Grund und Grenzen eines Marktwirtschaftsstrafrechts

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6. Affirmation marktwirtschaftlicher Regeln

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Affirmative Bekenntnisse zur Sozialen Marktwirtschaft haben sich seit jeher zumindest einer kritischen Reflexion zu unterziehen. Eine solche hat dabei in jedem Fall die Qualität der Sozialen Marktwirtschaft selbst und im Vergleich zu anderen Wirtschaftsordnungen differenziert zu hinterfragen und besonders angesichts der jüngsten weltweiten Finanzkrise eine vollumfängliche Katharsis des wirtschaftlichen Wettbewerbs anzustreben. Wird der Sozialen Marktwirtschaft gar ein Wesenskern unterstellt, aus dessen Werten und Anschauungen Konsequenzen für andere Gesellschaftsbereiche abgeleitet werden, tritt neben die Verpflichtung zur Selbstkritik sowohl der Hinweis auf einen naiven Essentialismus als auch die Aufforderung zur Normativierung des vorgenommenen Schlusses vom Sein auf das Sollen.

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Das Marktwirtschaftsstrafrecht knüpft an der vorgefundenen Wirtschaftsordnung an, untersucht diese auf Regelstrukturen und definiert einige davon als strafschutzwürdig. Warum die Soziale Marktwirtschaft bzw. ihre Grundregeln strafrechtlichen Schutz genießen sollten, ist daher eine berechtigte Frage. Grundsätzlich kann aus der Existenz einer bestimmten Sache oder dem Ablaufen eines Prozesses auf eine bestimmte Art und Weise nicht darauf geschlossen werden, dass es „gut“ oder „richtig“ ist, dass die Sache existiert oder der Prozess gerade auf diese Weise abläuft[309]. Oftmals wird es vielmehr so sein, dass von einem bestimmten Seinsurteil auf ein erwünschtes Sollen geschlossen wird. Das Marktwirtschaftsstrafrecht nimmt die vorgefundene Wirtschaftsordnung zur Grundlage seiner ökonomischen Betrachtungen und strafrechtlichen Bewertungen, ohne die Soziale Marktwirtschaft[310] hinsichtlich ihrer Existenzberechtigung zu hinterfragen. Ausgangspunkt seiner Betrachtungen ist also die „tatsächliche Verfasstheit der Gesellschaft“[311]. Seine Berechtigung findet dieses Vorgehen im Verständnis der Wirtschaftsordnung als Fortsetzung gesellschaftlicher Grundentscheidungen im ökonomischen Bereich.

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So kommen in einer Wirtschaftsordnung nicht nur rein wirtschaftliche Prinzipien zum Ausdruck, sondern auch sozialethisch-philosophische Grundansichten von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, weshalb in wirtschaftlichen Handlungschancen nicht bloß ideelle Werte zu sehen sind.[312] Vielmehr verkörpern sie „fundamentale Funktionsbedingungen“ des sozialen Miteinanders, deren Negation zu schweren und „tiefgreifende(n) Erschütterung(en)“ des gemeinschaftlichen Lebens und seiner Bedingungen führen würde.[313] Das wettbewerbliche Streben nach (wirtschaftlichen) Erfolgen und das dabei erforderliche „Mit- und Gegeneinander“ ist damit zu einem Faktor geworden, der nicht nur für unsere Wirtschaftsordnung, sondern auch für die Ordnung der gesamten Gesellschaft konstitutiv wirkt.[314] Die Wahl der Sozialen Marktwirtschaft als Wirtschaftsordnung war und ist jedoch nicht nur Ausdruck einer bestimmten gesellschaftlichen Anschauungsweise und Wertbestimmung, sondern einer „umfassende(n) wirtschafts- und sozialpolitische(n) Leitidee“[315], welche auf die Gesellschaft zurückwirkt. Die Identität unserer Gesellschaft wird in starkem Maße von ökonomischen Bedingungen und Einflüssen geprägt.

