Engel und Teufel

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06. „Frühstück ist serviert, meine Herren!“.

Mr. Sutherland kehrte nach Hause zurück. Als er die weite Vorhalle betrat, stand er vor seinem Sohne Frederick. „Vater“, stammelte der junge Mann „kann ich einige Worte mit Dir sprechen?“

Mr. Sutherland, überrascht über seines Sohnes Erregtheit, nickte zustimmend und folgte dem Vorangehenden in ein kleines Zimmer, das noch den Blumenschmuck der gestrigen Festlichkeit trug.

„Ich will Abbitte leisten“, begann Frederick, „oder vielmehr, ich will Deine Verzeihung erbitten. Seit Jahren handelte ich Deinen Wünschen entgegen, verursachte der Mutter Herzeleid und Dir solchen Gram, dass Du oft wünschtest, ich wäre nie geboren.“

Er hatte das Wort „Mutter“ merkwürdig betont und sprach in der Tat aus innerstem Herzen.

Mr. Sutherland hörte ihm erstaunt zu. Sprach dies der Junge, an dem er längst verzweifelt war?

„Ich“, fuhr Frederick fort „ich will mich ändern. Ich will versuchen, Dir so viel Ehre zu machen, als ich Dir Schande gebracht. Es mag im Anfang vielleicht nicht Alles so leicht gehen, doch ich will meine ganze Kraft daran setzen und wenn Du mir Deine Hand reichen willst -.“

Im Augenblick hatte der alte Mann seine Arme um den jungen geschlungen.

„Frederick“, rief er unter Tränen, „mein Frederick!“

„Beschäme mich nicht zu sehr“, murmelte dieser, totenblass und wunderbar gefasst.

„Es gibt keine Entschuldigung für meine Vergangenheit und ich bange um meine Zukunft - dass mir die Kraft vielleicht fehlt, meine guten Vorsätze auszuführen. Doch das Bewusstsein, dass Du diese Vorsätze kennst und Deine ungeteilte Liebe sollen genügen, mich stark zu erhalten und ich müsste in der Tat die elendeste Kreatur sein, würde ich Dich zum zweiten Male enttäuschen.“

Er hielt inne, entwand sich seines Vaters Armen und, aus dem Fenster gegen Himmel schauend, fuhr er fort:

„Ich schwöre, dass ich mich künftig so betragen werde, als sei sie noch am Leben und würde über mich wachen!“

Mr. Sutherland schaute ihn erstaunt an. Er hatte Frederick schon in jeder Stimmung gesehen, aber noch nie so ernst, so gefasst und so entschlossen.

„Ja“, fuhr der junge Mann fort, unverwandt die Augen in die Ferne gerichtet, „ich schwöre, dass ich künftig nichts tun werde, das ihr Andenken entehren könnte! Mein Denken und mein Handeln sollen so sein, als ob ihre Augen mich noch sehen, als ob sie noch Schmerz empfinden könne über mein Fehlen und Freude über meine Erfolge.“

Ein Bild Mrs. Sutherlands, gemalt, als Frederick kaum zehn Jahre alt war, hing nicht weit von dem Sprechenden. Er schaute nicht dahin, aber Mr. Sutherland schaute hin, mit einem Blicke, als ob er sonnige Strahlen aus den Augen scheinen zu sehen erwartete.

„Sie hat Dich sehr lieb gehabt“, sagte er dann langsam und ernst. „Wir beide hatten Dich lieber, als Du je geahnt, Frederick.“

„Ich glaube es“, entgegnete dieser, den Augen des Vaters begegnend.

