Der Tote auf dem Spielesplatz

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»Warte doch erst einmal, Sabrina«, sagte Ottfried. »Vielleicht ist dieser Fall ja doch einfacher als gedacht.«

»Das wissen wir aber auch erst dann, wenn wir die Obduktionsergebnisse vorliegen haben. Hat jemand schon etwas gehört?«, gab Sabrina zurück.

»Nö!« Hermann schüttelte den Kopf, der Kriminalhauptkommissar ebenfalls. Sabrina senkte den Blick. »Schon gut«, sagte sie. »Ich hätte ja auch dort anrufen können.«

»Ach, was. Das machen die schon, wenn die Obduktion gelaufen ist.« Ottfried lächelte und zwinkerte Sabrina zu.

»Ja, aber man hätte trotzdem nachfragen können, für wann die Autopsie angesetzt ist. Oder?«

»Sabrina, es ist alles gut. Wir erfahren die Ergebnisse früh genug. Und so viel hat es auch gar nicht mit der Obduktion zu tun, ob der Fall nun schwierig oder einfacher wird. Da spielen ganz andere Faktoren eine Rolle«, versuchte Hermann nun, seine Kollegin zu beruhigen.

»Ja? Welche Faktoren denn?«

»Zeugen, die wir noch nicht haben, zum Beispiel. Ich will jetzt nicht alles nennen. Du wirst es selbst herausfinden. Die Obduktionsergebnisse spielen nur ganz am Rande eine Rolle.«

»Na ja, so überzeugt bin ich jetzt nicht, Hermann. Aber du wirst wohl recht haben, wie ich dich kenne.«

»Eben, du kennst mich. So, wie gehen wir weiter vor?« Hermann schaute in die Runde.

»Ich muss nachdenken. Wir müssen noch einmal über den aktuellen Fall diskutieren. Wir haben noch keine Zeugen. Aber im Moment wäre es wohl wichtiger, die Identität der Leiche zu klären. Wer ist dieser Mann? Wer kennt ihn? Gibt es Vermisstenanzeigen? Das wäre jetzt zu überprüfen«, erklärte Ottfried.

»Gerne.« Hermann nickte, dann schaute er kurz hinüber zu Sabrina, die ihre Aufmerksamkeit wieder voll und ganz dem Papierstapel gewidmet hatte. »Was machst du da? Ist das so spannend?«

»Akten eben«, sagte sie kühl, ohne auch nur einmal den Kopf zu heben.

Hermann und Ottfried setzten sich an ihre Plätze. Beide schienen zu überlegen. Hermann war schließlich derjenige, der das Internet links machte, um irgendetwas über den Toten herauszufinden. Er fand einen Presseartikel über den Fall. »Leute, die Zeitung hat schon berichtet. Soll ich vorlesen?«

»Über den Fall?« Ottfried stutzte. »Die sind ja schneller als die Polizei erlaubt. Ich frage mich gerade, wie die Journalisten an die Informationen kamen. Von mir haben sie es nicht! Na ja, lies schon vor, Hermann.«

Hermann nickte. »Toter auf Pfalzeler Spielesplatz. Pärchen findet Leiche vor dem Vereinslokal in Pfalzel – wer kennt den Toten? Kriminalhauptkommissar Ottfried Braun und seine Kollegen Fass und Zinn stehen vor einem neuen Fall: ein Toter auf dem Spielesplatz. Und wieder ist es Pfalzel. Ein Fluch?

Trier-Pfalzel. In der Nacht zum Sonntag wurde auf dem Spielesplatz vor dem Vereinslokal die Leiche eines jungen Mannes gefunden, dessen Tod ein Rätsel ist. Ein Pärchen hat den Toten gefunden und sich an den Wirt im Vereinslokal gewandt. Dieser alarmierte umgehend die Polizei und einen Rettungswagen. Da die Beamten der Schutzpolizei einen Mord nicht ausschließen konnten, übergaben sie den Fall an die Kriminalpolizei Trier. Das Trio, bestehend aus Kriminalhauptkommissar Ottfried Braun und seinen Kollegen Sabrina Fass und Hermann Zinn, arbeitet jetzt auf Hochtouren, um den neuen Fall aufzuklären. Noch weiß niemand, wie der junge Mann auf den Spielesplatz kommen konnte. Man geht davon aus, dass er unbeobachtet war, als er über den Platz lief und schließlich vor dem Vereinslokal zusammenbrach. Noch in der Nacht wurde der Leichnam in die Gerichtsmedizin Homburg gebracht, wo er alsbald obduziert wird. Weitere Informationen liegen nicht vor.«