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Während religiöse oder politische Werte in einer pluralistischen Gesellschaft höchst unterschiedlich sein können, haben alle Gesellschaftsmitglieder einen mehr oder minder stark ausgeprägten Bezug zu wirtschaftlichem Erfolg und damit der Wirtschaftsordnung selbst. Die gegenwärtige Gesellschaft definiert sich wesentlich stärker über die gemeinschaftlichen ökonomischen Bedingungen als über einheitliche Glaubenssätze, Kulturnormen oder sonstige Gemeinsamkeiten.[316] Wird das Wesen einer spezifischen Gesellschaft jedoch nicht nur durch gemeinsame Kulturnormen geprägt, sondern ebenso von ökonomischen Regeln, die „echte Gemeinsamkeiten und moralische Werte generieren“, muss auch das Strafrecht an diesen anknüpfen, um das gedeihliche Zusammenleben und damit die gesellschaftliche Identität zu garantieren.[317] Identifiziert sich eine Gesellschaft so wie die unsere stark über die Ökonomie, ist es daher notwendig, ihre wirtschaftlichen Grundlagen auch entsprechend strafrechtlich abzusichern, da der Zusammenhalt einer solchen Gesellschaft „nicht zuletzt von gelingenden Kooperationen im ökonomischen Bereich abhängt“[318]. Mithin müssen die Regeln der Wirtschaftsordnung, welche trotz der stets gegenwärtigen Konkurrenzsituation bestehen, eingehalten werden, damit das System der Marktwirtschaft funktionieren kann und die Gesellschaft ihre wesensmäßigen Züge behält.

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Werden der Sozialen Marktwirtschaft wesensmäßige Züge zugeschrieben, kommt darin auch ein gewisser Essentialismus zum Ausdruck, der voraussetzt, dass es ein Wesen einer Wirtschaftsordnung gibt, welches sich in bestimmten Grundregeln ausdrückt.[319] Grundsätzlich ist es opportun, solch nahezu idealistischen Annahmen mit Zweifeln zu begegnen, doch ist im Fall der Sozialen Marktwirtschaft ein essentialistisches Vorgehen durchaus angebracht. Die Soziale Marktwirtschaft ist das Ergebnis eines über einen langen Zeitraum unter der Beteiligung vieler Wissenschaften durchgeführten Denk- und Entwicklungsprozesses. Die Stunde Null nach Ende des Zweiten Weltkriegs ermöglichte die bewusste Einführung eines Wirtschaftskonzepts, das in seiner Werthaftigkeit weit über die Zustimmung zu bloßem unternehmerischen Wettbewerb hinausging. Kaum ein anderes Land kann auf eine derart enge Verknüpfung der „gesellschaftliche(n) und (…) politische(n) Nachkriegsordnung (…) mit der wirtschaftlichen Ordnung“ verweisen wie die Bundesrepublik, welche sich als Ganzes in einzigartiger Weise über ihre Wirtschaftsordnung beschreibt.[320]

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So wurde und wird in der Sozialen Marktwirtschaft die Wirtschaftsordnung gesehen, in welcher die beste Möglichkeit zur Herstellung eines einer freiheitlichen Gesellschaft dienlichen Wirtschaftssystems liegt.[321] Die Legitimation der Sozialen Marktwirtschaft erfolgt nicht durch „faktische Gegebenheiten“, sondern findet ihre Rechtfertigung „durch ihre Adäquatheit mit einem Menschen- und Gesellschaftsbild (…), das den einzelnen vorökonomisch oder vorstaatlich als Träger von Grundfreiheiten“ versteht.[322] Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft wurde damit auf ein Fundament individueller und gesellschaftlicher Bedürfnisse gebaut, wodurch ihre Grundregeln feststehende Wert- und sozialethische Grundentscheidungen[323] enthalten, die so lange unverrückbar sind wie an der Entscheidung für wirtschaftlichen Wettbewerb festgehalten werden soll. Da die Soziale Marktwirtschaft also eine „Erfindun(g) des menschlichen Geistes“[324] ist und nicht nur bloß zufällig existierende Gegebenheit, verfügt sie über einen Wesenskern, der zum Ausgangspunkt weiterer Ableitungen genommen werden kann. Ein geradezu naiver Essentialismus liegt dem Marktwirtschaftsstrafrecht damit also nicht zugrunde.