„Und um Dir zu zeigen, dass ich künftig Deinen Worten folgen will, habe ich beschlossen, Dir zu Liebe meinem innigsten Herzenswunsch zu entsagen. Vater -.“, er zögerte, doch nur einen Augenblick; dann fuhr er mit fester Stimme fort, „ich glaube bemerkt zu haben, dass es Dir nicht angenehm wäre, Miss Page als Tochter zu sehen -.“

„Ob ich wünsche, dass die Nichte meiner Haushälterin den Platz in diesem Hause einnehme werde, den einst Marietta Sutherland inne hatte? Frederick, ich hatte zu hohe Meinung von Dir, um zu glauben, dass Du dich soweit vergessen würdest, selbst als ich sah, dass Du dich von ihren Reizen beeinflussen ließest.“

„Du hattest mich zu hoch eingeschätzt, Vater. Es war in der Tat meine Absicht, sie zu heiraten! Ich habe es indes aufgegeben, für mich allein zu leben und sie könnte mir nie helfen, für Andere zu leben! Vater, Amabel Page darf nicht in diesem Hause bleiben, soll Friede zwischen Dir und mir sein!“

„Ich gab ihr bereits zu verstehen, dass ihre Anwesenheit in diesem Hause nicht länger mehr wünschenswert ist“, entgegnete der alte Mann.

„Sie fährt zehn Uhr fünfundvierzig. Ihr Betragen heute Morgen in Mrs. Webbs Hause - die, wie Du vielleicht noch nicht weißt, in der letzten Nacht schmählich ermordet wurde - war derart, dass es zu unliebsamen Bemerkungen Anlass gab und ihr Verbleiben in einer guten Familie unmöglich machte.“

Frederick erblasste. Etwas in den Worten seines Vaters hatte ihn tief erschüttert. Mr. Sutherland glaubte, dass es der Tod der edlen Frau wäre, doch schon aus den ersten Worten seines Sohnes merkte er, dass dessen Gedanken bei Amabel waren, die er unmöglich mit einem Verbrechen in Verbindung bringen konnte.

„Sie war in Mrs. Webbs Hause? Wie ist das möglich? Wer würde eine junge Dame dahin mitnehmen?“

„Sie ging allein, Niemand nahm sie mit. Kein Mensch - ich selbst vermochte sie nicht zurückzuhalten, nachdem sie gehört, dass ein Mord begangen worden war. Sie drang sogar ins Haus! Als sie aus dem Totenzimmer gewiesen wurde, ging sie in den Garten und blieb dort solange stehen, bis sie Gelegenheit hatte, uns eine Blutspur zu zeigen, die uns sonst sicher entgangen wäre.“

„Unmöglich!“ Frederick blickte seinen Vater an, als ob Erstaunen oder Schreck ihn starr gemacht hätte.

„Amabel hätte das getan? Entweder Du scherzest oder ich träume - was Gott geben möge -!“

Der Vater, der solch tiefes Gefühl in seinem Sohne nie vermutet hätte, schaute ihn erstaunt an. Doch sofort ging dies Erstaunen in Schreck über, als es ihn wanken und gegen die Wand fallen sah.

„Du bist krank, Frederick, Du bist wirklich krank. Lass mich Mrs. Harcourt rufen. Aber nein, die kann ich nicht rufen, sie ist ja die Tante des Mädchens.“

Frederick richtete sich gewaltsam auf.

„Rufe Niemanden, bitte“, sagte er.

„Es wird mich noch manchen Schmerz kosten, sie aus meinem Herzen zu reißen - doch ich werde zuletzt siegen - ich will siegen! Was ihr Interesse an Mrs. Webbs Tod betrifft“, wie leise er sprach und wie seine Stimme zitterte, „so mögen die Beiden besser befreundet gewesen sein, als wir wissen; eine andere Erklärung für ihr Betragen kann ich nicht finden. Bewunderung für Mrs. Webb und der Schrecken -.“

„Frühstück ist serviert, meine Herren!“ rief eine durchdringende Stimme hinter ihnen.

Amabel Page stand lächelnd unter der Türe.

07. „Heirate mich!“.

„Ich möchte einen Augenblick mit Dir sprechen!“

Amabel hielt Frederick am Arm fest, als er eben im Begriffe war, seinem Vater zu folgen, der das Zimmer bereits verlassen hatte.

„Ich fahre heute nach Springfield“, fuhr sie fort, ihn ins Zimmer ziehend und die Türe langsam schließend.