»Was schreiben die wieder für einen Blödsinn? So einen Scheiß habe ich lange nicht gehört«, regte Ottfried sich auf.

»Stimmt was nicht?«, fragte Sabrina.

»Nein. Jedenfalls nicht ganz. Von wegen, man geht von dem und dem aus. Noch gehen wir von gar nichts aus. Wir wissen ja praktisch noch nichts.« Ottfried schüttelte den Kopf. »Außerdem sollte die Berichterstattung in Absprache mit der Polizei geschehen. Das haben sie auch nicht beachtet.«

»Ach, so.« Sabrina nickte leicht und widmete sich sofort wieder dem Papierstapel.

»Für mich hört es sich fast so an, als wären uns die Reporter über den Spielesplatz gefolgt, während ich mit dem Kommissar die Anwohner befragt habe. Aber dann wäre der Artikel jetzt noch nicht erschienen«, ergriff Hermann das Wort. Er überflog den Artikel noch ein paar Mal. Wirklich weitergebracht hatte er die drei Polizisten auch wieder nicht.

»Hast du noch etwas gefunden?«, wollte Ottfried nach ein paar Minuten wissen.

»Nein, bisher nicht. Die Identität bleibt ungeklärt. Es scheint auch niemanden zu geben, der den Toten vermisst. Sehr merkwürdig!«

»Das ist echt komisch«, sagte Sabrina. Dabei wirkte sie recht abwesend.

»Was machst du denn da? Hör doch mal mit diesen Akten auf und widme dich bitte unserem vorliegenden Fall: Der Tote auf dem Spielesplatz.« Hermann schüttelte verärgert den Kopf. Er verstand nicht, warum Sabrina die ganze Zeit nur die Akten im Blick hatte. Gab es für sie denn nichts anderes?

»Ich lege sie ja schon weg«, seufzte sie, packte den Blätterstapel und legte ihn ins Regal hinter ihrem Schreibtisch. Dann schaute sie ihre Kollegen der Reihe nach an. »Sagt was!«

Doch Ottfried und Hermann schwiegen.

Kapitel 3

Die Obduktion des jungen Mannes, den Isabel und Stefan auf dem Spielesplatz gefunden hatten, war für denselben Tag angesetzt worden. Daran arbeiteten die Rechtsmediziner nun. Zunächst die äußere Leichenschau, dann folgte später die Innere. Unter Aufsicht eines Polizisten beäugten die Mediziner den Toten gründlich. Sie mussten zunächst die Beweglichkeit der Gelenke und die Totenflecken prüfen. Daran konnten sich erste Zeitfenster, in denen der Mann verstorben war, feststellen lassen. Dies geschah doch recht zügig. Die Männer wussten, dass die Totenstarre im Laufe der weiteren Stunden wieder nachlassen und die Totenflecken irgendwann ganz verschwinden konnten. Noch ließen sich die Gelenke des Mannes kaum bewegen. Die Mediziner schlossen aus den ersten Untersuchungen, dass junge Mann, der da vor ihnen lag, nicht länger als dreizehn bis vierzehn Stunden tot sein konnte.

»Er hat vor 24 Stunden definitiv noch gelebt. Aber wie er zu Tode kam, ist noch ein Rätsel. Keine äußeren Anzeichen«, bemerkte der Assistent des leitenden Mediziners Harald Burg nach weiterer eingehender Untersuchung.

