Internationale Beziehungen

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Die wichtigsten globalen Trends und Entwicklungen vom Wiener Kongress bis zum Ersten Weltkrieg


Globale Trends beschreiben dynamische Prozesse und langfristige Entwicklungstendenzen, die sich anhand ihrer Auswirkungen und tiefgreifenden Veränderungen auf die internationalen Beziehungen nachvollziehen lassen. Die Entwicklungen vom Wiener Kongress bis zum Ersten Weltkrieg prägten sowohl die nationalstaatliche als auch die zwischenstaatliche Ebene.
zwischenstaatliche EbeneZeitRaum
Territoriale nationalstaatliche ExpansionFlächenstaaten entstehenTerritoriale Expansion und Ausweitung der Territorien: Vereinnahmung neuer Gebiete und VölkerGrenzkonflikteab Mitte 18. Jahrhundertab 19. JahrhundertRussland, China, USA,Frankreich unter NapoleonGroßbritannien
Verbreitung unabhängiger Verfassungsstaaten und nationalstaatliche EinigungVerfassungsbewegungen, innerstaatlicher Strukturwandel, Zentralisierung von HerrschaftHerausbildung souveräner Staaten: Forderung nach nationaler Selbstbestimmung und Unabhängigkeit von anderen Staatenerste Hälfte 19. JahrhundertLateinamerika,Europa(darunter nationalstaatliche Einigung in Italien und dem Deutschen Reich)
Industrielle RevolutionLebensweltliche Änderungen durch die Dynamisierung ökonomischer Prozesse & durch voranschreitende Industrie und InfrastrukturAußenbeziehungen der Nationalstaaten werden durch technischen Vorsprung & Innovation geprägt: Industrialisierte Nationalstaaten nehmen Führungsrollen in der Weltpolitik einzweite Hälfte 19. Jahrhundertzuerst: Großbritannien, Belgien, Deutschland, Frankreichdann:USA, Japan
Gemeinsame Effekte der drei TrendsGeopolitischer Wandel (1860–1870): Größere strategische Bedeutung des Balkans, des Nahen und Mittleren Ostens und VorderasiensMitglieder des Wiener Kongresses treten in Konflikt miteinander
Nationalstaatliche Strategien der Kolonialmächteab Mitte 19. JahrhundertEuropa,Afrika und Asien

Die wichtigsten globalen Trendsglobale Trends und Entwicklungen vom Wiener Kongress bis zum Ersten Weltkrieg

Territoriale nationalstaatlichNationalstaate Expansion

Die massive Expansion Frankreichs unter Napoleon ist für Europa ungewöhnlich, stellt ansonsten aber einen globalen Trend der Zeit dar, mit dem Unterschied, dass Frankreich bestehende staatliche Gebilde vereinnahmt. Dies wird auf den globalen Landkarten, Tafel IV und V (S. 424–427), deutlich. Fast alle Staaten expandierten territorial ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Russland und China weiteten ihre Territorien ab Mitte des 18. Jahrhunderts massiv aus, ab Mitte des 19. Jahrhunderts beobachten wir diesen Prozess auch für die USA, und in gewisser Hinsicht auch für Deutschland und Italien mit den Einigungsbestrebungen ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Landnahme setzt sich insbesondere ab 1850 fort mit der kolonial-überseeischen Expansion Großbritanniens und Frankreichs, gefolgt von Belgien, Deutschland, Italien in Afrika und Asien und Japan in Ostasien. Andere Staaten – wie die USA, Deutschland und Russland – expandieren kontinental. Insgesamt lässt sich eine territoriale Expansion, verbunden mit der Entstehung von FlächenstaatenEntstehung von Flächenstaaten, in einem globalen Maßstab beobachten.

Das Territorium Chinas verdoppelte sich innerhalb von 60 Jahren. Ausgehend von den Kernprovinzen des Mandschu-Reiches im 17. Jahrhundert, kamen 1697 zunächst die Mongolei, dann Tibet (1724) und schließlich Sinkiang dazu (1757). Verschiedene außerchinesische Staaten waren dem Mandschu-Kaiser gegenüber tributpflichtig, wie Korea, Annam (das heutige Vietnam), Nepal, Myanmar und sogar Teile Westindiens.

