn des Wortes.»

Fahrner blickte den Kommissär wütend an.

«Aber Frau Racco liess sich nicht erweichen. Oder?»

«Nein. Sie ging gar nicht darauf ein.»

«Wann verliessen Sie das Theater?»

«Nach einer kurzen Besprechung mit dem Dirigenten unterhielt ich mich noch ein wenig mit Maria. Ich fragte sie, ob sie die nächsten Tage in Basel verbringen würde. Sie verneinte, sie müsse zurück nach Mailand. Olivia Vischer stelle ihr ihren Privatjet zur Verfügung. Dann verabschiedete ich mich und bin nach Hause gefahren. Das war so um viertel nach zehn. Normalerweise lasse ich einen Gast nie allein zurück, das müssen Sie mir glauben. Schliesslich gehört die Rundumbetreuung zum Service. Nach Plan hätte ich gewartet, bis sie von Frau Vischers Chauffeur abgeholt worden wäre. Doch Maria bat mich ausdrücklich darum, einige Minuten alleine in der Garderobe verbringen zu dürfen. Vermutlich brauchte sie eine Pause vor dem Flug. Mir war gar nicht wohl dabei. Ich insistierte mehrere Male, ohne Erfolg. Sie lehnte höflich, aber sehr bestimmt ab. Tja, da gab ich auf. Die Frau ist so was von egozentrisch und mühsam. Ich orientierte dann die Putzequipe, dass der Star des Abends noch in der Garderobe sei und nicht gestört werden wolle. Oh! Wäre ich doch nicht gegangen … Eine Katastrophe … Ich mache mir grosse Vorwürfe.»

«Wer war dann noch im Theater?»

«Meiner Meinung nach befand sich nur noch die Putzequipe im Haus.»

«Wirkte sie nervös?»

«Nein, überhaupt nicht. Die war nie nervös.»

«Sie mochten Maria Racco nicht. Warum?», der Kommissär fixierte Fahrner.

«Ich … äh … Sie hasste uns. Sie gab unserem Haus die Schuld, dass sie ihre Karriere im Ausland machen musste. Wenn nicht …», er überlegte einen Augenblick, «wenn nicht Olivia Vischer darum gebeten hätte, wäre diese Zicke hier nie aufgetreten.»

«Sie wird uns überall als sehr liebenswürdig geschildert.»

«Ha! Der gestrige Tag war eine einzige Beleidigung. Eine totale Schikane. Ich kenne nun weiss Gott einige Diven dieser Welt. Aber, was diese dumme, arrogante Kuh sich gestern leistete, das habe ich noch nie erlebt. Nichts, aber auch gar nichts konnten wir ihr recht machen. Das fing schon vor Wochen an. Sie wollte nicht mit unserem Opern-Ensemble auftreten. Nur mit Leuten der Scala, die extra eingeflogen wurden. Sogar der Chor unseres Theaters war nicht gut genug und der wird nun wirklich von niemandem in Zweifel gezogen. Diese dumme, arrogante Zicke, eine richtige Diva. So etwas wie gestern will ich nicht mehr erleben. Auch nicht, wenn Olivia Vischer das ganze Haus finanziert. Eher würde ich meinen Posten zur Verfügung stellen.»

«Können uns andere dieses unfreundliche Verhalten bestätigen?»

«Jeder. Das ging so weit, dass sie unsere Techniker beschimpfte, die nun wirklich grossartig sind. Angeblich stimmte die Beleuchtung nicht, sie käme nicht richtig zur Geltung. Dass ich nicht lache! Und dann die ständigen Drohungen. ‹Wenn das nicht sofort geändert wird, trete ich nicht auf.› Ich Idiot war mit allem einverstanden. Im Nachhinein … ich hätte mich weigern und es darauf ankommen lassen sollen. Auf die Gefahr hin, meinen Job zu verlieren. Glauben Sie wirklich, dass sie es gewagt hätte, abzureisen?»

 

«Gemäss Ihrer Beschreibung, bestimmt.»

«Sie wäre geblieben, um einen Skandal zu vermeiden, und wohl auch aus Eigennutz. Olivia Vischer hätte das garantiert nicht einfach so geschluckt, Frau Kupfer.»

«Sie erwähnten vorhin, dass Maria Racco nie nervös war vor einem Auftritt. Ist das nicht ungewöhnlich?»

«Wie auch. Die war ja vor jedem Auftritt so verladen, dass sie gar nicht mehr nervös sein konnte.»

«Drogen?»

«Ihre Kokainsucht ist in der Branche ein offenes Geheimnis, mehr möchte ich dazu nicht sagen.»