»Das ist klar. Weiteres können wir nur durch die innere Autopsie feststellen. Wir halten jetzt schon einmal fest, dass er durch keinerlei Gewalteinwirkungen ums Leben kam. Es kann entweder nur an den inneren Organen liegen, oder er erlag irgendwelchen inneren Verletzungen, die von außen nicht sichtbar sind. Den Bericht zur äußeren Leichenschau können wir soweit anfertigen«, sagte der Mediziner. Er war ein großgewachsener Mann, etwas kräftig, hatte weißes, volles Haar, keinen Bart und war Brillenträger. Durch die Brille schauten zwei braune Augen auf die Leiche, dann auf den Assistenten.

Der Assistent, Friedrich, nickte langsam. »Jawohl, das mache ich umgehend. Wann wird die innere Obduktion stattfinden?«

»Ich denke, so schnell wie möglich.« Harald schaute den Toten noch einmal an, weil ihm die genaue Bestimmung des Todeszeitpunkts sehr wichtig war. Schließlich sagte er: »Der Herr verstarb gegen 23 Uhr. Nicht früher, und auch nicht später.«

»Dann wissen wir das.« Friedrich nickte.

»Sicher. Wir werden ihn nun zurück ins Kühlfach legen. Die innere Leichenschau wird wahrscheinlich morgen sein.«

»In Ordnung. Ist der Plan denn noch nicht fertig?«

»In Arbeit! Ich sage dir früh genug Bescheid.« Harald lächelte seinen Assistenten an. Dann brachten sie die Leiche zurück ins Kühlfach.

Während der Fall um den toten, noch unbekannten Mann weiterhin rätselhaft schien, waren Isabel und Stefan wieder nach Hause zurückgekehrt. Beide wohnten in einem kleinen Einfamilienhaus in einer ruhigen Seitenstraße von Schweich. Sie hatten in der Zeitung von dem Leichenfund gelesen, den sie auch noch selber gemacht hatten. Der Schock saß dem Pärchen immer noch in allen Knochen. Darüber reden konnten sie gerade nicht. Schweigsam saßen sie im heimischen Wohnzimmer auf dem Sofa. Sie dachten nach.

»War ‚ne tolle Nacht, was?«, sagte Stefan leise.

»Sowas von. Mir tut alles weh.«

»Immer noch?«

»Ja.«

»Hm. Na ja. Das wird vergehen. Ich bin sicher. Aber das Oktoberfest war doch nett. Geile Stimmung. Gell?«

»Ach, dass du noch fröhliche Gedanken hast … Ich kann nur an den jungen Mann denken. Dann berichtet auch noch die Zeitung von dem Fund. Schrecklich!« Isabel schüttelte sich.

»Ich verstehe dich, Schatz. Wir sollten uns allerdings nicht unterkriegen lassen. Ein paar Mal wird die Polizei noch bei uns auftauchen. Die haben ja unsere Adresse. Wir müssen gerade auf alles vorbereitet sein.«

»Ich will gar nichts mehr davon wissen.«

»Du weißt auch so nichts.« Stefan konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Es war ein Glück, dass er nicht laut loslachte. Seine Freundin sah nämlich so aus, als würde sie jeden Moment platzen. Sie war wütend, dass ihr Freund die Sache so locker hinzunehmen schien. »Hör auf zu grinsen, Stefan«, sagte sie auch schon mit recht lauter Stimme. »Wir wissen nichts von dem Toten. Wie er heißt, warum er starb … so was meine ich. Einerseits interessiert es mich. Aber andererseits auch nicht. Ich möchte nicht dauerhaft damit konfrontiert werden. Lass uns bitte über andere Dinge sprechen. Mir reicht es jetzt.«

 

»Schon gut, Isa. Ich verstehe dich ja.« Stefan legte einen Arm um Isabels Schultern. Er fühlte mit ihr. Er ahnte, wie es ihr gerade ging. Isabel war weit sensibler als er. Sie konnte den Leichenfund der vergangenen Nacht nur schwer verkraften.

