Der Tote auf dem Spielesplatz

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Kapitel 4

Am nächsten Tag fand in der Gerichtsmedizin Homburg die innere Autopsie des toten Tobias Winter statt. Rechtsmediziner Harald Burg würde auch dieses Mal die Leitung übernehmen und seinem Assistenten vom Vortag die nötigen Anweisungen geben. Sie waren beide ein gut eingespieltes Team und verstanden sich prächtig. So konnte bei der alles entscheidenden Obduktion auch nichts schiefgehen. Nach einer weiteren äußeren Leichenschau ging es schließlich darum, den Toten aufzuschneiden. Sie mussten sich die Innereien genau anschauen, um wenigstens so Hinweise auf die Todesursache zu finden. Zunächst keine einfache Sache. Innere Verletzungen konnten schon beim ersten Blick ausgeschlossen werden.

»Es ist ein Rätsel«, sagte Friedrich immer wieder, während er jedes Organ ganz genau betrachtete. Auch Harald prüfte das Innenleben der Leiche recht kritisch. Es bedurfte sorgfältiger Feinarbeit, die Organe zu untersuchen. Schließlich waren sie am Magen angekommen. Er wurde aufgeschnitten, denn auch darin konnten vielleicht noch Spuren zu finden sein, die Aufschlüsse darüber gaben, wie der junge Mann zu Tode gekommen war. Harald sah genau hin. Friedrich tat es ihm gleich. Beide waren sich einig. Hier lag das Problem. »Ich schätze, er hat irgendein Lebensmittel nicht vertragen«, meinte Harald.

»Ja, das wird es sein. Er wird eine schwerwiegende Allergie dagegen gehabt haben. Die Magenschleimhaut sieht ziemlich verätzt aus. An eine Vergiftung ist auch zu denken. Nur schade, dass man nicht mehr erkennen kann, welche Speise es war.«

»Es könnte aber auch ein Getränk gewesen sein, gegen das er allergisch gewesen war«, warf Harald ein. Friedrich schüttelte sofort den Kopf. »Das würde man doch sehen. Der Magen war ja noch nicht ganz leer, als er verstorben ist. Nein, er hat irgendetwas gegessen. Die Kripo muss ermitteln, was es war.«

»Okay, ich möchte mich auf dich verlassen, mein Lieber!« Harald nickte knapp, obwohl er recht unsicher schien. Wirklich eine Speise? Das musste er genauer untersuchen, beschloss er. Auf den zweiten und dritten Blick schien sich die Vermutung seines Assistenten dann aber doch zu bestätigen. Der Mageninhalt war recht breiig, und kein bisschen wässrig. Harald nickte hin und wieder, während er sich den Brei genau anschaute.

»Du hast wohl doch recht«, sagte er dann.

»Sag ich ja, Harald, sag ich ja.«

»Gut. Wir müssen weitere Untersuchungen vornehmen. Vom Mageninhalt benötigen wir eine kleine Probe, die mikroskopisch überprüft werden sollte. Schon kleinere Bestandteile können darauf hinweisen, dass in der Speise schädliche Substanzen gewesen sein könnten. Würdest du das bitte in die Wege leiten?«

»Sicher.« Friedrich nahm eine Probe, filterte sie geschickt in einen Plastikbeutel und verschloss diesen, sodass nichts drankam. Dann schickte er den Beutel auf schnellstem Weg ins Labor, ehe er mit Harald die Autopsie fortsetzte. Sie mussten herausfinden, wie genau Tobias Winter ums Leben gekommen war. Diese Untersuchung dauerte eine ganze Weile. Schließlich stand fest: Tobias war es schlecht geworden, und die Allergie hatte zusätzlich bewirkt, dass seine Atemwege angeschwollen waren und er keine Luft bekommen hatte. Dadurch war auch das Gehirn unterversorgt gewesen und konnte nicht mehr richtig arbeiten. Dieser Zustand hatte viel zu lange angehalten. Tobias hätte nicht mehr gerettet werden können, selbst wenn jemand auf ihn aufmerksam geworden wäre. Ihm war schwindelig geworden, und schließlich war er aufgrund des allergischen Schocks vor dem Vereinslokal zusammengebrochen.