Nachdenklich verliessen der Kommissär und Nadine das Theater.

«Unser Fall nimmt Formen an. Maria lebte für ihre Tochter und ihre Gesangskarriere, lehnte in letzter Zeit Auftritte ab, weil sie mehr Zeit mit Tamara verbringen wollte. Nach Infos von Teddy beziehungsweise über Umwege ebenfalls von Ursina Racco ist Maria ausgebrannt, steht kurz vor einem Burn-out und hat Streit mit ihrem Agenten. Nun bringt sie ein unbekannter Mann ins Theater, wo sie sich total danebenbenimmt. Sie ist mit Kokain vollgepumpt und der Ex macht ihr eine Riesenszene.»

«Die Frage ist, stimmt das alles? Diesem Idioten da drinnen traue ich sowieso nicht über den Weg. Ein absoluter Trottel!»

«Traue keinem, der gegen Gott Fussball und vor allem gegen den FC Basel und Marco lästert.»

«Hm.»

Polizeiarzt Peter Strub kugelte sich vor Lachen.

«Nochmals! Was soll sie?»

«Wir möchten wissen, ob du Reste von Kokain bei Maria Racco gefunden hast?»

«Sie hat Lachs und Süsses gegessen und etwas Alkohol im Blut, aber von Kokain keine Spur.»

«Bist du sicher?», setzte Ferrari nach.

«Ob ich sicher bin? Wer bitte ist hier der Chef? Du oder ich?»

«Du.»

«Dann nimm gefälligst zur Kenntnis, dass wir hier im Gegensatz zu euch keine Fehler machen. Wir können es uns nämlich nicht leisten, und nimm gefälligst die Hand von meinem Schiff … Nadine, er soll mein Schiff loslassen … Das mit meinem Skelett reichte dir wohl nicht.»

«Sei ein braver Junge, Francesco. Lass das Modellschiff los.»

«Ich habe Wochen dafür gebraucht.»

«Andere arbeiten während dieser Zeit», erwiderte Ferrari bissig und sah sich das Segelschiff genauer an. Wirklich sehr schön zusammengesetzt.

«Wenn du es hochhebst, ramme ich dir ein Seziermesser in den Ranzen.»

«Schon gut. Nur keine Aufregung. Ich lasse dein wertvolles Stück in Ruhe.»

«Ja, natürlich. Genau so wie damals mein Skelett Sandra. Immerhin setzte es dieser Odermatt in deinem Auftrag wieder zusammen, ist ja auch das Mindeste. Aber weisst du, was die grösste Unverschämtheit war, Nadine? Er hat einen Halswirbel geklaut.»

«Also, das ist doch …»

«Ja, klar. Jetzt streitet er es auch noch ab.»

«Wo ist das Ding überhaupt?»

«In meinem Büro. Was hast du mit dem Halswirbel gemacht?»

Der Kommissär winkte ab und ging zu den Seziergeräten hinüber.

«Dein Partner ist ein Perverser!», flüsterte Strub Nadine zu.

«Im Vertrauen, das weiss ich schon lange. Er liess sich aus dem Halswirbel ein Amulett machen.»

«Nein!»

«Doch. Das trägt er immer bei den FCB-Spielen unter der Jacke. Er hat irgendwo gelesen, dass Halswirbel Glück bringen.»

Strub wich instinktiv zurück. Er wusste um die Verschrobenheit des Kommissärs, doch das ging nun eindeutig zu weit.

«Kannst du uns sonst noch etwas über Maria sagen?»

«Sie hatte Diabetes, eine chronische Stoffwechselerkrankung, die sich in einem erhöhten Blutzuckerspiegel äussert. Dieser wiederum entsteht durch einen Mangel an Insulin, im Fall von Maria Racco sprechen wir von einem absoluten Mangel, also von Diabetes mellitus Typ 1. Die meisten Menschen erkranken allerdings an Typ 2 … Aber das führt jetzt zu weit. Der Messerstich ins Herz war tödlich … Stimmt das auch wirklich?»

«Was?»

«Das mit dem Amulett? … Stopp! Hände weg von den Seziermessern!», rief der Polizeiarzt dem Kommissär zu. «Verdammt noch mal, weshalb kannst du nicht wie jeder normale Mensch mit den Augen schauen? Du bist wie ein kleines Kind, das immer etwas anfassen muss.» Er wandte sich Nadine zu. «Der hat sie doch nicht mehr alle. Wenn das meine Leute erfahren.»

«Es bleibt unser Geheimnis, Peter. Abgemacht?»