»Wirklich, Isa«, fuhr Stefan fort, während er über Isabels Haare strich, »wir wissen gar nichts. Aber trotzdem müssen wir für die Polizei da sein, wenn sie kommt und uns Fragen stellt. Tu mir den Gefallen, sei stark. Du warst die ganze Zeit über schon so tapfer. Das finde ich ganz toll.«

»Danke, Stefan.« Isabel schmiegte sich in seine Arme. Sie konnte es gerade wirklich gut gebrauchen, jemanden wie Stefan an der Seite zu haben. Er baute sie auf und machte ihr Mut. Er war stark, und nichts konnte ihn so leicht aus der Ruhe bringen. Auch kein Leichenfund. Er blickte Isabel in die Augen. Sie hatte schöne, strahlend blaue Augen. Er liebte sie. Sacht drückte er ihr einen Kuss auf den Mund. Isabel schloss die Augen. So ging es ihr gleich viel besser. Nach einer Weile begann sie wieder zu sprechen. »Ich komme nicht darüber hinweg, Schatz«, sagte sie. Dabei schaute sie sich überall um. Gegenüber dem Sofa war an der Wand ein Flachbildfernseher angebracht, darunter stand der Fernsehschrank. Rechts davon waren zwei große Fenster, eines bodenlang, zu sehen. Zu Isabels linker Seite befand sich die Tür, aus der man hinaus in den Hausflur ging. Ans Wohnzimmer grenzte außerdem die Essküche an, die man über eine separate Tür erreichte. Obwohl der jungen Frau die Umgebung doch so vertraut war, hatte sie Angst. Kam da vielleicht noch mehr zu dem Fall?

»Nimm dir Zeit, Isa. Ich weiß, wie du dich fühlst. Mir sitzt der Schock auch noch in allen Knochen. Trotzdem, der Fund ist schon einige Stunden her. Wir sollten uns wieder beruhigen.«

»Ja, vielleicht hast du recht.« Isabel nickte. Sie stand auf und wanderte umher. Was sollte sie nun tun? Wie konnte sie sich ablenken? Irgendwie musste es ihr gelingen, auf andere Gedanken zu kommen.

Im Präsidium der Trierer Kriminalpolizei saßen Ottfried, Sabrina und Hermann in ihrem Büro und überlegten, wie sie nun vorgehen sollten. Sie hatten bereits nach Vermisstenanzeigen gesucht, die Polizeiwachen im gesamten Bundesland abtelefoniert, und weiter versucht, irgendetwas über den Toten herauszufinden. Leichter gesagt als getan. Sie fanden nichts heraus.

»Irgendwie ist der Fall doch schwieriger als gedacht«, vermutete Hermann. »Sabrina hatte recht, Herr Kommissar.«

»Das hab’ ich ja gesagt«, platzte es aus Sabrina heraus, noch ehe Ottfried zu Wort kommen konnte.

»Es wird sich herausstellen«, sagte er. »Aber im Moment scheint ihr beide recht zu haben. Unser Toter wird nicht vermisst. Wir wissen nicht einmal, woher er überhaupt kommt. Von den Kollegen im Land weiß auch keiner was. Es ist rätselhaft.«

»Eben!« Sabrina nickte immer wieder hektisch.

»Wir müssen mal abwarten, was wir aus der Gerichtsmedizin hören«, sagte Hermann, um den Kollegen wieder Mut zu machen. »Wir dürfen nicht aufgeben.«

»Das käme so oder so nicht in Frage«, brummte Ottfried. Er widmete sich schlagartig weiteren Recherchen zum vorliegenden Fall. Schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, lachte er laut auf. »Hahaha! Ihr ahnt es nicht, Sabrina und Hermann. Ich habe gerade ein Facebook-Profil gefunden.«

»Echt? Von wem?« Hermann wurde hellhörig.

»Ich nehme an, es gehört ihm.«

»Dem Toten?«

»Genau. Sein Profilbild zeigt einen jungen Mann, der genauso aussieht wie der Tote auf dem Spielesplatz. Kurzes, dunkles Haar, schmales Gesicht, ein Stoppelbärtchen. Wir haben ihn ja gesehen, Hermann.« Ottfried nickte bekräftigend.