Harald und Friedrich schauten vielsagend einander an. Sie dachten beide das Gleiche. Wer würde jetzt bei der Kriminalpolizei anrufen?

»Ich werde es tun«, sagte Harald. »Und du bist für den Bericht weiterhin zuständig.«

»Gerne, so machen wir es.«

»Dann sind wir uns ja einig. Vielen Dank!«

Es ging ans Zunähen der Leiche, dann wurde sie zurück in ihr Kühlfach gebracht. Der Rest lief wie gewohnt ab. Irgendwann sollte dann der Bestatter kommen, um den Toten abzuholen. Wann, das war jedoch noch unbekannt. Schließlich gab es weiterhin niemanden, der Tobias vermisste. Man musste also noch etwas Geduld aufbringen und abwarten.

Harald ging nach der vollbrachten Autopsie ins Büro, griff dort nach dem Hörer und wählte die Nummer des Kommissars.

Im Büro des Kommissars war das Ermittlerteam mit Recherchen über Tobias Winter beschäftigt, da klingelte das Telefon. Ottfried nahm sofort ab. »Hallo, Kriminalpolizei Trier, Ottfried Braun am Telefon, was kann ich für Sie tun?«

Die Stimme des Rechtsmediziners erklang. »Harald Burg hier, ich rufe an, um die Todesursache bekannt zu geben. Sie müssten einmal herausfinden, was der junge Mann zuletzt gegessen hatte, und wo er die Mahlzeit zu sich nahm. Wir konnten herausfinden, dass er an einer allergischen Überreaktion verstorben war.«

»Eine Allergie?«, fragte Ottfried ungläubig. »Das hatten wir hier noch nie. Aber … was … Sie müssen doch sehen können, was sich im Magen der Leiche befand. Oder?«

»Das ist es ja, Herr Braun. Der Mageninhalt war schon ganz breiig. Um welche Speise es sich gehandelt hat, war nicht mehr zu erkennen. Es gehört nun in Ihren Aufgabenbereich, dies herauszufinden.«

»Hm, okay. Na, dann danke ich für die Information.«

»Nichts zu danken, Herr Braun. Melden Sie sich, wenn Sie wissen, was er zuletzt gegessen hatte. Wir haben eine Probe des Mageninhalts an unser Labor geschickt. Unsere Leute überprüfen die Bestandteile der Probe. Wenn das dann mit Ihren Ergebnissen übereinstimmt, wissen wir mehr.« Harald seufzte hörbar.

»Ja, wir werden uns umgehend an die Arbeit machen. Danke. Wiederhören.« Ottfried legte auf. Er trommelte mit den Fingern auf dem Tisch herum.

»Und? Wer war‘s?«, wollte Sabrina wissen und schaute den Kommissar herausfordernd an.

»Rechtsmedizin. Tobias Winter starb an einer Allergie.«

»Wie? Allergie? Wogegen war er denn allergisch?«

»Steht noch nicht fest. Wir müssen es herausfinden.« Ottfried stand auf und wanderte umher. Fieberhaft überlegte er, wie er weiter vorgehen könnte.

Hermann und Sabrina schauten einander verwundert an. Wie konnte man denn an einer Allergie sterben? Das war beiden Polizisten neu.

»Was hat er denn gegessen? Oder getrunken?«, wagte Hermann nun zu fragen.

»Weiß man ja nicht. War nicht mehr zu erkennen. Seine letzten Mahlzeiten waren ja schon so gut wie verdaut, wenn auch noch nicht vollständig im Darmtrakt.« Ottfried schüttelte sich. Der Gedanke daran, dass der Rechtsmediziner dafür den Magen geöffnet hatte, ließ ihn erschaudern und klang ziemlich unappetitlich. »Ich will daran nicht denken. Lasst uns lieber herausfinden, wo er sich in den letzten Stunden vor seinem Tod aufgehalten hatte.«

»In Ordnung.« Hermann nickte rasch, und schon tippte er wieder fleißig auf der Tastatur herum. Gut, dass er selbst ein Facebook-Profil hatte und so nach möglichen Bildern suchen konnte, die Tobias Winter am Abend vor seinem Tod zeigten. Er rief einfach das Profil des Toten auf und betrachtete dessen Bilder. Die Pinnwand war für jeden öffentlich einsehbar, und so konnte Hermann Einträge lesen, die erst Stunden nach Tobias‘ Tod gepostet worden waren.