„Es wohnt dort eine Tante von mir, im Arlington House. Wann werde ich das Vergnügen haben, Dich dort begrüßen zu können?“

„Nie!“ Es lag ebenso viel Bedauern als Festigkeit in seiner Stimme.

„So schwer es mir ankommt, Amabel, muss ich Dir doch sagen, dass wir, nach Deinem Weggange von hier, uns Fremde sein müssen. Freundschaft zwischen uns wäre Heuchelei und eine engere Verbindung ist nunmehr eine Unmöglichkeit“

Es kostete ihn große Überwindung, ihr das zu sagen und er erwartete - ich muss sagen, hoffte aus tiefstem Herzen - sie erbleichen zu sehen, vielleicht gar zusammenbrechen.

Doch sie schaute ihm einen Augenblick fest in die Augen, schob dann ihre kleine zarte Hand in seinen Arm, bis sie seine Hand erreichte, drückte diese liebend fest und zog ihn tiefer ins Zimmer.

Er war machtlos. Sie hatte nie so schön, so faszinierend ausgesehen. Statt niedergedrückt zu sein, vernichtet, lächelte sie ihm zu, mit einem Lächeln, das gefährlicher war, als Tränen, denn es zeigte Bewunderung und tiefe, leidenschaftliche Liebe.

„Ich küsse Deine Hand, wie die Spanier sagen.“

Dabei beugte sie sich nieder, gerade tief genug, um ihn zwei neckische Grübchen und einen weißen Nacken sehen zu lassen.

Er wusste nicht, was er aus ihrem Benehmen machen sollte.

Er glaubte, all ihre Launen zu kennen und stand nun überrascht vor diesem Rätsel von Weiblichkeit.

„Ich würdige die Ehre“, entgegnete er, „ohne zu wissen, durch was ich sie verdient habe.“

Sie schaute ihn immer noch mit demselben Ausdruck von Bewunderung an.

„Ich dachte nicht, dass ich Dir so gut sein könnte“, sagte sie. „Wenn Du Dich nicht vorsiehst, werde ich Dich eines Tages wirklich lieb haben!“

„Ah!“ rief er und seine Züge zogen sich schmerzhaft zusammen, „demnach ist Deine Liebe nur eine Möglichkeit. Sehr gut, Amabel, lasse sie so bleiben; das wird Dir manchen Schmerz ersparen. Ich, der ich nicht so klug war, wie Du -.“

„Frederick!“ Sie war ihm so nahe gekommen, dass er nicht die Kraft hatte, den Satz zu beenden.

Sie wandte ihm ihr glühendes Gesicht zu, ihre großen, sprechenden Augen und sagte langsam, Wort für Wort:

„Frederick - hast Du mich wirklich so lieb?“

Er war ärgerlich - vielleicht weil er seine Vorsätze wanken fühlte.

„Du weißt es!“ schrie er und trat zurück.

Dann, mit plötzlich ausbrechender Leidenschaft, fast bittend, fuhr er fort:

„Führe mich nicht in Versuchung, Amabel! Ich habe genug zu leiden, auch ohne das ich meinem erst gefassten Grundsatz untreu werde!“

„Ah!“ rief sie, ihn mit allen Künsten der Koketterie an sich lockend, „Deine Gefühle haben sich bereits in einen Grundsatz verwandelt? Ich bin so vieler Liebe gar nicht wert, Frederick.“

Er verstand sie weniger denn je. Er fühlte nur, dass, gegenüber so viel Reizen, er nicht Stand zu halten vermochte und wandte sich ab.

 

Sie sah diese Bewegung, wusste, dass sie gesiegt hatte und stieß ein kurzes Lachen aus, ein Lachen, faszinierend, wie ein stürzender Bach, wie fallende Perlen.

„Du kommst nach Springfield“, sagte sie dann, bei Seite gehend, um ihn zur Türe gehen zu lassen, „und recht bald!“

„Amabel“, zischte er, mit heiserer Stimme, „sag mir das Eine: Liebst Du mich?“

Seine Hände öffneten und schlossen sich nervös.