Russland erweiterte sein Territorium sukzessive in Richtung Süden und Osten. Die ersten Gebietserweiterungen bis an den Pazifik hatten sich bereits bis 1650 vollzogen. In den 100 Jahren zwischen 1720 und 1820 schob sich das russische Reich von Moskau bis ans Schwarze Meer vor und umfasste Teile Polens. Der Südosten wurde innerhalb von 70 Jahren ab 1822 nach mehreren Kriegen mit dem Osmanischen Reich in den russischen Herrschaftsbereich integriert und erstreckte sich nun bis nach Afghanistan. Die Grenzen im Südwesten bildeten Sinkiang (das heutige uighurische, autonome Gebiet Xinjiang in China), die Mongolei und die Mandschurei.

Das Territorium der USA vergrößerte sich zwischen 1815 und 1889 durch systematische Gebietserwerbungen von den ursprünglich 13 Staaten an der Ostküste bis zur Westküste. Den Startschuss für diese Expansion gab das Ende der Kriegshandlungen zwischen Großbritannien und den USA 1814. Die US-kanadische (britisch-nordamerikanische) Grenze wurde in zwei Grenzverträgen 1818 und 1846 festgelegt. Unterbrochen wurde diese Expansion lediglich durch den amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865), während dessen sich die Südstaaten über die Frage der Sklaverei von den Nordstaaten abspalteten.

Großbritannien vollzog im selben Zeitraum, begünstigt durch die Konzentration der anderen Mächte auf ihr kontinentales Umfeld, eine nahezu ungehinderte Expansion im überseeisch-kolonialen Raum. Mit der Kolonialisierung Indiens, Kanadas, Australiens und Neuseelands legte es die Grundlagen des modernen Empires. Insgesamt entstanden also nicht nur größere, sondern an den Rändern dieser Flächenstaaten auch mehr Nationen.

In Folge dieser Expansion kam es nicht nur zur Vereinnahmung ganzer Völker, sondern auch zu einer Reihe von Grenzkonflikten, die alleine dadurch entstehen konnten, dass Gemeinwesen sukzessive aneinander grenztenEntstehung neuartiger Grenzkonflikte.

NationalstaatlicheNationalstaat Entwicklung und die Verbreitung unabhängiger Verfassungsstaaten

Internationale Beziehungen waren zwischen 1815 und 1919 durch einen aufkommenden Nationalismus geprägt, der einen fundamentalen innerstaatlichen StrukturwandelInnerstaatlicher Strukturwandel: Nationalismus und Volkssouveränität innerhalb der Staatenlandschaft nach sich zog. Zwar gab es Nationalismus auch schon vor der amerikanischen und französischen Revolution, aber er war auf kleine Gruppen oder Eliten beschränkt. Jetzt nahm er Massencharakter an. Die Bedeutung des Nationalismus lag darin, dass er, so Erbe (2004: 83), alle anderen existierenden Gruppenbindungen, wie feudale Bindungen, die Bindung an einen Stand, eine Landschaft, ein Dorf oder eine Dynastie überformte. Daraus entsprang die Idee der Volkssouveränität. Die Ideen der Freiheit und bürgerlichen Rechte, der Nation und nationalen Selbstbestimmung der amerikanischen und französischen Revolutionen wirkten sich unmittelbar auf die Verfasstheit der Staaten aus. Das 19. Jahrhundert war „ausgefüllt vom Kampf zwischen den Prinzipien der VolkssouveränitätVolkssouveränität und des Selbstbestimmungsrechts auf der einen und von der Idee des Gottesgnadentums des Monarchen auf der anderen Seite“ (Erbe 2004: 84). Ausgelöst durch die Revolutionen von 1830 und 1848 in Westeuropa einerseits und als Nebeneffekt des Kampfes gegen die Napoleonische Herrschaft andererseits sind überall in Europa, an den Grenzen des Osmanischen Reichs und in Lateinamerika jeweils neue, unabhängige Staaten zu beobachten.

Die Effekte dieses Strukturwandels zeigten sich besonders in zwei Regionen: in Lateinamerika und in Europa, hier vor allem in Ost- und SüdosteuropaGeographische Ausbreitung von Verfassungsbewegungen.

