Geschichte der USA

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Der Versailler Friede und seine Rückwirkungen in den USA

Mit Hilfe eines Expertenkomitees, der von Colonel HouseHouse, Edward M. geleiteten Inquiry, hatte sich WilsonWilson, Woodrow gründlich auf das Abenteuer des Friedenschließens vorbereitet. Als erster amtierender amerikanischer Präsident fuhr er im Dezember 1918 nach Europa, um an der Spitze der US-Friedensdelegation die neue politische Ordnung mitzugestalten. Sein triumphaler Empfang durch die Bevölkerung der alliierten Staaten stand im Kontrast zu der Niederlage der Demokratischen ParteiDemokratische Partei in den Novemberwahlen, bei denen wirtschaftliche Themen wie die Inflation die Außenpolitik bereits wieder in den Hintergrund gedrängt hatten. Ähnlich glücklos agierte WilsonWilson, Woodrow trotz aller persönlichen Anstrengungen auf der Friedenskonferenz der 27 Siegerstaaten, die am 18. Januar 1919 in ParisParis begann und ihren Höhepunkt mit der Unterzeichnung des Versailler VertragsAußenpolitikVersailler Vertrag (1919)Versailler Vertrag am 28. Juni 1919 erreichte.

Aus drei wesentlichen Gründen blieb das Endergebnis deutlich hinter WilsonsWilson, Woodrow Ideen und Zielvorstellungen zurück: Zum einen hatte der Präsident die Absicht der Franzosen und Engländer unterschätzt, DeutschlandDeutschlandBeziehungen zu Deutschland vor 1949Erster Weltkrieg durch Gebietsabtrennungen, Entwaffnung und hohe Reparationslasten militärisch und wirtschaftlich so sehr zu schwächen, dass es nie wieder zur Gefahr werden konnte. WilsonWilson, Woodrow erkannte die psychologischen und ökonomischen Risiken eines solchen Kurses, doch er musste Kompromisse schließen, um einen Bruch mit den Verbündeten zu vermeiden. Zweitens litt das Friedensprogramm der Inquiry an nahezu unüberwindlichen inneren Widersprüchen, was vor allem bei der Grenzziehung im Osten und bei der Behandlung von Kolonialfragen offenbar wurde. In den ethnisch gemischten Siedlungsgebieten Ost- und Südosteuropas ließ sich das Selbstbestimmungsprinzip nicht mit der Forderung nach der Lebensfähigkeit neuer Staaten wie PolenPolen, der TschechoslowakeiTschechoslowakei und JugoslawienJugoslawien vereinbaren; eine Ausdehnung des Selbstbestimmungsrechts auf die Kolonialgebiete wiederum kam für die europäischen Mächte noch nicht in Frage, so dass man sich auf die Zwischenlösung einigte, die ehemaligen deutschenDeutschlandBeziehungen zu Deutschland vor 1949Erster Weltkrieg Besitzungen als VölkerbundsmandateAußenpolitikVölkerbundVölkerbund unter britischeGroßbritannienErster Weltkrieg, französische und japanische Verwaltung zu stellen. Dass JapanJapanBeziehungen 1914 bis 1945 auf diese Weise im pazifischen Raum noch stärker wurde, konnte eigentlich nicht im Interesse der USA liegen. Drittens schließlich trat das deutscheDeutschlandBeziehungen zu Deutschland vor 1949Erster Weltkrieg Problem im Verlauf der Konferenz aus der Sicht WilsonsWilson, Woodrow mehr und mehr hinter die revolutionäre Gefahr zurück, die vom bolschewistischen RusslandRussland ausging. Schon die „14 PunkteVierzehn Punkte (Wilson)“ waren in gewissem Sinne eine Antwort auf LeninsLenin, W.I.U. und TrotzkisTrotzki, Leo Strategie gewesen, mit der Parole vom Selbstbestimmungsrecht aller Völker zum Kampf gegen den „westlichen Imperialismus“ und zur „Weltrevolution“ aufzurufen. Ohne den Kongress zu fragen, hatte WilsonWilson, Woodrow im Sommer 1918 amerikanische Truppen nach Nordrussland und Sibirien entsandt, um eine Konsolidierung des bolschewistischen Regimes zu verhindern. Als sich eine Niederlage der gegenrevolutionären „weißen“ Kräfte abzeichnete, wurden sie 1920 wieder abgezogen; in der Zwischenzeit war WilsonsWilson, Woodrow Aufmerksamkeit aber von dieser mit Engländern und Franzosen gemeinsam durchgeführten Intervention und vom kommunistischen Umsturz in UngarnUngarn kaum weniger beansprucht worden als von den Bestimmungen des Versailler VertragAußenpolitikVersailler Vertrag (1919)sVersailler Vertrag. Hier brach zum ersten Mal der ideologische und machtpolitische Gegensatz zwischen den USA und SowjetrusslandSowjetunionZwischenkriegszeit auf, der die weitere Geschichte des 20. Jahrhunderts maßgeblich bestimmen sollte.