Hey Kumpel, wo steckst du? Suchen dich überall. Melde dich bitte. Hermann stutzte. Anscheinend hatten doch so einige den verstorbenen, jungen Mann vermisst. Aber warum gab es keine Anzeigen bei der Polizei? Hermann griff nach dem Telefonhörer und rief die Kollegen von der Dienststelle am Stadtbad an. »Hallo, ihr lieben Kollegen. Ging bei euch eine Vermisstenmeldung rein? Ein Tobias Winter? Nein? Okay. Danke.« Nach dem Telefonat seufzte er. Was sollte er tun? Dann fiel ihm noch die Wache in der Nähe des Krankenhauses in der Feldstraße ein. Er würde es dort probieren. Sofort hatte er wieder den Hörer in der Hand. Erneut stellte er die Frage nach der Vermisstenmeldung. »Ein Tobias Winter? Seit kurzem wohnhaft in Trier. Er war auf dem Spielesplatz in Pfalzel tot aufgefunden worden. Könnt ihr mal nachsehen?« Hermann schien Glück zu haben. Erst gerade soll ein junger, schwarzhaariger Mann mit einer hübschen Blondine da gewesen sein und Tobias Winter als vermisst gemeldet haben. »Wir haben die Vermisstenmeldung natürlich nicht ausgestellt, sondern den beiden gesagt, sie sollen sich bei der Kriminalpolizei melden. Also nicht wundern, wenn ihr einen Anruf oder sogar noch persönlichen Besuch bekommt.«

»Okay. Wissen die beiden, dass Tobias Winter tot ist?«

»Nein. Wir wollten es sagen, aber die Zwei waren so schnell wieder weg. Konnten nichts machen.«

»Na, gut. Dann werden wir es sagen. Tschüss.« Hermann legte auf. Er betrachtete nachdenklich seine beiden Kollegen.

»Was war?«, fragte Ottfried.

»Gab eine Vermisstenmeldung bei den Kollegen. Wir bekommen vielleicht noch Besuch von dem Pärchen, das den toten Tobias als vermisst gemeldet hat.«

»Echt?« Diesmal war es Sabrina, die sich zu Wort meldete. »Das hieße ja, es gibt doch noch weitere Angehörige?«

»Freunde vielleicht. Ein junger Mann mit schwarzem Haar war bei den Kollegen. Ich schätze, das könnte derjenige gewesen sein, der gestern Nachmittag noch auf Tobias‘ Pinnwand bei Facebook geschrieben hat.« Hermann zuckte die Schultern.

»Warum kannst du das sehen?« Sabrina kam neugierig an den Tisch ihres Kollegen und ließ sich alles zeigen.

»Die Pinnwand kann jeder sehen, weißt du?« Hermann deutete auf die Einträge.

»Aha. Also könnte ich auch …?«

»Klar. Du hast doch selbst Facebook!«

 

»Ja. Ich schaue mal.« Sabrina ging zurück an ihren Schreibtisch und loggte sich selbst bei Facebook ein. Sie suchte nach Tobias Winters Profil und hatte es kurz darauf gefunden. Interessiert las sie die Pinnwand-Einträge. »Der hier ist interessant«, murmelte sie. Brüderchen, bin in Trier, wann treffen wir uns? Die Antwort lautete: In einer Woche? Hab so viel zu tun, und am Wochenende Oktoberfest in Pfalzel. Sabrina schrie auf. Da hatte sie einen Hinweis darauf gefunden, wo Tobias sich am Samstagabend aufgehalten hatte.

»Was ist los?«, brummte Ottfried.