»Na, so etwas! Und, steht auch ein Name dabei?«

»Ja. Es handelt sich um einen Tobias Winter. Ich sehe auch gerade, dass er von weiter herkommt. Ruhrgebiet.« Der Kommissar studierte das Profil mit größter Sorgfalt.

»Dann müssen wir uns im Ruhrgebiet umsehen«, rief Sabrina. »Eventuell finden wir da seine Verwandten. Falls er welche hat.«

»Sicher. Ich telefoniere mal rum.« Schon griff Ottfried zum Hörer. Er telefonierte alle möglichen Meldeämter im Ruhrgebiet ab, um herauszufinden, in welcher Stadt Tobias Winter tatsächlich gemeldet war. Zunächst schien niemand etwas zu wissen. Aber dann hatte der Kommissar doch Glück: er erfuhr, dass Tobias vor etwas mehr als einem Jahr noch in Dortmund gewohnt hatte, dann aber nach Trier gezogen war, um dort seine Ausbildung als Automobilkaufmann zu beginnen. Lediglich seine Schwester wohnte noch in Dortmund. Ottfried fragte nach Namen und Telefonnummer. Schließlich musste er die Schwester des Toten umgehend kontaktieren.

Nach dem Telefonat schaute er seine Kollegen triumphierend an. »Wir kommen voran.«

»Super!« Sabrina klatschte in die Hände. »Ich wusste ja, dass wir im Ruhrgebiet nachforschen müssen.«

»Aber ...«, ergriff Hermann zögerlich das Wort, »hätten das nicht die Kollegen dort machen können? Sind sie nicht zuständig?«

»Es wird schon alles richtig sein«, gab Ottfried zurück. Er wusste natürlich, dass die Kollegen in Dortmund sich darum kümmern und Tobias‘ Schwester kontaktieren sollten, aber nun hatte er die Sache in der Hand. Er ermittelte zusammen mit Sabrina und Hermann im Fall des toten Tobias Winter, also wollte er auch dessen Schwester informieren. »Ich werde sie anrufen müssen. Wenn wir sie nicht erreichen, schicken wir die Kollegen aus Dortmund zu ihr. Sie wird so oder so vom Tod ihres Bruders erfahren müssen.«

»Gut, dann machen Sie das. Wie heißt sie denn, wenn ich nachfragen darf?« Hermann schaute Ottfried fragend und herausfordernd zugleich an.

»Elena Winter, mehr verrate ich euch aber nicht. Die Daten, die ich bekommen habe, müssen streng vertraulich behandelt werden. Sie dürfen nicht in falsche Hände geraten.«

»Das ist logisch.« Hermann nickte knapp. Er schaute zu, wie der leitende Kommissar den Telefonhörer erneut in die Hand nahm und Elena Winters Nummer wählte. Eine Weile schien sich nichts zu tun. Dann meldete sich eine weibliche Stimme, die allerdings so gar nicht zu Elena Winter passte. Die Frau hatte eine sehr raue und alt klingende Stimme. Es schien sich, der Stimme nach zu urteilen, um eine etwa 60 Jahre alte Frau zu handeln, die sich gemeldet hatte.

Ottfried stellte sich vor: »Guten Tag, Kriminalhauptkommissar Ottfried Braun von der Kriminalpolizei Trier. Spreche ich mit Elena Winter?«

»Nein, mit der Putzfrau. Was gibt’s?«, fragte die Dame.

»Ist Elena Winter zuhause?«, hakte Ottfried nach.

»Leider nein, sie ist verreist. Heute Morgen ist sie losgefahren.«

»Tatsächlich? Das ist schlecht. Wohin ist sie gefahren?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Sie wollte lediglich zu ihrem Bruder.«

»Hm, okay. Hat Frau Winter mehrere Brüder?«

»Nein, nur einen. Was ist denn so dringend? Hat sie etwas verbrochen?«, fragte die Frau.