In Lateinamerika führten nationalistische und verfassungsrechtliche BewegungenVerfassungsbewegung (19. Jh.) zur DekolonisationKolonialisierungLateinamerika beziehungsweise Unabhängigkeit. Nach dem Vorbild der USA emanzipierten sich die portugiesischen und spanischen Kolonien unter Führung von Simón Bolivar von ihren europäischen Herrschern.Lateinamerika: Dekolonisation Allerdings folgten die Unabhängigkeitserklärungen nicht direkt aus der amerikanischen Revolution. Erst die Machtübernahme Madrids durch Napoleon im Jahre 1808 lockerte den Zugriff Spaniens auf seine Kolonien und ermöglichte die Unabhängigkeit des südamerikanischen Kontinents. Argentinien erklärte 1810 seine Unabhängigkeit. Bis 1825 waren die ehemals spanischen und portugiesischen Kolonien des südamerikanischen Kontinents selbstständige Staaten. Großbritannien und Frankreich unterstützten die Unabhängigkeit dieser Staatengruppe aus dem Interesse heraus, die Herrschaft Spaniens auf dem Kontinent zu beenden. Ähnlich zum Wiener Kongress etablierten die neuen Regierungen in Lateinamerika 1826 den Kongress von Panama als regionale Institution zur Regelung zwischenstaatlicher Angelegenheiten.

Der Kongress von Panama

Der Kongress von Panama stellte das erste System kollektiver Sicherheit dar und von ihm gingen später wesentliche Impulse für das Prinzip der Streitschlichtung des Völkerbunds aus. Anders als der Wiener Kongress verstand sich der Kongress von Panama als ein gegen äußere Angriffe gerichtetes System, das sich dem Schutz der Demokratie gegen die Interventionspolitik des Wiener Kongresses verschrieb. Die lateinamerikanischen Staaten fürchteten, dass die in der Quadrupelallianz vereinigten Mächte die Interventionspolitik des Wiener Kongresses auch gegenüber ihren Kolonien durchsetzen würden.

 

In Europa fördern VerfassungsbewegungenVerfassungsbewegung (19. Jh.) die nationale Selbstbestimmung und Unabhängigkeit vieler StaatenEuropa und Balkan/Südosteuropa: Staatliche Unabhängigkeit. Belgien erlangte in dieser Zeit die Unabhängigkeit von den Vereinigten Niederlanden. In Deutschland, Polen, Ungarn und Italien entstanden Nationalbewegungen. In Polen und weiten Teilen Österreichs ging es dabei um die Befreiung von Fremdherrschaft, in Deutschland und Italien um die Gründung von NationalstaatNationalstaaten. Der Wiener KongressWiener Kongress entwickelte vor diesem Hintergrund eine Interventionspolitik, die zur Niederschlagung der meisten revolutionären Bewegungen von 1848 führte. Aber er konnte insbesondere die Einigung Deutschlands und Italiens nicht verhindern. Italien entwickelte sich zwischen 1859 und 1870 von einem „geographischen Begriff“ (Metternich, zitiert nach Rudolf/Oswalt 2010: 150) zum NationalstaatNationalstaat. Seine Herrschaftsbereiche wurden mit Unterstützung Frankreichs sukzessive vereint.

Auf dem Balkan und in Südosteuropa verbreiteten sich revolutionäre Bewegungen mit einer rasanten Geschwindigkeit. Diese stellten vor allem für das Osmanische Reich eine große Herausforderung dar, das an seiner Westgrenze deutliche Zerfallserscheinungen verzeichnete, die von den europäischen Mächten Frankreich, Großbritannien und Russland für ihre eigenen Interessen instrumentalisiert wurden. Als viraler Schwachpunkt erwiesen sich hier unter anderem die Ionischen Inseln. Diese hatten während der Napoleonischen Kriege unter britischer Besatzung 1809 eine demokratische Verfassung erhalten. 1821 rebellierten die Griechen gegen das Osmanische Reich und forderten eine mit der ionischen Verfassung vergleichbare Verfassung und ihre Unabhängigkeit. Die griechische Rebellion wiederum wirkte sich begünstigend auf angrenzende Gebiete aus. Auch hier erhielten VerfassungsbewegungenVerfassungsbewegung (19. Jh.) externe Unterstützung: RusslandExterne Unterstützung durch Russland unterstützte die griechischen Unabhängigkeitsbestrebungen, da sich mit einem unabhängigen Griechenland die Möglichkeit eröffnete, seinen Einfluss in Südosteuropa zu vergrößern. Mit der Herauslösung Rumäniens und Bulgariens entlang der Westküste des Schwarzen Meeres wäre für Russland die große Chance verbunden gewesen, einen Zugang zum Mittelmeer zu erlangen, der ihm bisher durch das Osmanische Reich versperrt war. Nach einer Serie von regionalen, militarisierten Konflikten erlangten schließlich Griechenland, Serbien und die sogenannten Donaufürstentümer, das sind die an der Donau gelegenen Staaten Bulgarien und Rumänien, ihre Unabhängigkeit.