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Da in der Wahl einer Wirtschaftsordnung jene in einer Gesellschaft vorhandenen Fundamentalentscheide zum Ausdruck kommen, welche „in der jeweiligen Sozietät vorstrafrechtlich gültig sind“[325], können aus einer das Wesen der Sozialen Marktwirtschaft berücksichtigenden Definition ihrer Merkmale Regeln abgeleitet werden, deren Verletzung auch der strafrechtlichen Sanktionierung bedürfen.[326] Den Ausgangspunkt bildet dabei die Maßgabe, dass jede wirtschaftliche Betätigung mit den Prinzipien der Wirtschaftsordnung vereinbar sein muss. Mit dieser Feststellung wird jedoch auch ein das Fundament der Sozialen Marktwirtschaft bildendes Regelgeflecht[327] sichtbar, welches diese Wirtschaftsordnung von anderen Formen des Wettbewerbs unterscheidet.

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Bereits Adam Smith betonte, dass der wirtschaftliche Wettbewerb weder Krieg noch Kampf sei, sondern eine Konkurrenz nach Regeln, wobei deren Einhaltung faires Verhalten ausmache.[328] Gleichwohl konstituieren die den Wettbewerb in seiner Gesamtheit prägenden Regeln nicht nur die Wirtschaftsordnung, sondern konkretisieren diese insofern, als für alle Wirtschaftssubjekte geltende Regeln nicht zu deren Disposition stehen, sondern Teil der Wirtschaftsordnung selbst sind[329]. So geht der Wettbewerb zu allererst von der Maxime aus, dass jedes Wirtschaftssubjekt über die gleichen Chancen verfügt.[330] Die Notwendigkeit der Chancengleichheit stellt jedoch nicht nur dort ein tragendes Prinzip dar, sondern zeigt auch im Rahmen der marktwirtschaftsimmanenten sozialen Korrekturen seinen grundlegenden Charakter für die gesamte Wirtschaftsordnung.

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Neben diese bereits den Ausgangspunkt wirtschaftlicher Betätigung bildende Chancengleichheit tritt die Notwendigkeit eines fairen Wettbewerbs, weshalb Fairnessregeln sicherstellen sollen, dass allein das Kriterium der Leistungsstärke für den Erfolg maßgebend ist.[331] Deshalb dürfen die Wirtschaftssubjekte nicht zu jeder erfolgsverheißenden Form von Wettbewerbsverhalten greifen, sondern nur durch echtes Wettbewerbsverhalten auch Nachteile für ihre Konkurrenten schaffen, nicht aber deren wettbewerbliche Position auf andere Weise schwächen[332]. Ausdruck der Chancengleichheit ist also auch die Pflicht zur Fairness im Wettbewerb.[333] Insgesamt ist es jedoch nicht möglich, die Regeln des Wettbewerbs in positiver Weise zu beschreiben, vielmehr können nur unerwünschte oder mit den Grundprinzipien unvereinbare Verhaltensweisen in allgemeiner und abstrakter Weise negativ erfasst werden.[334]

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Während die Regel, die Chancengleichheit aller Wirtschaftssubjekte nicht zu beeinträchtigen oder den Wettbewerb allein mit fairen Mitteln zu bestreiten, als erster Orientierungspunkt für die Bewertung eines Verhaltens dienen kann, wird die für den Einzelfall relevante Regelstruktur erst durch eine Analyse der für diesen Regelungsbereich geltenden Regeln sichtbar. Da sich diese jedoch aus dem spezifischen ökonomischen Fairnessgedanken und der marktwirtschaftlichen Chancenstruktur ergeben, lassen die wirtschaftlichen Regelstrukturen das Wirtschaftsgeschehen nicht nur erfassbar erscheinen, sondern bieten auch einen Grund für einen „materielle(n) Verbrechensbegriff des modernen Wirtschaftsstrafrechts“[335], da ihre Verletzung extrem sozialschädliche Folgen für die konkrete Wirtschaftsordnung mit sich bringen kann[336]. Dafür werden jedoch nur solche Regeln herangezogen, „die eine für die Form des sozialen Miteinanders signifikante Praxis konstituieren“, weil sie typischerweise Ausdruck des der Wirtschaftsordnung zugrundeliegenden chancengleichen und fairen Wettbewerbs sind[337]. In ihnen kommen also nicht nur vorläufige oder kurzlebige Interessen bestimmter Gruppen oder politischer Strömungen zum Ausdruck, sondern fundamentale Funktionsbedingungen mit einem evidenten sozialethischen Wert.[338] Aufgrund der Bedeutung der Spielregeln des Wettbewerbs sind sie auch keinen schwankenden wirtschaftsmoralischen Anschauungen[339] ausgesetzt, weshalb sie einer dauerhaften Orientierung dienen können. Diesen dauerhaften Anknüpfungspunkt bilden die Regeln der Sozialen Marktwirtschaft auch für ein strafwürdigkeitsbestimmendes Regelmodell, welches, konsequent durchgeführt, die Grenzen der Strafbarkeit im Einklang mit der ökonomischen Wirklichkeit bestimmen und so das verwirklichte Unrecht allgemein deutlich machen kann.[340]