»Ich weiß es, ich weiß es!«

»Was denn? Und überhaupt, könnt ihr euch mal der Arbeit widmen, anstatt auf Facebook zu surfen?«

»Aber … Herr Kommissar! Ich habe eine Spur gefunden. Tobias Winters Schwester, die Elena Winter, hat ihm vor seinem Tod auf die Pinnwand geschrieben, und er hat noch geantwortet. Eine Woche später wollten sie sich treffen. Also, morgen wahrscheinlich.« Aufgeregt druckte Sabrina die Seite aus und legte sie Ottfried auf den Tisch. »Hier, sehen Sie!«

Ottfried betrachtete den Pinnwand-Eintrag samt Antwort nachdenklich. Dann schien er zu begreifen. »Jetzt verstehe ich es. Aber … Moment mal! Demnach ist Elena Winter schon seit einigen Tagen in Trier. Warum sagt mir die Putzfrau, sie sei gerade erst losgefahren? Das verstehe ich nicht.«

»Vielleicht hat sie sich geirrt, oder einfach nicht klar genug ausgedrückt?«, vermutete Sabrina. Doch Ottfried schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein. Sie hat uns angelogen. Wir müssen Elena Winter ausfindig machen.«

»Einfach wird’s nicht!« Hermann seufzte. Er ahnte, was gleich noch kommen würde.

»Ihr habt doch Facebook. Schreibt sie an!«, sagte Ottfried in der nächsten Sekunde. Hermann nickte leicht. Anschreiben würde er Elena jedenfalls nicht. Er war sicher, dass sie sich selbst bei der Polizei meldete, sobald sie vom Anruf des Kriminalhauptkommissars erfuhr. »Ich lese Tobias‘ Antwort übrigens selbst gerade. Das Wichtigste an der Sache ist nicht, dass seine Schwester bereits länger in Trier ist, sondern dass Tobias auf dem Oktoberfest in Pfalzel war. Er hat‘s vor wenigen Tagen selbst noch geschrieben«, sagte er schließlich.

»Stimmt!« Ottfried nickte.

»Also wissen wir, was wir zu tun haben. Heute ist Montag. Familientag auf der Kirmes. Herr Kommissar, wir müssen hinfahren.« Hermann druckte schnell ein Foto von Tobias Winter aus, dann packte er seine Sachen und wartete, dass der leitende Kommissar reagierte. »Fahr mit Sabrina. Ich versuche, Elena Winter zu erreichen.«

Keine Viertelstunde später saßen Hermann und Sabrina im Auto, auf dem Weg nach Pfalzel, um auf der Kirmes herauszufinden, was Tobias Winter dort getrieben hatte. Am meisten beschäftigte sie die Frage nach dem, was er dort gegessen hatte. Die beiden Polizisten setzten all ihre Hoffnung in diesen Ausflug. Irgendjemand musste schließlich auch wissen, gegen welche Speise Tobias allergisch reagiert hatte. Oder … wusste es am Ende niemand?

»Ich hoffe, wir finden etwas heraus«, murmelte Sabrina.

»Ich auch«, gab Hermann zurück und fuhr den Wagen konzentriert über die B53 in Richtung Pfalzel. In diesem Moment fuhren sie an der Ausfahrt nach Trier-Biewer vorbei. In wenigen Minuten würden sie in Pfalzel ankommen.

Sabrina schaute nachdenklich aus dem Fenster. Sie ahnte noch nicht, was auf der Kirmes auf sie und ihren Kollegen zukommen sollte. In Gedanken war sie schon bei der Aufklärung des Falles. Dabei sollte ihr eigentlich bewusst sein, dass es bis dahin noch ein harter und steiniger Weg war. Sie betrachtete die Landschaft, die an ihr vorüberzog. Dann bog Hermann rechts ab, und es ging ein kurzes Stück des Weges durch das Pfalzeler Industriegebiet. Schließlich bog er kurz vor dem Supermarkt in die Rothildistraße ab und fuhr bis zur Freiherr-vom-Stein-Straße, in die er das Auto dann lenkte. Ein oder zwei Minuten später kamen sie in der Hans-Adamy-Straße an und fuhren noch ein kleines Stück in Richtung Mosel, um möglichst nah am Kirmesgelände zu parken. Sabrina betrachtete die Menschen, die am Polizeiwagen vorbei in Richtung Festzelt liefen. Es war jetzt bereits nach vierzehn Uhr, da hatten die Stände schon geöffnet.