Am Ende saß WilsonWilson, Woodrow zwischen allen Stühlen und wurde von überallher angefeindet. Die DeutschenDeutschlandBeziehungen zu Deutschland vor 1949Erster Weltkrieg, die illusionäre Erwartungen an seine „14 PunkteVierzehn Punkte (Wilson)“ geknüpft hatten, waren maßlos verbittert und bezichtigten ihn der Täuschung und Scheinheiligkeit. Franzosen,FrankreichBeziehungen bis 1919 BritenGroßbritannienErster Weltkrieg und insbesondere die ItalienerItalien nahmen ihm übel, ihre Maximalpositionen nicht akzeptiert zu haben. Viele Amerikaner empfanden die Kluft zwischen dem Versprechen einer friedlichen, demokratischen Welt und dem tatsächlichen Ergebnis als so groß, dass sie ernsthaft am Sinn der Kriegsbeteiligung und der gebrachten Opfer zu zweifeln begannen. WilsonWilson, Woodrow tröstete sich mit der Gründung des VölkerbundesVölkerbund, der auf dem Wege der friedlichen Revision die Fehler und Schwächen der Friedensverträge nach und nach beseitigen würde. Aber gerade an der VölkerbundssatzungVölkerbund, die der Präsident für den Kern des Versailler VertragAußenpolitikVersailler Vertrag (1919)sVersailler Vertrag hielt, entzündete sich in den USA ein Streit, der das Scheitern seiner Politik besiegelte.

Die Ratifizierungsdebatte des Senats fand in einem Klima statt, das durch die politische Desillusionierung, die Schwierigkeiten der Umstellung von Kriegs- auf Friedenswirtschaft und durch die Furcht vor dem Bolschewismus irrationale und teilweise hysterische Züge annahm. Schreckensberichte über die Revolutionen in Europa, eine Streikwelle von 4 Millionen amerikanischen ArbeiternArbeiterErster Weltkrieg, blutige Rassenunruhen in mehreren großen Städten und Bombenattentate von Anarchisten lösten 1919/20 eine Art kollektive Paranoia, den Red ScareRed Scare, aus. Obwohl keine echte Revolutionsgefahr gegeben war (die wenigen amerikanischen Kommunisten konnten sich nicht einmal auf eine gemeinsame Partei einigen), setzten die Behörden landesweit Tausende von Verdächtigen ohne Haftbefehl fest und deportierten mehrere hundert Personen nach Europa. Eine unvoreingenommene, objektive Prüfung des Versailler VertragsAußenpolitikVersailler Vertrag (1919)Versailler Vertrag und der in ihm enthaltenen Völkerbundssatzung war in dieser Atmosphäre kaum möglich. Taktische Fehler WilsonsWilson, Woodrow, der es versäumt hatte, führende Republikaner rechtzeitig ins Vertrauen zu ziehen, und der zu keinen wirklichen Zugeständnissen bereit war, erschwerten die Aufgabe zusätzlich. Kritik kam sowohl von DemokratenDemokratische Partei und Progressiven, die den Völkerbund für eine Interessengemeinschaft der imperialistischen Mächte hielten, als auch von Republikanern, die behaupteten, eine Mitgliedschaft im VölkerbundAußenpolitikVölkerbund schränke die Handlungsfreiheit der USA zu sehr ein und erlaube es anderen Staaten, die Monroe-DoktrinAußenpolitikMonroe-DoktrinMonroe-Doktrin zu umgehen und sich in amerikanische Angelegenheiten wie die Einwanderungspolitik einzumischen. Der Hauptvorwurf lautete, die Bestimmungen zur „kollektiven Sicherheit“ in Artikel 10 der Völkerbundssatzung würden die Vereinigten Staaten automatisch in jeden europäischen oder kolonialen Krieg hineinziehen. Im September erlitt WilsonWilson, Woodrow auf einer Redetour durch den WestenWesten, die er zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung unternahm, einen Schlaganfall und war fortan teilweise gelähmt. Bei der Schlussabstimmung im Senat im März 1920 verfehlte der Versailler VertragAußenpolitikVersailler Vertrag (1919) knapp die notwendige Zweidrittel-Ratifizierungsmehrheit. Die USA blieben deshalb dem Völkerbund fern und nahmen auch die Sicherheitsgarantie zurück, die WilsonWilson, Woodrow FrankreichFrankreichBeziehungen bis 1919 auf der Friedenskonferenz gegeben hatte. 1921 wurde ein separater Frieden mit dem DeutschenDeutschlandBeziehungen zu Deutschland vor 1949Erster Weltkrieg Reich geschlossen, und 1923 verließen die letzten amerikanischen Besatzungstruppen das Rheinland.