»Nein. Sagen Sie ihr einfach, dass sie sich melden soll, wenn sie wieder zurück ist. Die Nummer wird ja sicher auf dem Display stehen.«

»Gut, ich sage ihr Bescheid. Es kann aber schon zwei Wochen dauern.«

»Das macht nichts. Danke. Wiederhören!« Ottfried legte auf und betrachtete nachdenklich die Tischplatte. Dann schaute er auf. »Sie ist auf dem Weg nach Trier.«

»Das ist ja noch leichter.« Hermann klatschte begeistert in die Hände.

»Pass auf, Herman! Das macht die Sache nicht unbedingt einfacher. Wir können sie nicht erreichen, und Hinweise darauf, wo sie einquartiert sein wird, haben wir auch nicht«, nahm Ottfried seinem Kollegen alle Begeisterung.

»Und was, wenn wir die Hotels abtelefonieren?«, schlug Sabrina vor, der nicht entgangen war, wie enttäuscht Hermann auf einmal wirkte.

»Das wäre zwar eine Möglichkeit, aber du musst bedenken, dass Trier nicht gerade wenige Hotels hat. Wir werden abwarten müssen. Außerdem müssen wir jetzt erst einmal nachforschen, wie genau Tobias Winter zu Tode gekommen ist.« Ottfried schaute Sabrina scharf in die Augen. Bevor er dann jedoch etwas anderes machen konnte, klingelte das Telefon. Blitzschnell nahm er den Hörer in die Hand: »Kommissar Ottfried Braun, Kripo Trier, guten Tag!«

»Die Gerichtsmedizin Homburg, Harald Burg am Apparat«, grüßte der Rechtsmediziner.

»Oh, hallo. Was gibt’s? Erste Erkenntnisse?«

»Ja, nun ja, wir haben heute die äußere Leichenschau vorgenommen. Keine Anzeichen einer äußeren Gewalteinwirkung. Der junge Herr ist gegen 23 Uhr verstorben, so viel steht fest. Die Totenstarre hat sich noch nicht gelöst, auch ließen sich die Totenflecken noch wegdrücken. Ich habe ihn dahingehend gründlich untersucht.«

»Interessant. Aber sonst wisst ihr noch nichts?«

»Nein, die innere Autopsie erfolgt morgen. Ich werde mich direkt danach bei Ihnen melden.« Harald lächelte am Ende der Leitung, was Ottfried natürlich nicht sehen konnte.

»Alles klar, dann wissen wir hier soweit Bescheid. Danke für den Anruf!«

»Gerne.«

»Wiederhören.« Ottfried legte auf und schaute vielsagend in die Runde. »Gestorben gegen 23 Uhr. Keine äußere Gewalteinwirkung. Innere Autopsie erfolgt morgen. Dann wissen wir mehr.«

»Schön, immer noch so schlau wie vor ein paar Minuten«, seufzte Sabrina.

»Aber auch eine Information mehr. Wir wissen, wann er gestorben ist. Also muss er kurz vorher über den Spielesplatz gelaufen sein. Es hat ihn aber niemand beobachtet. Der Anwohner, der zwischen 21 und 22 Uhr kurz vor die Tür getreten war, hat den jungen Mann zu dieser Uhrzeit noch nicht gesehen. Jetzt müssen wir herausfinden, wo er zu dieser späten Stunde herkam, bevor er plötzlich und überraschend verstarb«, gab Ottfried zurück.

»Stimmt. Da ist was dran!« Hermann nickte bestätigend. Dann tippte er auf der Tastatur herum. Er wollte per Internet nachforschen, wo sich Tobias Winter aufgehalten hatte, bevor er über den Spielesplatz gelaufen war. So einfach war die Sache allerdings nicht. Er hatte immerhin keine Ahnung, was er in die Suchleiste eingeben sollte. So tippte er einfach Tobias‘ Namen und betätigte die Enter-Taste. Vielleicht stieß er so auf Neuigkeiten. Hermann suchte und suchte, doch auch diese Spur schien ins Leere zu führen. »Das gibt’s doch nicht«, lachte er dann. »Man findet nichts heraus.«

»Hm. Wonach wolltest du suchen?« Sabrina schaute ihren Kollegen fragend an.