Nachdem Hermann den Wagen abgestellt hatte, gingen Sabrina und er ein kleines Stück zu Fuß, dann standen sie inmitten der Menschenschar, die sich auf dem Platz versammelt hatte. »Wohin?«, fragte Sabrina und schaute Hermann ratlos an.

»Wir müssen nach den Futterkrippen Ausschau halten.« Hermann drehte sich einmal um die eigene Achse. Dann entdeckte er einen Crêpes-Stand. »Ich würde vorschlagen, wir fangen dort an, oder?«, schlug er seiner Kollegin vor.

»Ja, meinetwegen. Ich glaube aber eher, dass er im Festzelt war.« Sabrina folgte Hermann zu dem Stand. Ihr Kollege fragte nicht nach. Er wollte jeden Stand abklappern und nach dem verstorbenen Tobias Winter fragen. An diesem Stand, an dem sie jetzt standen, fingen sie an. Hermann zückte seinen Ausweis und hielt ihn der Verkäuferin unter die Nase. »Hermann Zinn, von der Kripo Trier, das ist mein Kollegin Sabrina Fass. Wir ermitteln in einem Todesfall. Dieser junge Mann ...« Nun kramte Hermann nach dem Porträtfoto des Toten. »Kennen Sie den?«

»Hm.« Die etwas korpulente Frau musterte das Foto. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich habe ihn noch nicht gesehen. Was ist mit ihm?«

»Nun, das darf ich Ihnen aus ermittlungstechnischen Gründen nicht sagen. Aber Sie haben uns mit Ihrer Aussage schon weitergeholfen. Danke.« Hermann wandte sich wieder ab und zog Sabrina hinter sich her.

»Hättest du nicht wenigstens sagen können, wann Tobias Winter hier gewesen sein soll? Samstagabend, oder?« Sabrina schaute ihren Kollegen von der Seite an.

»Das wissen wir ja nicht wirklich«, gab er zurück. »Er hatte seiner Schwester zumindest geschrieben, dass er an diesem besagten Tag hierher gehen wollte. Aber wir können nicht sagen, ob er wirklich hier war.«

»Ja, und deswegen fragen wir ja nach. Daneben müssen wir herausfinden, was er an dem Abend gegessen hatte. Ich meine, es kann nur Samstag gewesen sein. In der Nacht auf Sonntag wurde er immerhin tot aufgefunden.« Sabrina hatte die Arme verschränkt. Sie hatte das Gefühl, dass es bei Hermann noch nicht Klick gemacht hatte. Er schien noch nicht zu begreifen, worauf sie hinauswollte.

»Du hast ja recht«, gab er zu. »Dennoch wissen wir nicht, ob er hier war oder doch woanders.«

»Ja, das weiß ich. Gerade das gilt es ja herauszufinden. Mensch, du kapierst auch gar nichts.« Sabrina schüttelte den Kopf. Sie riss ihrem Kollegen das Foto aus den Händen und verschwand im Festzelt. Hier war deutlich mehr los als draußen, aber allzu viele Menschen waren es auch hier nicht. Vielleicht lag es daran, dass heute wieder ein normaler Arbeitstag war und viele, die am Wochenende hier waren, jetzt arbeiten mussten. Einige könnten aber auch ihre Mittagspause hier verbringen, ging es Sabrina durch den Kopf. Sie schaute sich um. Am Eingang des Zeltes stand Hermann, der ihr bloß hinterher sah, anstatt näher zu kommen. Sabrina winkte ihn zu sich, aber er machte keine Anstalten, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Die Polizistin zuckte die Schultern. Eigentlich war es ihr egal, was Hermann machte. Wichtiger war ihr, dass sie jetzt die Sache in die Hand genommen hatte. Schon näherte sie sich der Kuchentheke. »Hallo«, grüßte sie die Frauen, die für den Kuchenverkauf zuständig waren. Sie nahm ihren Ausweis hervor und zeigte ihn. »Sabrina Fass, ich komme von der Kriminalpolizei. Mal eine Frage, waren Sie am Samstagabend schon hier?«