Deutschland und Italien nahmen im gleichen Zeitraum ihre Gestalt als einheitliche NationalstaatNationalstaaten anNationalstaatliche Einigung in Deutschland und Italien. In Deutschland hatte Preußen bereits die ersten Schritte im 18. Jahrhundert mit der Eroberung Schlesiens während des Österreichischen Erbfolgekriegs unternommen. Nach den Revolutionen von 1848/1849 wurde der Deutsche Bund zwar restauriert, in dem Österreich, Preußen und einige Mittelstaaten dominierten (vor allem Bayern, Württemberg). Preußen gelang es aber danach, seine Interessen an einer deutschen Einigung auch gegen die Interessen Österreichs durchzusetzen. In den drei deutschen Einigungskriegendeutsche Einigungskriege, drei gegen Dänemark (1864), Österreich (1866) und Frankreich (1870/71) weitete Preußen sein Reich sukzessive aus. Zwischen 1866 und 1871 war eine neue „Großmacht in der Mitte Europas“ (Rudolf/Oswalt 2010: 152) entstanden. Italien hatte bis ins 19. Jahrhundert nur als geographischer Begriff existiert: Es bestand aus fünf Herrschaftsbereichen – dem Königreich beider Sizilien, Sardinien, dem Kirchenstaat und den von Österreich abhängigen Herzogtümern (z.B. Lombardei). Der Einfluss Österreichs erwies sich als größtes Hindernis für eine nationalstaatliche Einigung. Unter der Führung des Königreichs Sardinien-Piemont und mit Unterstützung Frankreichs gelang es, durch einen Krieg gegen Österreich 1859 zunächst den Norden zu einigen, ein Jahr später wurde der Süden angeschlossen, nachdem eine nationale Bewegung den bourbonischen König entmachtet hatte.

Industrielle RevolutionIndustrielle Revolution

Während die erste Hälfte des Jahrhunderts dominiert war von VerfassungVerfassungsbewegung (19. Jh.)s- und DemokratisierungsbewegungenDemokratisierungsbewillen, war die zweite Hälfte durch die Erfolge der industriellen Revolution geprägt. Sie ist einer der Trends mit tiefgreifenden Effekten in dieser Epoche, der sich auch auf die internationalen Beziehungen auswirkt. Sie beeinflusste alle Lebensbereiche, indem sie die statische und agrarisch geprägte Wirtschaftsverfassung, die seit dem Mittelalter galt, aufbrach. Ausgangspunkt der Industrialisierung war Großbritannien. Nach und nach wurden vor allem einzelne Staaten in Kontinentaleuropa erfasst, allen voran Belgien, Deutschland und Frankreich, dann aber auch die USA und Japan. England schaffte aufgrund einer Reihe von bahnbrechenden Erfindungen als erstes den Take-Off. Dazu gehörten die Erfindung des mechanischen Webstuhls, der die Textilproduktion revolutionierte, der Einsatz der Dampfmaschine in Bergbau und in der Schwerindustrie und die Entwicklung der dampfgetriebenen Eisenbahn. In vielen Staaten kam es zu Innovationen in der Landwirtschaft, einer Ausweitung von Binnen- und Außenmärkten und technischen Neuerungen. Die technischen Neuerungen der Industrialisierung ermöglichten erst Phänomene wie staatliche Expansion und KolonialisierungKolonialisierungAuswirkungen auf staatliche Expansion, Kolonialisierung und Kriegführung, die ohne den Ausbau des Schienennetzes beispielsweise schwer vorstellbar gewesen wären. Die Industrialisierung wirkte sich grundlegend auch auf die Kriegführung aus. Sie leitete in den „industrialisierten Volkskrieg“ über, in dem technologischer Vorsprung und Organisationsgeschick – und nicht mehr nur Truppenstärke – kriegsentscheidend waren. Der Einsatz der Eisenbahn machte es für Frankreich beispielsweise möglich, 120.000 Soldaten in nur 11 Tagen an die Front zu transportieren. Die systematische Integration von Eisenbahnen und Telegrafen in die Mobilmachung und Kriegsplanung stärkte die strategische Offensive, während die gesteigerte Feuerkraft von Gewehren und Artillerie die Defensive förderte (Hobson 2004: 19). Damit waren die Grundlagen für die zermürbenden Stellungskriege des Ersten WeltkriegsErster Weltkrieg geschaffen.