»Na ja, ich hatte gedacht, man könnte über das Internet rauskriegen, wo Tobias Winter kurz vor seinem Tod noch gewesen war. Dann hätte man da noch einige Leute befragen können. Aber … es will ihn ja wirklich niemand gesehen haben. Nur dieses Pärchen da, das zufällig über den Spielesplatz kam. Aber da war der junge Mann ja schon tot.« Hermann dachte angestrengt nach. Es wollte ihm einfach nichts einfallen. Seine Kollegen konnten ihm auch nicht weiterhelfen. Sie waren genauso ratlos wie er. Doch auch sie dachten nach. Dann war es Sabrina wieder, die das Schweigen brach. »Man sollte erst einmal die Obduktionsergebnisse abwarten. Vielleicht bringt uns das ja eher weiter.«

»Ja, du wirst recht haben. Wie immer!« Hermann zwinkerte ihr zu. Dann schaute er hinüber zu Ottfried. Dieser zuckte lediglich die Schultern. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Genauso schaute er Sabrina und Hermann auch an. Die beiden verstanden. Sie ahnten, dass sie den Rest des Tages mit Rätselraten verbringen würden.

Isabel und Stefan blieben nicht länger im Wohnzimmer. Sie mussten noch einmal raus, und diesmal nutzten sie das Auto. Die beiden wollten nach Trier in die Stadt fahren, um bei einem kurzen Bummel und einem Kaffee wieder auf andere Gedanken zu kommen. Auf dem Weg in die Innenstadt gerieten sie in einen kurzen Stau. Die Ampelanlage an der Hochbrücke Ehrang war fast immer für so etwas zu haben. Zu dieser Zeit allerdings wunderlich. Es war doch noch keine Zeit für den Feierabendverkehr. Außerdem war Sonntag. Stefan stöhnte, als er auf die Bremse trat. »Kann auch nicht sein«, jammerte er.

»Hm, vielleicht wollen die alle zur Pfalzeler Kirmes. Kann doch sein«, gab Isabel schulterzuckend zurück.

»Na, ich weiß nicht. Wollen die meisten nicht abends dahin?« Stefan schüttelte den Kopf. Er musste aber zugeben, dass das Verkehrsaufkommen gerade ziemlich hoch war. Etwa zehn Minuten ging es recht schleppend voran. Dann rollte es wieder. Den Rest des Weges kamen Isabel und Stefan schnell durch bis Trier. An der Ausfahrt Pfalzel bestätigte sich Isabels Vermutung. Viele Autofahrer bogen dort ab. »Ich glaube, ich weiß, was Sache ist«, behauptete sie. »Heute gibt’s Programm von Kindergarten und Schule. Das wollen immer viele sehen.«

 

»Na, du kennst dich ja aus.« Stefan musste schmunzeln. Isabel hatte ja recht. Bevor sich die beiden vor einigen Jahren kennengelernt hatten, hatte Isabel zwei bis drei Jahre in Pfalzel gewohnt, und hatte immer mitbekommen, wie viel am Wochenende auf der jährlichen Pfalzeler Kirmes los war, seit es sie gab. Dieses Jahr war es das fünfte Mal.

»Wir kennen uns ja noch nicht so lange, oder?«, fragte Stefan plötzlich. Mittlerweile hatten sie die Kaiser-Wilhelm-Brücke erreicht.

»Warum fragst du?«

»Na ja, wenn es dieses Jahr das fünfte Oktoberfest in Pfalzel ist … Du hast doch die ersten Jahre dort miterlebt, als du noch in Pfalzel gewohnt hast.«

»Stimmt, jetzt verstehe ich es. Wir hatten uns sogar genau da kennengelernt. Erinnerst du dich?« Isabel begann allmählich in Erinnerungen zu schwelgen.