WilsonWilson, Woodrow erhielt den Friedensnobelpreis für 1919, doch er sah nach der Niederlage in der Ratifizierungsdebatte sein Lebenswerk als zerstört an. Er blieb bis zum Ende der Amtsperiode im März 1921 im Weißen Haus, war aber zu krank (und inzwischen auch zu unpopulär), um sich für die Wiederwahl zu bewerben. Bei seinem Tod 1924 hinterließ er als politisches Erbe einen Völkerbund, der durch die Abwesenheit der USA und anderer wichtiger Länder seinen Anspruch auf Universalität verloren hatte und der mit der Aufgabe, die europäischen und weltpolitischen Gegensätze in friedliche Bahnen zu lenken, völlig überfordert war. Dennoch sollte sich die Idee der kollektiven Sicherheit, die mit WilsonsWilson, Woodrow Namen verbunden bleibt, als zählebig genug erweisen, um im Zweiten Weltkrieg unter gewandelten Umständen erneut aufgegriffen zu werden.

Die Konsequenzen des Ersten WeltkriegesAußenpolitikErster WeltkriegErster Weltkrieg

Präsident WilsonsWilson, Woodrow Prestige und seine hervorgehobene Stellung unter den „Friedensmachern“ in ParisParis reflektierten die relative Schwächung Europas durch einen Krieg, der fast 8 Millionen Menschenleben gekostet hatte, und den parallelen Aufstieg der Vereinigten Staaten zur Weltmacht. WirtschaftlichWirtschaft waren die USA von einem Schuldnerland zum größten Gläubigerland der Erde geworden, und geostrategisch befanden sie sich mit ihrer starken Flotte und der Kontrolle über den PanamakanalPanamakanal in einer Schlüsselposition zwischen Europa und AsienAsien. Die Gefahr, die von den Autarkieplänen der Mittelmächte, aber auch von einigen Projekten der europäischen Verbündeten für den freien Weltmarkt ausgegangen war, schien gebannt. Außerdem hatte der Krieg bewiesen, zu welch entschlossener Kraftentfaltung die amerikanische Nation im Krisenfall trotz aller ethnischen, regionalen und sozialen Unterschiede fähig war. Andererseits fanden sich die Amerikaner aber nicht bereit, im Rahmen des internationalen Systems, das aus dem Weltkrieg hervorgegangen war, eine ihrem Machtzugewinn adäquate weltpolitische Verantwortung zu übernehmen. Das trug in der Folgezeit nicht minder zur Instabilität der Versailler Ordnung bei als das ungeklärte Verhältnis der westlichen Demokratien zur SowjetunionSowjetunionZwischenkriegszeit und die komplexe Verschränkung von Reparations- und Kriegsschuldenproblematik.

 

In den USA selbst markierten die Wahlen vom November 1920, bei denen die Republikaner mit ihrem Kandidaten Warren G. HardingHarding, Warren G. einen Erdrutschsieg errangen, das Ende einer Epoche. Der Reformgeist war im Krieg weitgehend für patriotische Zwecke absorbiert, der Rest im Red ScareRed Scare erstickt worden, und die Bevölkerung sehnte sich „zurück zur Normalität“. Kriegspropaganda und Kriegsteilnahme hatten zur Festigung der nationalen Identität beigetragen; die nationalistischen Aufwallungen und die Unterdrückung von politischem Widerspruch hatten aber auch das Dilemma einer Demokratie sichtbar gemacht, die Gefahr lief, in Krisenzeiten im Innern die Prinzipien und Grundwerte preiszugeben, die sie nach außen verteidigen wollte. Das Todesurteil gegen die Anarchisten Nicola SaccoSacco, Nicola und Bartolomeo VanzettiVanzetti, Bartolomeo, das trotz internationaler Proteste nach sechsjähriger Haft im August 1927 in MassachusettsMassachusetts vollstreckt wurde, warf noch einmal ein dramatisches Licht auf dieses Dilemma.