Die beginnende KolonialisierungKolonialisierung einerseits sowie die Schaffung von großen Nationalstaaten andererseits waren die Voraussetzungen für eine kostengünstige Warenproduktion. Stark beeinflusst wurde diese Entwicklung wiederum durch die napoleonische Herrschaft, da in dieser Zeit in vielen Staaten die wirtschaftlichen und sozialen Hemmnisse für Handelsfreiheit beseitigt wurden. Beispiele dafür sind die Einführung einer staatlichen Schulbildung, die Gewerbefreiheit, die Bauernbefreiung und die Verstaatlichung des Kirchenbesitzes. Die Kolonien wurden zu zuverlässigen und günstigen Rohstofflieferanten. Bedingung für Großbritanniens HegemonieHegemonieGroßbritannien war hier der Vorreiter und seine hochentwickelten Außenbeziehungen ermöglichten es ihm schnell, auch weltpolitisch eine Führungsrolle einzunehmen. Es wurde erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts von Deutschland überholt. Aber die Industrialisierung hatte auch negative Effekte: Die Verdrängung von Kleinbauern in der Landwirtschaft führte zu großer Landflucht in die Städte, sozialen Problemen, Verarmung und Ausbeutung.

Merke

Globale Trendsglobale Trends und internationale Staatengemeinschaftinternationale Staatengemeinschaft

Durch tiefgreifende Veränderungen aufgrund der globalen Trends im 19. und 20. Jahrhundert und die fortschreitende Emergenz von NationalstaatNationalstaaten ergab sich eine neue internationale Ordnung, in welcher Staaten verschiedene weltpolitische Rollen einnehmen konnten. Nationalstaaten definierten sich nicht nur als in sich geschlossene Territorien, sie reflektierten auch innerstaatliche Volkssouveränität, zwischenstaatliche Souveränitätsansprüche und nationale Machtansprüche oder Sicherheitsbedürfnisse. Diese lassen sich einerseits im Unabhängigkeitsbestreben einzelner Nationen wiederfinden, andererseits in der Suche nach einem politischen Gleichgewicht der internationalen Staatengemeinschaft. Dies wird nicht zuletzt durch eine sich entwickelnde Rechtsverbindlichkeit zwischen Staaten und anhand verschiedener vertraglicher Steuerungselemente und Friedensordnungen reflektiert, die sich im 18. und 19. Jahrhundert etablieren.

Innerstaatlicher und geopolitischer Wandel 1860–1870

Territoriale Expansion, nationale Einigungsbestrebungen und industrielle Revolution veränderten die geopolitische Lage in und außerhalb Europas zur Mitte des Jahrhunderts fundamental. In der Folge kam es verstärkt zu Konflikten zwischen den Mitgliedern des Wiener KongressesInnerstaatlicher Wandel und Geopolitik.

Erstens hatten die Einigungsbestrebungen in Italien und dem deutschen Reich fundamentale geopolitische Effekte. Diese beiden Regionen waren bisher die Hauptaustragungsorte der Konflikte zwischen Frankreich und dem Habsburgerreich gewesen. Sie waren gleichzeitig der Preis für gewonnene Kriege. Mit der Einigung entstanden selbstständige Akteure, deren Interessen berücksichtigt werden mussten, auch wenn beide innerhalb des Kongresssystems noch Juniorpartner darstellten.