»Echt? War das nicht mal im Urlaub?«

»Weiß nicht. Kann sein, dass wir uns da wieder getroffen hatten. Da hat‘s dann gefunkt. Als es wäre es gestern gewesen. Die Zeit vergeht so schnell.«

»Du hast recht, Isa.« Stefan lächelte. Gerade lenkte er das Auto ins Parkhaus am Kaufhof. Das war hin und wieder das einzige zentrale Parkhaus, in dem man am Wochenende noch Plätze fand.

»Was wollen eigentlich die Menschen sonntags in Trier? Es hat doch gar kein Geschäft geöffnet?«, wunderte sich Isabel, nachdem die beiden endlich aus dem Auto gestiegen waren. Im Parkhaus selbst war es nicht leicht gewesen, einen freien Parkplatz zu finden. Erst in einer der oberen Parkebenen waren sie fündig geworden.

»Ich nehme an, sie wollen ins Café, und ähnlich wie wir durch die Stadt schlendern. Das kann man ja auch, wenn die Geschäfte geschlossen sind«, sagte Stefan, während die beiden auf dem Weg zum Ausgang waren.

»Das kann sein. Oder … es findet zusätzlich noch eine Veranstaltung in der City statt. Da kann alles möglich sein.«

»Ja, vielleicht.«

Stefan und Isabel legten den Rest des Weges schweigend zurück. Sie spazierten gemütlich an den Schaufenstern vorbei, schauten hier und da mal genauer hin, und genossen sonst einfach den Bummel durch die Stadt. Es war recht leer, obwohl doch fast alle Parkhäuser belegt waren. Für Isabel und Stefan war das ein Rätsel. Sie schauten sich gründlich um. Das Wetter war schön, und es war recht warm. Aber wo waren die vielen Menschen? Die beiden schauten sich kopfschüttelnd an.

»Es kann uns eigentlich auch egal sein«, sagte Stefan schließlich. »Lass uns ins Café gehen.«

Isabel war einverstanden. So nahmen sie Kurs auf das nächstbeste Café und freuten sich auf den ersehnten Kaffee. Sie setzten sich draußen an einen Tisch und genossen das Wetter und die Ruhe. Viel war nämlich in diesem Café auch nicht los; weder im Außen- noch im Innenbereich. Da schmeckte der sofort bestellte Kaffee gleich doppelt so gut, nachdem er etwas später gebracht worden war.

Isabel nippte zunächst zögernd an ihrem Getränk, doch dann trank sie es in wenigen Zügen aus. Stefan ließ sich da ein bisschen mehr Zeit. Er war gerade mit anderen Gedanken beschäftigt, die sich einfach nicht verabschieden wollten. Es waren die Gedanken an den toten, jungen Mann, den er gefunden hatte.

Isabel merkte, dass etwas nicht stimmte. Sie ahnte, woran ihr Freund dachte. Dennoch wagte sie nicht, ihn jetzt darauf anzusprechen. Lieber wartete sie ab. Aber wie lange? Wann hatte sie die Chance? Isabel beschloss, sich darüber erst einmal nicht den Kopf zu zerbrechen, sondern den Rest des Tages mit ihrem Liebsten zu genießen. Sie sah ihm vergnügt dabei zu, wie er den Kaffee zu Ende trank und sie dann fragend anschaute. »Ist was?«

»Nein, nein. Du hast nur so viel länger gebraucht als ich. An was denkst du gerade?«

»Ach, nichts. Komm, lass uns bezahlen und den Stadtbummel fortsetzen. Schaufenster sind schließlich auch sonntags schön.«

»Da hast du recht!«

Das Pärchen wartete, bis die Kellnerin kam, dann bezahlten sie. Wenige Minuten später waren sie schon wieder unterwegs und hatten sich als Ziel gesetzt, einfach planlos durch die Gegend zu laufen und sich am Ende überraschen zu lassen. Sie wollten nicht wissen, wohin der Weg sie führte. So verbrachten sie den Nachmittag, bevor sie später zurück nach Schweich aufbrachen. Sie waren froh, etwas Ablenkung gehabt zu haben, aber auch, wieder nach Hause zu kommen. Nun war auch allmählich der Abend angebrochen, und den wollten Stefan und Isabel in aller Ruhe zu Hause ausklingen lassen.