„Du hast es mir oft gesagt, doch stets im Spaß, im Spott. Nun sagtest Du, Du könntest mich eines Tages lieben - und diesmal schien es Dir ernst gewesen zu sein! Wo liegt die Wahrheit? Sag mir es ohne Ausflüchte, ohne Koketterie, denn es ist mir -.“

Er verstummte. Ein unverständliches Gurgeln - ein konvulsivisches Zucken all seiner Gesichtsmuskeln - er stand dem Fenster gegenüber, durch das er vor wenigen Minuten geschaut hatte, als er einen heiligen, feierlichen Eid geschworen hatte!

„Nein, nein!“ fuhr er auf, „sage nichts! Wenn Du auch schwörst, Du liebst mich nicht - ich glaube es nicht! Und sagtest Du, Du liebst mich, dann wäre es umso schlimmer, denn ich sage Dir wieder, es muss aus zwischen uns sein, alles aus! Ein heiliges Versprechen, das ich meinem -.“

„Nun? Warum vollendest Du nicht? Wird es Dir so schwer, mit mir zu sprechen, dass Du keine Worte findest?“

„Ich habe meinem Vater versprochen. Dich nie zu heiraten. Er hat Gründe dies zu wünschen und da ich ihm Alles danke -.“

Er stockte.

Sie schaute ihn durchdringend an, immer noch das spöttische Lächeln auf den Lippen.

„Sprich die Wahrheit“, flüsterte sie. „Ich weiß ja, wie weit Du Deines Vaters Wünsche berücksichtigst! Du glaubst, nachdem, was in letzter Nacht geschah, dürftest Du mich nicht heiraten. Frederick, ich liebe Dich dieser rücksichtsvollen Schonung halber. Doch dies soll Dein Gewissen nicht drücken. Ich vergebe Dir viel mehr, als Du ahnst und wenn Du mich wirklich lieb hast -.“

„Halt ein! Dass wir uns auch recht verstehen!“

Er war totenbleich geworden und schaute sie voll Angst an.

„Was soll diese Anspielung auf letzte Nacht? Ich erinnere mich nicht, dass in unserem Gespräch -.“

„Ich meinte nicht unser Gespräch.“

„Oder bei den Tänzen -.“

„Frederick, ein Tanz ist ein unschuldiges Vergnügen.“

„Unschuldig!?“, wiederholte er und ward noch bleicher, als er die Bedeutung ihrer Worte verstand, „unschuldig?“

„Ich schlich Dir nach, als Du in die Stadt gingst“, flüsterte sie, näher kommend und ihm ins Ohr zischend; „doch was ich dort sah, soll mich nicht daran hindern, Dir zu folgen, wenn Du sagst: komm mit mir, Amabel, von nun an soll unser Leben eins sein!“

„Mein Gott!“

Das war Alles, was er sagen konnte. Doch diese beiden Worte brachten eine weite Kluft zwischen ihm und ihr.

Während auf ihren Lippen noch immer ein Lächeln lag - nicht mehr jenes faszinierende, packende, nein ein tückisches, teuflisches - zeigte sich auf seinen Zügen, nachdem die erste Bestürzung erst vorüber war, ein Ernst, ein Entschluss, wie er ihn nie im Leben besessen hatte.

„Ich weiß nicht, was Du gesehen hast“, sagte er und schob sie langsam aber fest zurück, „doch was es auch gewesen sein mag: es wird nichts ändern in dem Verhältnis zwischen Dir und mir!“

Ihre Stimme, die vorhin flüsternd gewesen, war jetzt kaum vernehmbar.

„Ich blieb nicht an der Türe stehen, durch die Du eintratst - ich folgte Dir ins Haus! Es dauerte lange, ehe Du wieder heraus kamst - doch vorher ward die Jalousie eines gewissen Fensters bei Seite geschoben und -.“

„Sssst!“ zischte er leidenschaftlich und presste seine Hand auf ihren Mund, „kein Wort mehr davon oder ich vergesse, dass Du ein Weib bist und dass ich Dich je geliebt habe!“

In ihren Augen blitzte es auf, wie Siegesflammen. Er sah dies, ließ seine Hand fallen und schaute sie an - zum ersten Male mit sehenden Augen, nicht mit liebenden -.