 

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Die Berechtigung des Marktwirtschaftsstrafrechts zum Schutz der vorgefundenen Wirtschaftsordnung lässt sich also aus der Verwurzelung der Sozialen Marktwirtschaft in den gesellschaftlichen Grundentscheidungen ableiten. Gleichwohl wurde das System der Sozialen Marktwirtschaft durch die weltweite Finanzkrise der jüngsten Vergangenheit zumindest hinsichtlich seiner praktischen Umsetzung erneut in Frage gestellt[341]. Dabei wurden die gängigen Kritikpunkte „Korporatismus, Reformunwilligkeit und mangelnde Anpassungsfähigkeit“, welche die Soziale Marktwirtschaft besonders im Systemwettbewerb nicht selten „zum Auslaufmodell degeneriert(en)“[342], um krisenverursachte Grundsatzfragen bezüglich des Wettbewerbsprinzips und mangelnder (sozialer) Schutzinstrumente ergänzt. Dabei wurde die im Zuge der Finanzkrise breit angelegte Wettbewerbskritik auch genutzt, um bereits lange Zeit existierende soziale Fragestellungen ins Feld politischer Diskussionen zu führen.

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Rückblickend scheinen sich die Warnungen vor zu viel Freiheit des Wettbewerbs bestätigt zu haben.[343] Unabhängig davon, welche Zusammenhänge genau die Finanzkrise ausgelöst haben oder wie ihre Wiederholung vermieden werden kann[344], ist ein tatsächliches Abweichen vom Wettbewerbsprinzip keine Option für die Zukunft des ökonomischen Kooperierens. Weil sich das „Wetteifern und Kooperieren“ der Gesellschaftsmitglieder in der Gesellschaft auch in der Wirtschaft widerspiegelt und umgekehrt der Leistungswettbewerb zu einem kompetitiven gesellschaftlichen Leben führt[345], ist eine wettbewerbsfreie Wirtschaftsordnung in Deutschland undenkbar. So verwundert es nicht, dass Alternativen zum unternehmerischen Wettbewerb seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht ernsthaft in Erwägung gezogen werden[346]. Als „praktikable Wirtschaftsordnung“ hat sich die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland unbestrittenermaßen durchgesetzt.[347] Gleichwohl gehen ihre Kritiker seit jeher aus zwei verschiedenen Lagern hervor, fordern die Einen doch in marktskeptischer Weise stärkere staatliche Eingriffe und weniger Deregulation, während die Gegenseite marktbefürwortend weniger staatliche Lenkung sowie „wirtschaftliche Freiheitsrechte und die Eigenverantwortung des Einzelnen betont“.[348]

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Die Frage nach Maß und Mitte bei Auswahl und Gestaltung einer Wirtschaftsordnung ist leicht gestellt, doch erfordert ihre Beantwortung eine umfassende Berücksichtigung von Werten, die nicht nur materieller, sondern auch geistiger Art sind, weil die wirtschaftliche Ordnung eng mit den „Ideale(n) der menschlichen Freiheit und der persönlichen Würde“ verbunden ist.[349] So erfordern und bedingen sich demokratisch-menschliche Freiheit und eine freiheitliche Wirtschaftsordnung gegenseitig, womit der „Gedank(e) der Freiheit (von der Sozialen Marktwirtschaft) zur Grundbedingung der Sozialverfasstheit einer Wirtschaftsordnung“ funktionalisiert wird.[350] Daher kann es einen Abschied vom ökonomischen Wettbewerb nicht geben, weshalb vor allem die Wirtschaftspolitik altbekannte Lehren und jüngst durchlebte Probleme in Erkenntnisse und Handlungsanleitungen umsetzen muss. Als Orientierung kann dabei eine Rückbesinnung auf die Werte und Grundregeln der Sozialen Marktwirtschaft dienen, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs das Gerüst des erwünschten Idealzustands einer Wirtschaftsordnung bildeten.[351] Unumgänglich ist dabei allerdings, diese Ideen vor dem Hintergrund der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen zu reflektieren.