Die Auswirkungen des Krieges auf die Struktur des amerikanischen Staates waren eher indirekter Art bzw. machten sich erst mit Verzögerung deutlich bemerkbar. Zur notwendigen zentralen Lenkung von Produktion, Versorgung und Kriegführung war 1917/18 erstmals eine moderne BürokratieRegierungssystemBürokratie aufgebaut worden. Nach Kriegsende gewann aber das Misstrauen gegen zentralisierte Regierungsmacht rasch wieder die Oberhand: Die meisten der neu eingerichteten Ämter und staatlichen Lenkungsmechanismen wurden umgehend beseitigt, die Heeresstärke und die Verteidigungsausgaben drastisch reduziert und die GeheimdiensteGeheimdienste so gut wie abgeschafft. Andererseits blieb jedoch in vielen Köpfen die Kriegsmobilisierung als Modell einer „korporativen“ Ordnung erhalten, bei der Staat, Unternehmer und GewerkschaftenGewerkschaften an einem Strang ziehen und die Bundesregierung die Richtung angibt. In der Großen DepressionGroße Depression der 1930er Jahre und mehr noch während des Zweiten WeltkriegesZweiter Weltkrieg griff man wieder auf dieses Beispiel zurück.

Der Trend zur Entstehung großer Konzerne setzte sich im Krieg fort und fand 1920 eine Bestätigung, als der Supreme CourtSupreme CourtWirtschaftspolitik in einem Aufsehen erregenden Anti-Trust-Verfahren die Entflechtung der US Steel CorporationUS Steel Corporation ablehnte. Den größten Nutzen aus der Zusammenarbeit für den militärischen Sieg zogen offenbar die Unternehmen, die ihre Profite in die Erweiterung und Modernisierung der Produktion investiert hatten. Die Rückkehr zur Friedenswirtschaft verursachte zwar eine scharfe Rezession, aber der Einbruch war nur von kurzer Dauer, und danach setzte sich die generelle Aufwärtsentwicklung fort. In der politischen Arena besaßen die Unternehmer mit den Handelskammern und Trade Associations, die nun für jeden Wirtschaftszweig existierten, effektive Instrumente der Interessenvertretung und des „LobbyismusLobbyismus“. Während der Krieg also einerseits die Weichen auf ökonomisches Wachstum und Konsum stellte, trug er andererseits auch zur Verschärfung sozialer Konflikte bei: Die GewerkschaftenGewerkschaften mussten versuchen, mit der wachsenden Macht der Unternehmer Schritt zu halten; und die Afroamerikaner, die selbstbewusster aus dem Krieg in den rückständigen SüdenSüden oder die wachsenden GhettosUrbanisierungGhettos des Nordens zurückkehrten, wollten nicht länger geduldig auf die Gewährung ihrer politischen Rechte warten.

Kapitel 6: Prosperität, Große DepressionGroße Depression und Zweiter Weltkrieg, 1921–1945

Im Vergleich zu den meisten europäischen Staaten, die der Krieg um Jahre zurückgeworfen hatte und deren Menschen mit scharfen Brüchen und revolutionären Umwälzungen konfrontiert wurden, herrschte in den USA ein hohes Maß an politischer und wirtschaftlicher Kontinuität. Dennoch gewannen auch viele Amerikaner in den beiden Jahrzehnten, die auf den Krieg folgten, den Eindruck, Zeugen geradezu revolutionärer Veränderungen zu sein. Sie erlebten eine beispiellose Phase der Prosperität, dann ab 1929 unvermittelt den Absturz in die schwerste Depression ihrer Geschichte, von 1933 bis 1937 ein dramatisches Reformexperiment im Zeichen des New DealNew Deal und ab 1938 die Zuspitzung der internationalen Krise, die in den Zweiten Weltkrieg führte. In dieser Zeit sahen sie sich drei fundamentalen Fragenkomplexen gegenüber, deren Beantwortung bestimmend für das ganze 20. Jahrhundert werden sollte: 1. Wie lässt sich eine leistungsstarke WirtschaftWirtschaft aufrechterhalten, die Wachstum, steigenden Wohlstand und soziale Sicherheit verbürgt? Was muss der Staat in dieser Hinsicht tun, und wie sollen die Kompetenzen zwischen Bundesregierung und Einzelstaaten, zwischen zentraler und lokaler Autorität am besten verteilt werden? 2. Sind die amerikanischen Traditionen – die politischen Prinzipien und die althergebrachten Lebensgewohnheiten – mit der vom technisch-wissenschaftlichen Fortschritt vorangetriebenen „Modernisierung“ vereinbar? An welche Werte können sich das Individuum oder die kleine Gemeinschaft in einer „modernen“ Gesellschaft halten, die immer unpersönlicher und anonymer zu werden droht? 3. Wie viel Verantwortung tragen die USA als stärkste Wirtschaftsmacht und potenziell stärkste Militärmacht für ihre Nachbarn und den Rest der Welt? Welche Politik ist am ehesten geeignet, dieser Verantwortung gerecht zu werden? Die Debatte über diese Leitfragen wurde in der kurzen Zwischenkriegszeit der 1920er und 1930er Jahre auf vielen Ebenen und mit einer Heftigkeit geführt, die kennzeichnend ist für kulturelle Konflikte, ja, die gelegentlich an den Zusammenprall unterschiedlicher Kulturen erinnerte.