„Ich war die einzige Person, die sich in der Nähe befand“, fuhr sie fort. „Du hast also von niemanden etwas zu fürchten -.“

„Fürchten?“

Das Echo warf das Wort zurück - sie brauchte es nicht zu wiederholen.

Sie sah ihn an - sie merkte, wie er erschauerte - wie er all seiner Kraft bedurfte, sich aufrecht zu halten - sie sah seinen Blick, den kalten, eisigen - sie wusste, dass seine Liebe tot war - da wechselte sie die Farbe - das Lächeln verschwand von ihren Lippen - ihre Pulse flogen und in wilder Leidenschaft schrie sie auf:

„Heirate mich oder ich zeige Dich an, als den Mörder von Agatha Webb!“

08. Ein Teufel.

Nachdem Frederick Sutherland sich von seiner ersten Überraschung erhol hattet, fragte er bitter:

„Was erwartest Du von einer Verbindung mit mir, der Du den letzten Rest von weiblicher Würde opfern willst?“

Diese Frage hatte sie am wenigsten erwartet. Wild fuhr sie auf:

„Was ich erwarte? Frage die Hyäne, weshalb sie frei sein will! Was ich erwarte? Wie kannst Du ein armes Mädchen, wie ich es war und bin, fragen? Ich bin geboren in einer kleinen, engen Stube, mit dem Ehrgeiz und der Leidenschaft einer Königin! Ich will die Tochter des reichen Mr. Sutherland werden, die - ob willig oder unwillig - Zutritt zu den ersten Familien in Boston hat! Ich will hinauf auf die höchste Stufe der gesellschaftlichen Macht - ich kann! — ich will!“

„Und dafür -?“

„Und dafür“ unterbrach sie ihn, „will ich das Blut übersehen, das an Deinen Händen klebt. Ich bin überzeugt, Du wirst die gestrige Tat nicht wiederholen und ich bin bereit, Dein Geheimnis durch das ganze Leben mit Dir zu tragen. Wenn Du mich gut behandelst, werde ich Dir die Last leicht machen.“

Da stieg ihm das Blut in den Kopf - er richtete sich auf - warf den Kopf zurück - wie schön er war, wenn erst das bessere Selbst in ihm erwachte!

„Weib!“ schrie er, „Sie haben recht: Du bist ein Teufel!“

Sie lächelte, als ob sie das Gesagte als Kompliment betrachtete.

„Ein Teufel, der sich auf Männer versteht", antwortete sie, sarkastisch lächelnd, mit sprühenden Augen.

„Du wirst nicht gar lange zum Überlegen brauchen - vielleicht eine Woche -.“

„Nicht eine Sekunde! Ein Entschluss wird mir umso leichter, als ich Dich nun gesehen, wie Du wirklich bist! Du wirst nie eine Last als meine Gattin mit mir tragen!“

„Schade“, flüsterte sie, „ich hätte Dir so gerne unnötige Aufregungen erspart -. Eine Woche ist ja nicht lange -. Ich halte Dich fest, Frederick! Heute über eine Woche, pünktlich um zwölf Uhr -.“

Zum Äußersten getrieben, in höchster Wut ergriff er ihren Arm und schüttelte sie wild. Ein Schrecken erfasste ihn, den er nicht bemeistern konnte, so sehr er sich auch zu bezwingen suchte.

„Ist das Dein Ernst?“ schrie er. „Mein bitterer Ernst! Weißt Du, wo ich eben herkomme? Von den Büschen, bei denen wir oft gesessen haben. Ein hohler Baum, den wir beide nur zu gut kennen, birgt ein Paket, das über eintausend Dollars enthält - Frederick, ich halte Dein Leben in meinen Händen!“

Kraftlos fiel seine Hand hernieder. Er gab es auf, dem Eindruck widerstehen zu wollen, den ihre Worte auf ihn machten. Er sank in einen Stuhl, presste die Hände vors Gesicht und senkte langsam den Kopf.

Ein triumphierendes Lächeln flog über ihre Züge.