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Das Anliegen der Sozialen Marktwirtschaft im Sinne einer Kombination „allokativer Effizienz mit sozialen Gerechtigkeitsvorstellungen“ erfüllt grundsätzlich alle Voraussetzungen, die eine Wirtschaftsordnung in einem demokratischen Staat erfüllen muss.[352] Hinzu kommt, dass die große Gestaltungsfreiheit der Sozialen Marktwirtschaft, welche auf ihrer Eigenschaft als Gesellschaftsordnung beruht, ihre Attraktivität besonders für dynamische Gesellschaften entfaltet, weil sie sich flexibel an verändernde gesellschaftliche Bedürfnisse und wirtschaftliche Entwicklungen anpassen kann.[353] Gelingt es also trotz notwendiger Isolierung einzelner Problemfelder eine ganzheitliche Betrachtungsweise notwendiger wirtschaftlicher Ordnung zu erreichen, „kann die der Sozialen Marktwirtschaft zugrundeliegende humanistisch-sittliche Sicht von Mensch, Wirtschaft und Gesellschaft (…) auch in Zukunft“[354] als Leitbild dienen. Obwohl zukünftig mit stärkeren ordnungspolitischen Begrenzungen zu rechnen ist, bleibt der funktionierende Wettbewerb nicht nur „essentieller Bestandteil“ der Sozialen Marktwirtschaft, sondern auch ihr „tragendes Grundprinzip“[355]. Gleichzeitig ist der marktwirtschaftliche Wettbewerb Ausdruck des allgemeinen Wertekonsenses der Gesellschaft über die in „denkbar größtem Umfang der freiheitlich demokratischen Grundordnung“ gerecht werdende Form des Güter- und Dienstleistungsaustauschs.[356]

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Da sich das Wirtschaftsstrafrecht an den real existierenden wirtschaftlichen Gegebenheiten orientiert, kann es seinen Beitrag zur Vermeidung „ökonomischer Verwerfungen“ allein durch die Absicherung der „Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft“ leisten.[357] Den marktwirtschaftlichen Regeln strafrechtlichen Schutz zukommen zu lassen, ist dabei zwar keine zwingende Konsequenz des rechtlichen Umgangs mit wirtschaftlichen Gegebenheiten, stellt aber die Grundentscheidung des Marktwirtschaftsstrafrechts dar. Diese Positionierung des Marktwirtschaftsstrafrechts basiert einerseits auf der enormen Bedeutung ökonomischer Aktivität für die Gesellschaft, in der wirtschaftliches Handeln „nicht mehr das Privileg einer gesellschaftlichen Minorität“ ist, sondern ein immenser Teil „unseres sozialen Lebens“[358]. Andererseits setzt das Marktwirtschaftsstrafrecht die Wertungen einer Wirtschafts- und Rechtsordnung fort, welche, weil sie die ökonomische Betätigung des Einzelnen anerkennt, dafür auch strafrechtlichen Schutz gewährleisten muss.[359]

Teil 2 Begriff des Marktwirtschaftsstrafrechts › IV. Umfang des Marktwirtschaftsstrafrechts

IV. Umfang des Marktwirtschaftsstrafrechts

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Das Marktwirtschaftsstrafrecht ist deutlich begrenzt, weil die Abhängigkeit vom Wirtschaftssystem seinen Umfang determiniert. Auswirkungen hat dies auf die Stellung des Marktwirtschaftsstrafrechts im Strafrecht insgesamt, aber auch auf die Art der Delikte, die es legitimieren kann.