«Sicher … Das Messer stammt übrigens vom Theater. In der Garderobe lag ein Teller mit Speiseresten, vermutlich griff der Mörder nach dem Messer und stach zu. Ich tippe daher auf Totschlag im Affekt.»

«Fingerabdrücke?»

«Von Maria Racco und einer stammt von Lucia Grasso, die im Catering-Team arbeitet. Zwei Abdrücke konnten wir nicht zuordnen. Das muss aber nicht heissen, dass einer vom Täter ist. Er kann ja Handschuhe getragen haben.»

«Alles klar. Komm, Francesco, wir gehen.»

Peter Strub fixierte den Kommissär mit sichtlichem Unbehagen.

«Das mit dem Halswirbel von deiner Sandra … du spinnst doch. Der liegt sicher unter einem deiner Schränke.»

«Schon gut. Das ist ja nicht weiter schlimm, Francesco. Wahrscheinlich hast du recht. Kein Problem. Man sieht sich.»

«Was ist denn mit dem los?»

«Nichts. Er fürchtet sich nur vor dir.»

«Vor mir?»

«Ja und zwar aus gutem Grund.»

«He?»

«Also, wer einen Halswirbel eines Skeletts zum Medaillon umfunktioniert, damit es dem geliebten Fussballteam Glück bringt, ist schon pervers. Oder nicht?»

«Das behauptet der Volltrottel?! Ich gehe jetzt zurück und reiss ihm den Arsch auf.»

«Nicht er.»

«Was, nicht er? Wer denn sonst? … Ach so, ich verstehe.»

Ferrari fuhr mit dem Dreier vom Barfüsserplatz nach Birsfelden. Wie gewohnt sass er auf seinem Lieblingsplatz vorne rechts unmittelbar nach der zweiten Tür. Die Temperaturen waren auf die Tiefstwerte des Vorabends gesunken, leichter Regen setzte ein. Wenn nur der Sommer schön wird, sinnierte der Kommissär. Eigentlich kann es mir ja egal sein, denn wir fliegen für zwei Wochen nach Menorca, allein, ohne Nikki. Sie hütet Haus und Katze. Erst letztes Jahr zog Puma definitiv zu uns, seit unsere Nachbarin Frau Schneider im Altersheim ist. Tja, das Alter. Vor zwei, drei Jahren schnitt sie noch die Hecken, mähte den Rasen und mahnte mich ab, weil ich vor ihrem Haus den Schnee wegschaufelte. Sie sei noch nicht so alt und benötige keine Hilfe. Ferrari schmunzelte. Doch dann musste sie ins Spital, die erste Operation folgte, bald darauf eine zweite. Davon erholte sie sich nie mehr richtig. Mit einem Ruck kam das Tram an der Endstation zum Stehen. Hier scheints nicht geregnet zu haben, aber es ist kühler als in der Stadt. Ferrari spazierte durch ein kleines Waldstück nach Hause, wo ihn die kleine schwarze Katze freudig empfing. Eigentlich wollte ich nie ein Haustier, aber Puma ist etwas Besonderes.

«Hallo, Monika, ich bin da!»

Aus der Küche vernahm er Stimmen, Monikas Mutter war anscheinend zu Besuch.

«Hallo, ihr zwei. Schön, dich zu sehen, Hilde. Wie gehts dir?»

«Wies halt so geht.»

Monika verdrehte die Augen. Ferrari nahm sich einen Stuhl und setzte sich dazu.

«Aber das musst du akzeptieren, Mama», setzte Monika die Unterhaltung fort.

«So?! Muss ich das? Da bin ich ganz anderer Meinung. Bisher war ich gut genug und jetzt auf einmal bin ich das fünfte Rad am Wagen.»

«Um was geht es eigentlich?»

«Um das Seniorentheater.»

«Da bin ich Spezialist», versuchte Ferrari die Diskussion aufzulockern, «ich habe laufend Theater mit meiner Mutter.»

Der Spruch schien nicht besonders gut anzukommen.

«Um die gehts auch!»

Oha! Vorsicht. Die beiden alten Damen liegen wieder einmal im Clinch miteinander. Zeit für einen starken Kaffee. Soll ich einen gelben, nein einen blauen oder doch lieber einen grünen nehmen?

«Die Weissen sind mit Nussgeschmack, eine Sonderedition.»

«Vielen Dank. Ich nehme lieber einen dieser Gelben … Was ist denn passiert, Hilde?»

«Deine Mutter und ich wollten im Sommer nach Wien, eine Städtereise machen.»

«Mit dem Seniorentheater?»

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