1 Die „Goldenen Zwanziger Jahre“
Prosperität, Konsumkultur und gesellschaftlicheGesellschaftZwanziger Jahre Freiräume

In dem Klima der Ernüchterung, das sich nach den ideologischen Anspannungen der Kriegs- und frühen Nachkriegszeit in den USA ausbreitete, gewann das WirtschaftslebenWirtschaft eine überragende Bedeutung. Die Dynamik der amerikanischen WirtschaftWirtschaft und des riesigen, einheitlichen Binnenmarktes brachte nun die erste KonsumgesellschaftGesellschaftZwanziger JahreKonsumgesellschaft hervor, die auf Massenproduktion, Massenverbrauch und Massenkommunikation gegründet war. In dieser Gesellschaft, die eine große Eigenständigkeit gegenüber dem Staat behauptete, entwickelte sich ein neues Wertebewusstsein, eine Kultur des consumerism, die im individuellen Konsum den Schlüssel zur Selbstverwirklichung und zur Öffnung neuer Freiräume und Erfahrungshorizonte sah. Ökonomischer Erfolg und Geld schienen zum Maßstab aller Dinge zu werden: Schon 1920 verzeichneten amerikanische Zeitungen stolz, dass es in den USA inzwischen 20.000 Millionäre gab, darunter 162 mit einem Jahreseinkommen von mehr als einer Million Dollar. Solche Anzeichen von Reichtum und Konsumfähigkeit machten die Vereinigten Staaten – im Bewusstsein ihrer Bürger wie aus der Sicht der Europäer – zum Modell und Symbol der Moderne schlechthin: für die meisten ein Vorbild, dem es nachzueifern galt, für manche aber auch ein warnendes Beispiel, an dem man die allgemeine „Vermassung“ und den „Niedergang der Kultur“ ablesen konnte. Im DeutschlandDeutschlandBeziehungen zu Deutschland vor 1949Erster Weltkrieg der Weimarer Republik war diese ambivalente Reaktion besonders stark ausgeprägt: Während der American way of life auf der einen Seite als gleichbedeutend mit technischem Fortschritt und den Segnungen der Konsum- und Freizeitgesellschaft angesehen wurde, förderten die Erfolgsmeldungen aus den USA auf der anderen Seite tief sitzende antiamerikanische Ressentiments, wonach man es angeblich mit einer von hemmungslosem Materialismus beherrschten, kulturlosen und dekadenten Gesellschaft zu tun hatte.

Nachdem die Rezession von 1920/21 überwunden war, vollzog sich in der amerikanischen WirtschaftWirtschaft ein rasanter Aufschwung mit Vollbeschäftigung und jährlichen Wachstumsraten von etwa 5 Prozent. Das Bruttosozialprodukt war zwar in der Rezession von 90 auf unter 70 Milliarden Dollar abgesunken, 1929 lag es aber bereits wieder über 100 Milliarden Dollar. Die industrielle ProduktionFinanzwesen1860–1918, die Kapitalerträge und die Unternehmensgewinne stiegen in den 1920er Jahren um gut zwei Drittel an, und die Produktivität pro Arbeitsstunde nahm um 35 Prozent zu. Die Massenkaufkraft erhöhte sich ebenfalls, ohne allerdings mit diesem Tempo mithalten zu können: Das Realeinkommen der ArbeitnehmerArbeiterZwanziger Jahre nahm um ca. 30 Prozent zu, dasjenige der Farmer (die 1920 noch ca. 11 Millionen der 42 Millionen starken labor force ausmachten) stagnierte oder ging sogar leicht zurück. Im Außenhandel profitierten die USA von der Lebensmittelknappheit und dem generellen Nachholbedarf in Europa. Auf den lateinamerikanischenLateinamerika Märkten war es US-Unternehmen während des Krieges zudem gelungen, die deutscheDeutschlandBeziehungen zu Deutschland vor 1949Erster Weltkrieg Konkurrenz völlig auszuschalten und den britischenGroßbritannien Einfluss weiter zurückzudrängen. An der New Yorker BörseFinanzwesen1860–1918 (Stock Exchange), wo sich der Durchschnittspreis einer Aktie zwischen 1921 und 1929 fast vervierfachte, stießen Wertpapierhandel und Spekulation in neue Dimensionen vor. Der DollarDollar wurde neben dem Pfund Sterling zur Leitwährung des Welthandelssystems, und New YorkNew York City begann, LondonLondon aus der Position der führenden FinanzmetropoleFinanzwesen1860–1918 zu verdrängen. Die Bundesregierung verbesserte durch Steuersenkungen, Zollerhöhungen und andere Fördermaßnahmen die Rahmenbedingungen für das big businessWirtschaftAspektebig business. Gelegentlich führte dabei die Verflechtung von öffentlichen und privaten Interessen wieder zu spektakulären Affären wie dem Teapot Dome-SkandalTeapot Dome-Skandal, der erstmals ein Kabinettsmitglied, Präsident Warren G. HardingsHarding, Warren G. Innenminister Albert FallFall, Albert, hinter Gefängnisgitter brachte. Die RechtsprechungGesellschaftZwanziger Jahre des Supreme CourtSupreme CourtWirtschaftspolitik, an dessen Spitze nun der ehemalige Präsident William H. TaftTaft, William Howard stand, begünstigte ebenfalls die Unternehmen gegenüber den GewerkschaftenGewerkschaften, deren Mitgliederzahl von 5 Millionen 1920 auf 3,6 Millionen 1929 zurückging. Vizepräsident J. Calvin CoolidgeCoolidge, Calvin, der nach HardingsHarding, Warren G. Tod im August 1923 ins Weiße Haus einzog, und Herbert HooverHoover, Herbert, der 1928 zum Präsidenten gewählt wurde, schwammen auf einer Welle des Optimismus und der Fortschrittsgläubigkeit. Bis in die ArbeiterschaftArbeiterZwanziger Jahre hinein galten sozialistischeSozialismus Ideen als überholt und reaktionär, und die meisten Amerikaner betrachteten ihre liberal-kapitalistische Wirtschaftsordnung als richtungweisend für die Zukunft der Menschheit. Sozialreformen blieben weitgehend den Einzelstaaten überlassen, aber selbst auf dieser Ebene wirkten die Gerichte häufig als Bremsklötze. Dass der ReformimpulsGesellschaftZwanziger Jahre nicht völlig verloren gegangen war, bewies der Erfolg von Senator Robert LaFolletteLaFollette, Robert M. aus WisconsinWisconsin, der 1924 als Präsidentschaftskandidat der Progressive PartyProgressive Party immerhin fast 5 Millionen Stimmen (16,6 Prozent) auf sich vereinigen konnte.