»Der Kuchenverkauf hat da nicht stattgefunden, falls Sie das meinen.« Eine der Frauen, Sabine Stein, zuckte wehmütig mit den Schultern. Sie wirkte sympathisch, hatte eine normale Figur, ein schlankes Gesicht und dunkle Haare, die sie zu einem Knoten gebunden hatte. Sie schaute die Kriminalkommissarin mit ihren warmen, braunen Augen an.

»Wissen Sie, an wen ich mich wenden kann? Meine Kollegen und ich ermitteln in einem Todesfall. Ein junger Mann, der am Samstagabend hier auf dem Oktoberfest gewesen sein soll, wurde wenig später auf dem Spielesplatz tot aufgefunden.« Sabrina zeigte der Frau das Foto.

»Ich kenne ihn nicht. Tut mir leid! Aber vielleicht … warten Sie mal … Henry? Kannst du was mit diesem Foto anfangen?« Sabine sprach mit einem älteren Herrn und wies auf die junge Polizistin. Der Mann ließ sich das Foto zeigen. Dann nickte er. »Ja, ja. Der war hier. Zusammen mit ein paar anderen jungen Männern.«

»Das ist gut.« Sabrina jubelte innerlich. »Wissen Sie, wo man hier etwas zu essen bekommen konnte?«

»Na ja, entweder draußen am Bratwurst-Stand oder hier an der Theke. Hier gab‘s Bier und dazu eine große Brezel. Wie sich das am Oktoberfest eben gehört. O‘zapft is!« Henry lächelte.

»Ja, und haben sich die Männer hier auch eine Brezel und Bier geholt?«, wollte Sabrina weiterwissen.

»Äh, soweit ich das mitverfolgt habe, hatten alle Männer Bier, aber nur einer von ihnen ging ohne die Brezel davon. War aber auch nicht ungewöhnlich.«

»Hm, haben Sie vielleicht mitbekommen, dass jemand zwei Brezeln gekauft hat?«

»Oh je, da bin ich überfragt. Nein, eigentlich nicht. Na ja, gut, vielleicht kam einer noch einmal, um eine weitere Brezel zu kaufen, aber darauf habe ich jetzt nicht großartig geachtet.«

»Okay. Vielen Dank.« Sabrina lächelte, dann drehte sie sich um und kehrte zurück zu Hermann, der immer noch am Eingang stand. »Du bist so blöd, Kollege. Hier drin wurde Tobias Winter gesehen.«

»Ah, na, dann.« Hermann lächelte knapp.

»Ja, er war hier mit seinen Freunden, wie mir der Herr da hinten berichtet hatte. Alle hatten Bier, aber einer ging ohne Brezel davon. Wer könnte das gewesen sein?« Sabrina schaute Hermann ganz genau in die großen, dunklen Augen.

»Woher soll ich das denn wissen?« Hermann zuckte die Schultern und schaute ebenfalls hinüber zum Kuchenstand. »Du hättest ja fragen können.«

»Habe ich aber deswegen nicht gemacht, weil es doch auf der Hand liegt. Tobias Winter hatte keine Brezel. Wahrscheinlich war er genau dagegen allergisch. Ich hatte wenigstens gefragt, ob jemand dabei war, der eine zweite Brezel gekauft hat«, erklärte Sabrina.