„Wenn Du nach Springfield kommen willst, ehe die Woche vorüber ist“, sagte sie, „umso besser. Je eher ich Dich habe, desto lieber; nur länger als eine Woche darf es nicht dauern, keine Stunde länger! Und nun, wenn Du mich gütigst entschuldigen willst, werde ich gehen und meine Koffer packen.“

Er schauerte; ihre Stimme zerfleischte ihm Ohr und Herz, doch er bewegte sich nicht.

„Du brauchst während dieser Woche keine Angst zu haben“, fuhr sie fort; „nicht mit glühenden Zangen können sie mir die Wahrheit entreißen, solange ich noch einen Schimmer von Hoffnung sehe, dass Du tun wirst, was ich verlange.“

Er saß immer noch unbewegt.

„Frederick!“

War sie es, die so viel Liebe in das eine Wort legte?

Wohnen Teufel und Engel in einer Brust?

„Frederick, ich will Dir nur noch ein Wort sagen, ein letztes Wort: bis zu dieser Stunde ließ ich Deine Aufmerksamkeiten willig über mich ergehen - sagen wir, ich nahm sie an, denn ich fand Dich stets lieb und nett und gestattete Dir gerne die Herrschaft über mein Herz. Doch jetzt ist es Liebe, was ich fühle, wahnsinnige Liebe und Liebe ist bei mir kein Spiel, nein, eine heiße, tiefe Leidenschaft - hörst Du eine Leidenschaft, die dem Manne, der sie geweckt, das Leben zum Himmel oder zur Hölle machen kann!“

Und mit einem Blicke, in dem sich Liebe und Hass stritten, beugte sie sich nieder und drückte einen brennenden Kuss auf seine kalte Stirn.

Dann ging sie - so glaubte er. Doch als er nach einigen Minuten seelischer Qualen sich erhob und das Zimmer verließ, fand er, dass sie in der Halle von zwei oder drei Männern angehalten worden war, die soeben ins Haus getreten waren.

„Sind Sie Miss Page?“ fragten sie.

„Ja, ich bin Miss Page - Amabel Page. Wenn sie mich sprechen wollen, machen Sie es, bitte kurz. Ich habe nicht viel Zeit, da ich in einer Stunde die Stadt verlasse.“

„Eben deshalb sind wir hier“, erklärte ein schlanker, bleicher junger Mann.

„Dr. Talbot lässt Ihnen sagen, dass Sie sich für die Untersuchung über die Todesursache von Agatha Webb als Zeugin bereit zu halten haben und vor Beendigung der Verhandlungen die Stadt nicht verlassen dürfen.“

„Ich als Zeugin?“ rief sie mit wohlgespieltem Erstaunen, indem sie ihre großen braunen Augen weit öffnete, „Was - habe ich dabei zu tun?“

„Sie machten die Herren auf eine Spur im Grase aufmerksam und - den Wünschen des Untersuchungsrichters muss eben Folge geleistet werden, Miss Page. Wenn Sie dennoch versuchen sollten, die Stadt zu verlassen, setzen Sie sich der Gefahr aus, verhaftet zu werden.“

„Da bleibe ich lieber hier“, sagte sie lächelnd, und Frederick anschauend, setzte sie hinzu: „denn ich möchte nicht gern arretiert werden, Mr. Sutherland“, sprach sie den alten Mann an, der eben unter der Türe des Speisesaals erschien, „ich bin leider gezwungen, Ihre Gastfreundschaft noch einige Tage länger in Anspruch nehmen zu müssen. Diese Herrn hier sagten mir soeben, dass das unschuldige Interesse, das ich heute früh gezeigt habe - indem ich sie auf eine Blutspur in Mrs. Webbs Garten aufmerksam machte, die Neugierde von Jemanden erregt habe und der Untersuchungsrichter mich als Zeugin wünscht.“

„Des Richters Wünsche sind in solchem Falle Befehl“, entgegnete Mr. Sutherland, näher tretend.

Zu seinem Sohne sprach er nicht. Der Blick aber, den er ihm zuwarf, wurde von den Anwesenden nicht so schnell vergessen.