Zur Hauptstütze der NachkriegskonjunkturWirtschaft entwickelte sich die Automobilindustrie, die andere Wirtschaftszweige wie die Elektro-, Stahl-, Mineralöl-, Chemie-, Gummi- und Glasindustrie sowie den Straßen- und Brückenbau mitzog. Zwischen 1920 und 1930 stieg die Zahl der Autos in den USA von 8 auf 23 Millionen, wobei in einem einzigen Jahr, 1929, 5 Millionen Wagen verkauft wurden. Um diese Zeit kam ein Automobil auf fünf Personen, und 80 Prozent aller Autos fuhren auf amerikanischen Straßen. Zu diesem phänomenalen Erfolg trugen Fließbandproduktion und Akkordarbeit, die erstmals bei dem legendären Ford-Modell TFord Motor Co. angewendet wurden, ebenso bei wie die sinkenden Preise (das Modell T, das 1909 für 950 Dollar verkauft worden war, kostete 1926 noch 320 Dollar bei einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 1.300 Dollar für IndustriearbeiterArbeiterZwanziger Jahre). Hinzu kamen nun die Möglichkeiten der Ratenzahlung und die Vermarktung des Autos als des „ultimate symbol of social equalityGesellschaftZwanziger Jahre“. Begleit- und Folgeerscheinungen des Autobooms, den die „drei großen“ Konkurrenten FordFord Motor Co., General MotorsGeneral Motors und ChryslerChrysler entfachten, waren unter anderem bundesstaatliche Infrastrukturverbesserungen durch den Federal Highway ActFederal Highway Act und das Bureau of Public RoadsBureau of Public Roads sowie die Einführung der Verkehrsampel durch General ElectricGeneral Electric im Jahr 1924. Die Werbung bildete jetzt eine eigene, rasch expandierende Wirtschaftsbranche, die das Automobil nicht nur zum unerlässlichen Gebrauchsgegenstand, sondern auch zu einem Kultobjekt stilisierte. Einen maßgeblichen Beitrag dazu leistete der Siegeszug neuer MedienMedien: 1920 nahm in PhiladelphiaPhiladelphia die erste kommerzielle Radiostation ihre Sendungen auf, 1926 gab es ein landesweites Rundfunknetz der National Broadcasting Corporation (NBC)National Broadcasting Corporation (NBC), 1927 zeigten die Warner Brothers den ersten abendfüllenden Tonfilm, und Anfang der 1930er Jahre liefen bereits Farbfilme. Finanziert durch große New Yorker Banken bauten Studios wie United ArtistsUnited Artists, ParamountParamount Studios und Metro-Goldwyn-MayerMetro-Goldwyn-Mayer in HollywoodHollywood bei Los AngelesLos Angeles eine UnterhaltungsindustrieGesellschaftZwanziger JahreKulturZwanziger Jahre auf, die bald weltweit tonangebend war. Diesen Firmen kam es weniger auf künstlerische Qualität und Kreativität an als auf maximalen Gewinn, aber gerade dadurch setzten sie Modetrends und beeinflussten Geschmack und Verhalten breiter Schichten. Bei einer Gesamtbevölkerung von 120 Millionen besuchten 1930 durchschnittlich 100 Millionen Amerikaner pro Woche die Kinos, die damit den KirchenKirchen (ca. 60 Millionen) den Rang abgelaufen hatten.