»Und was, wenn du dich da täuschst?«

»Nein, das glaube ich nicht.«

»Gut, wenn du meinst.« Hermann nahm das Foto wieder an sich und begann, einige Leute zu befragen, die am Biertisch saßen. Er wollte selbst jemanden finden, der Tobias Winter auf dem Oktoberfest gesehen hatte. Doch da wurde er bitter enttäuscht, zumindest von den meisten, die er befragte. Schließlich befragte er eine jüngere Frau mit schwarzen Haaren, um die 20 Jahre, und bei ihr hatte er Glück. »Sie kennen den jungen Mann also?«

»Ja, fast ein bisschen besser, als mir lieb ist. Warum?«

»Wir von der Kripo brauchen Zeugen, die ihn auf dem Oktoberfest gesehen haben. Ganz wichtig ist für uns, herauszufinden, was er gegessen hatte«, erklärte Hermann.

»Gegessen? Warum wollen Sie das denn wissen? War da etwas Illegales dabei?« Die junge Frau starrte den Polizisten mit großen Augen an und hüstelte leicht.

»Lassen Sie es mich so ausdrücken: er hat etwas nicht gut vertragen. Deswegen frage ich.« Hermann nickte bekräftigend. Er konnte dem Mädchen ja nicht sagen, was er tatsächlich wusste. Immerhin dauerten die Ermittlungen noch an.

»Okay, Tobi hat da etwas nicht vertragen, kämpft mit Bauchschmerzen, und Sie müssen deswegen ermitteln? Verstehe ich nicht.« Das Mädchen schüttelte den Kopf. Sie wurde nicht schlau aus der Sache.

»Tobias Winter hat jetzt keine Bauchschmerzen. Das kann ich Ihnen ja sagen, da Sie ihn sicher gut gekannt haben. Er wurde in der Nacht zum Sonntag tot aufgefunden, auf dem Spielesplatz.« Nun war es raus. Hermann betrachtete die junge Frau.

»Was? Der Kerl ist tot? Das kann doch nicht sein. Und … er ist gestorben, weil er etwas gegessen hat, was ihm nicht gut bekommt? Oder wurde er vielleicht ermordet?« Die 20-Jährige hatte die Augen weit aufgerissen. Sie hatte ja mit allem gerechnet, aber nicht damit. Nun war sie regelrecht aufgewühlt.

»Ich kann Ihnen nicht mehr sagen. Tut mir leid. Wir ermitteln in alle Richtungen.« Hermann zuckte die Schultern. Die 20-Jährige tat ihm leid, aber er konnte ihr nicht helfen. »Ich bedanke mich für Ihre Offenheit.«

»Ja, gerne. Ach, und jetzt, wo Sie es sagten … Tobi hat sich um kurz nach zehn auf den Weg gemacht. Alleine. Danach hat ihn keiner mehr gesehen. Komisch ist nur, dass er noch ganz normal ausgesehen hat. Ich habe im Übrigen nicht gesehen, was er gegessen haben könnte.«

 

»Schon gut, Sie haben mir auch so weitergeholfen. Könnte ich noch Ihren Personalausweis sehen?« Hermann nickte ihr zu.

»Natürlich.« Die junge Frau nickte und kramte den Ausweis aus dem Portemonnaie. Sie hielt ihn dem Polizisten entgegen. Hermann notierte sich den Namen und die Adresse, dann nickte er noch einmal. »Vielen Dank für Ihre Hilfe, Frau Müller.« Mit diesen Worten ließ er sie wieder allein. Er kehrte zurück zu Sabrina, die inzwischen vor dem Zelt wartete. »Und?«, fragte sie nur.

»Eine junge Frau hat ihn hier auch gesehen. Sie kennt ihn gut, weiß aber auch nicht, was er gegessen hat. Hm. Es ist nicht leicht, herauszufinden, gegen welche Speise Tobias Winter nun allergisch reagiert hatte.« Hermann runzelte die Stirn. Allmählich gingen ihm die Ideen aus. Wie sollten er und Sabrina das jemals herausfinden, wenn ihn niemand beim Essen gesehen hatte? Plötzlich hatte Sabrina eine Idee: »Glaubst du, er war vielleicht kurz draußen, um sich am Bratwurst-Stand etwas zu essen zu holen? Vielleicht war das ja der Grund für die Allergie?«

»Hm, wenn du meinst, dann lass uns hingehen.« Hermann zuckte die Schultern und steuerte flugs auf den Bratwurst-Stand zu.

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