Teil 2 Begriff des Marktwirtschaftsstrafrechts › IV › 1. Abhängigkeit vom Wirtschaftssystem und Verortung in der Rechtsordnung

1. Abhängigkeit vom Wirtschaftssystem und Verortung in der Rechtsordnung

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Der Umfang des Marktwirtschaftsstrafrechts wird vor allem von seiner Bindung an das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft sowie seiner Verortung innerhalb der Rechtsordnung gekennzeichnet. Während einerseits seine Ausrichtung auf eine bestimmte Wirtschaftsordnung seinen Wirkungskreis limitiert, entscheidet seine Positionierung im Strafrecht über die Formen des Fehlverhaltens, die überhaupt in den Zugriffsbereich des Marktwirtschaftsstrafrechts fallen. Schon die Begriffsbildung hat gezeigt, dass Marktwirtschaftsstrafrecht allein an das System der Sozialen Marktwirtschaft und damit an eine ganz konkrete Wirtschaftsordnung anknüpft. Zwar lässt sich der Grundgedanke des Marktwirtschaftsstrafrechts – dass die fundamentalen Regeln einer Wirtschaftsordnung Anknüpfungspunkt für die Legitimation wirtschaftsstrafrechtlicher Normen sein können – auf andere ökonomische Systeme übertragen, doch kann das Modell nicht ohne entsprechende Anpassungsmaßnahmen übernommen werden. In systemischer Hinsicht ist das Marktwirtschaftsstrafrecht streng an die existierende Wirtschaftsordnung gebunden, weil es sich inhaltlich vollkommen an der Sozialen Marktwirtschaft orientiert. Mithin gibt diese als normative Grundordnung für alles wirtschaftliche Handeln dem Strafrecht durch ihre Prinzipien die Grenzen wirtschaftlichen Handelns vor[360]. Durch die Bindung an die Wirtschaftsordnung eröffnet sich dem Marktwirtschaftsstrafrecht auch die Möglichkeit, sich den Veränderungen des Wirtschaftslebens anzupassen, ohne seine dogmatische Anknüpfung zu verlieren. Zwar orientiert sich das Marktwirtschaftsstrafrecht an den Ideen, die bereits im Zeitpunkt der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft ihren Grundstein bildeten, doch sind diese derartig wesensprägend, dass sie auch bei Veränderungen des Wirtschaftslebens unverändert bestehen bleiben und dem Strafrecht als Orientierung dienen können. Einzelne Vorgänge und Institutionen des Wirtschaftslebens bauen zwar auf diesen Grundstrukturen und Regeln auf, können bzw. müssen ihre spezifische Ausprägung der Entwicklung zeitlicher Einflüsse und Bedingungen angepasst ändern[361]. Dagegen sind die grundlegenden Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft derart immanent, dass ihr Bewahren zugleich das Bestehen der Sozialen Marktwirtschaft bedeutet, ihr Wegfall also mit der Wahl einer anderen Wirtschaftsordnung gleichzusetzen ist.

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So, wie die Bezeichnung Marktwirtschaftsstrafrecht eine wirtschaftliche Orientierung verdeutlicht, betont sie auch, um welches Rechtsgebiet es sich dabei handelt. Marktwirtschaftsstrafrecht ist ein Teilgebiet des Wirtschaftsstrafrechts, das in einer grafischen Darstellung als eine Teilmenge des letzteren abgebildet werden müsste. Während ein großer Teil des Wirtschaftsstrafrechts hinreichend über die Verletzung oder Gefährdung eines Rechtsguts legitimiert werden kann, stellt das Marktwirtschaftsstrafrecht einen Teilbereich dar, der zur Bestimmung der Strafwürdigkeit auf die Verletzung von Regeln abstellt. Strafrechtliche Normen, die wirtschaftliches Fehlverhalten sanktionieren, müssen vielfältige strafwürdige Störungen ökonomischer Interaktion erfassen können. Die Aufgabe, die marktwirtschaftliche Chancenstruktur zu erhalten und wirtschaftliche Koordination und Kooperation hinsichtlich ihres fairen Ablaufs strafrechtlich abzusichern, löst das Marktwirtschaftsstrafrecht über eine Annäherung der strafrechtlichen Steuerungslogik an die Gesetzmäßigkeiten der Sozialen Marktwirtschaft. Statt die vorgefundene Regelstruktur der Sozialen Marktwirtschaft in das Korsett der Rechtsgutslehre mit all ihren Bedingungen, Bedürfnissen und Einschränkungen zu zwingen, übernimmt das Marktwirtschaftsstrafrecht diese Regeln unverändert als Kriterien zur Beurteilung der Strafwürdigkeit.

Teil 2 Begriff des Marktwirtschaftsstrafrechts › IV › 2. Legitimierbare Delikte

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