 

Das Bild einer Gesellschaft mit geradezu überbordender Energie und Vitalität wurde geprägt von den Metropolen über 100.000 Einwohner, die doppelt so schnell wuchsen wie die Gesamtbevölkerung, und die in den 1920er Jahren 6 Millionen Zuwanderer aus den ländlichen Regionen aufnahmen, darunter 1,5 Millionen Afroamerikaner aus dem SüdenSüden. Das löste einen gewaltigen Bauboom in den Städten aus, der – unmittelbar an der Schwelle zur Weltwirtschaftskrise – neue amerikanische Wahrzeichen wie das Chrysler Building und das Empire State Building in New YorkNew York City hervorbrachte. Mit ihrer Eleganz und der Höhe von fast 400 Metern sollten sie nicht nur notwendige Funktionen für die New Yorker Geschäftswelt erfüllen, sondern die amerikanische Modernität und Weltgeltung über den Atlantik nach Europa projizieren. Der Ausbau Manhattans zum Geschäfts- und Bankenplatz war auch ein Beleg für die zunehmende Arbeitsteilung und geographische SegregierungSegregation: Während sich die schwarze Bevölkerung zunehmend in GhettosUrbanisierungGhettos an den Rändern der Innenstädte sammelte, zogen immer mehr Weiße in die Vorstädte, deren Einwohnerzahl 5- bis 10-mal so schnell zunahm wie die der Zentren. Damit begann die für das moderne Amerika charakteristische, bis heute anhaltende „SuburbanisierungUrbanisierungSuburbanisierung“. Sie war nicht zuletzt eine Folge der Verschiebung innerhalb der ArbeiterschaftArbeiterZwanziger Jahre von den blue collar workers zu den besser verdienenden white collar workers, einer den Angestellten vergleichbaren Gruppe, die 1930 schon 14 Millionen zählte. Diese leistungsorientierte, aufstrebende Mittelschicht wollte sich von den städtischen Massen abheben und ihre Lebensqualität verbessern. Sie kannte den Wert der BildungBildungswesen und sorgte dafür, dass sich die Zahl der High School-Absolventen gegenüber der Jahrhundertwende vervierfachte. Um 1930 besuchte bereits ein Drittel dieser Absolventen ein College, und der Anteil von FrauenFrauen auf Colleges und UniversitätenUniversitäten nahm deutlich zu. Der Drang in die Vorstädte mit ihren weiträumigen Wohnvierteln und Grünanlagen entsprang auch dem Verlangen nach einer Privatsphäre, die den Einzelnen gegen staatliche Aufsicht wie gegen die Neugier der Nachbarn schützte.

In der neuen urbanen KulturKulturZwanziger Jahre, die jetzt ihre erste Blüte erlebte, spielten Freizeit und Unterhaltung eine viel wichtigere Rolle als vor dem Krieg. Erstmals verfügte eine größere Zahl von Amerikanern über genügend Muße und Geld, um sich regelmäßig Vergnügungen wie den Besuch von Filmen, Theaterstücken, Musicals und SportveranstaltungenSport oder sogar einen Urlaub leisten zu können. Gewiss entsprachen die HollywoodHollywood-Filme und der Spielbetrieb am New Yorker Broadway nicht den europäischen Ansprüchen an „hohe KulturKulturZwanziger Jahre“, aber dafür konnten sie als authentischer Ausdruck der unbeschwerten Lebensfreude eines Volkes gelten, das sich stets als „jung“ und „dynamisch“ verstanden hatte. Viele gebildete Amerikaner mochten immer noch unter einem kulturellen Minderwertigkeitskomplex gegenüber der „Alten Welt“ leiden, doch in der Breite überwog nun der Stolz darauf, dass sich die USA endlich mit einer eigenständigen, unverbrauchten und „demokratischen“ Kultur von den Europäern abheben konnten. Alle künstlerischen Aktivitäten kreisten um das Hauptthema der Zeit, das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft. Die exponierte Stellung und geradezu kultische Verehrung von HollywoodHollywood-Stars kann man als eine Antwort auf das Dilemma der „Vermassung“ und Anonymisierung in der KonsumgesellschaftKonsumgesellschaft deuten. Die gleichen psychologischen Bedürfnisse befriedigte die Filmindustrie mit dem Mythos des CowboysCowboy, der als Einzelkämpfer für Recht und Ordnung streitet und dem Guten zum Sieg verhilft. Im alltäglichen Leben identifizierte man sich mit SportidolenSport wie dem Boxer Jack DempseyDempsey, Jack und dem Baseballspieler George Herman „Babe“ RuthRuth, George Herman oder feierte Pioniere und Entdecker wie Charles A. LindberghLindbergh, Charles A., dem im Mai 1927 der ersten Non-Stop-Alleinflug über den Atlantik gelang. LindberghLindbergh, Charles A. gehörte zu den Wegbereitern eines interkontinentalen Luftverkehrs, der in den 1930er Jahren mit Zeppelinen und Flugzeugen aufgenommen wurde. Der spektakuläre Absturz der „Hindenburg“ bei Lakehurst, New JerseyLakehurst, New Jersey, setzte allerdings 1937 der regelmäßigen Luftschiffverbindung zwischen den USA und Deutschland ein Ende.

Verstädterung, Freizeitgewinn und Konsumorientierung bewirkten eine Liberalisierung der Sitten, die immer noch weitgehend von engen puritanischen Moralvorstellungen geprägt waren. Nicht ganz ohne Grund verdammten konservative Amerikaner das Automobil als ein „Bordell auf Rädern“. Mehr Bedeutung kam aber wohl der Tatsache zu, dass jetzt offener über Sexualität und Geburtenkontrolle gesprochen werden konnte als jemals zuvor und dass es leichter fiel, die öffentlich praktizierte Doppelmoral anzuprangern. Die Folgen waren, wie so oft, ambivalenter Art, denn während die sinkende Geburtenrate den Familien und insbesondere den Müttern zugutekam, löste der starke Anstieg der Scheidungsrate besorgte Fragen nach der Zukunft der Familie und dem Schicksal allein erziehender Mütter aus. Dem Trend zur Liberalisierung und zum IndividualismusIndividualismus fiel auch die ProhibitionProhibition zum Opfer, die 1919 als „Ausläufer“ der progressiven Reformära mit dem gesetzlichen Verbot der Herstellung, des Transports und des Verkaufs von alkoholischen Getränken begonnen hatte. Nach anfänglichen Erfolgen zeigte sich, dass solch strenge Vorschriften in einem urbanen Umfeld, in dem Alkoholgenuss als Privatangelegenheit galt, nicht durchgesetzt werden konnten – zumindest nicht ohne eine massive Aufstockung der Polizei und der ca. 3000 Bundesbeamten im Prohibition Bureau. Die Verbote wurden nach allen Regeln der Kunst umgangen und verhalfen noch dazu, ganz gegen die Intentionen der Reformer, dem organisierten Verbrechen zum Aufschwung und zu großen Profiten. Die Mafia bemächtigte sich neben der Prostitution und dem Glücksspiel auch des Alkoholgeschäfts, das einem der berüchtigsten Gangster, Alphonse („Al“) CaponeCapone, Alphonse „Al“, bis zu seiner Verurteilung 1931 pro Jahr etwa 100 Millionen Dollar Gewinn eingebracht haben soll. In ChicagoChicago, wo Al CaponeCapone, Alphonse „Al“ sein Hauptquartier aufschlug, wurden in dieser Zeit Jahr für Jahr mehr Morde verübt als in ganz England zusammen. Da die Prohibition offenkundig ein Klima der Gewalt und Gesetzlosigkeit erzeugte, setzten mehrere Einzelstaaten schon während der zwanziger Jahre ihre Durchführungsbestimmungen wieder außer Kraft. Im politischen Kampf der „Trockenen“ (Reformer) gegen die „Feuchten“ (Anhänger einer Liberalisierung) gewannen schließlich Letztere bundesweit die Oberhand und erreichten 1933 mit dem 21. Amendment die Aufhebung der ProhibitionProhibition, die vierzehn Jahre zuvor mit dem 18. Amendment eingeführt worden war. Damit fand das „noble Experiment“ ein unrühmliches Ende, das viele Amerikaner in der Überzeugung bestärkte, der Staat habe kein Recht dazu, die Moral seiner Bürger zwangsweise zu heben. Für entschiedene Reformer bedeutete das eine ähnliche Enttäuschung wie die kaum spürbare Auswirkung des FrauenwahlrechtsWahlrechtFrauen, von dem sie sich eine ganz neue, bessere Politik versprochen hatten.

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