In ihrer Folge kam es, zweitens, zu einer weiteren geopolitischen Verschiebung der Interessen Österreichs von Westen nach Osten. Österreich hatte mit der italienischen Einigung seine angestammten Territorien in Italien verloren. Daraufhin geriet der BalkanBalkan-Krisen in den Fokus seines InteressesGeographische Verschiebung der Konflikte auf den Balkan, wo sich durch den Zerfall des Osmanischen Reiches die Chance auf territoriale Kompensation eröffnete. Außerdem wollte Österreich den Verlust seines Mittelmeerzugangs kompensieren, den es durch den Verzicht auf Venetien im Zuge der nationalstaatlichen Einigung Italiens hinnehmen musste. Damit blieb ihm nur der schmale Küstenstreifen Dalmatiens an der Adria als direkter Mittelmeerzugang. Über den Einfluss auf Bosnien und Serbien erhoffte es sich diesen Weg. Dies führte notwendigerweise zu Interessengegensätzen mit RusslandKonkurrenz zwischen Österreich und Russland, das ebenfalls die Gelegenheit zu einer weiteren territorialen Erweiterung nutzen wollte und vor allem das für Russland strategisch wichtige Ziel verfolgte, einen direkten Mittelmeerzugang zu erhalten. Damit wurde der Balkan, auf dem sich ähnliche nationale Einigungs- und Unabhängigkeitsbestrebungen vollzogen wie im westlichen Teil Europas, zu einem Dauerbrenner europäischen Krisenmanagements. Der Balkan wurde die „gefährlichste Sollbruchstelle“ (Osterhammel) der internationalen Politik. Diese Konstellation führte zwischen 1877 und 1914 zu verschiedenen Balkan-Krisen. Die letzte löste den Ersten WeltkriegErster Weltkrieg aus.

Drittens verschoben sich mit der KolonialisierungKolonialisierung die Interessen Großbritanniens dauerhaft auf die Sicherung des britischen Empires, wobei Indien den Grundpfeiler bildete und sich die Beherrschung der Verbindungslinien als wichtigstes strategisches Ziel herauskristallisierte (Barraclough 1991: 717). Die Expansion Großbritanniens in das Mittelmeer, das den strategisch wichtigen Zugang zum Suezkanal und damit die kürzeste Verbindung zu seinem Kolonialreich in Asien sicherte, begründete das britische strategische Interesse am Nahen und Mittleren Osten.

Großbritanniens Expansion im Mittelmeer

Großbritannien expandierte vor allem über die Etablierung wichtiger Flottenstützpunkte ins Mittelmeer und schuf dort eine permanente militärische Präsenz. Nach dem spanischen Erbfolgekrieg war Großbritannien im Frieden von Utrecht (1713) Gibraltar zugesprochen worden. Damit erlangte es Kontrolle über die Meerenge zwischen Afrika und Spanien. Im Zuge der Auseinandersetzung mit Frankreich besetzte es 1800 Malta. Im Gegenzug für eine Beistandsgarantie gegenüber dem Osmanischen Reich pachtete es 1878 Zypern. Damit war es in den Besitz einer Reihe strategisch wichtiger Stützpunkte im Mittelmeer gekommen, die einen direkten Weg nach Asien ohne die notwendige Umsegelung Afrikas versprachen: durch den Suezkanal. Dieser war 1856, basierend noch auf Plänen Napoleons, fertiggestellt worden.

 

Eine Folge war, dass sich die strategische Bedeutung von Südosteuropa und dem Nahen und Mittleren Osten enorm vergrößerteWachsende Bedeutung des Nahen und Mittleren Ostens für Großbritannien. Die traditionellen Konflikte zwischen Russland und dem Osmanischen Reich fanden nun unter Einmischung Frankreichs und Großbritanniens statt. Das Interesse, den Mittleren Osten als Indiens westliches Vorfeld zu schützen, bewegte die Briten zur Teilnahme am Krim-Krieg (1853–1856) und bestimmte ihre Politik in allen Fragen, die den Suezkanal betrafen (Barraclough 1991: 717).

Die Bedeutung Indiens für Großbritannien

Indien war das Kronjuwel des britischen Empires aus verschiedenen Gründen: Seine Bevölkerung – zu diesem Zeitpunkt 150 Millionen Einwohner – stellte einen riesigen Markt für britische Produkte dar. Indien hatte darüber hinaus enorme militärische Bedeutung: Die indische Armee, die aus der Armee der Ostindischen Kompanie und regulären britischen Offizieren gebildet wurde, war nicht nur groß und gut ausgerüstet, sondern sie unterstand auch nicht dem Parlament. Außerdem wurde sie durch die indische Bevölkerung finanziert. Dadurch ergaben sich flexible Einsatzmöglichkeiten. Die Truppen wurden immer wieder außerhalb zur Sicherung der englischen Herrschaft eingesetzt, so im Krieg gegen China, Persien und Afghanistan sowie zur Sicherung Hongkongs und Singapurs (Baumgart 2007: 173f.).

Damit verbunden war die Herausbildung eines neuen britisch-russischen InteressengegensatzesKonkurrenz zwischen Großbritannien und Russland. Die Expansion Großbritanniens entlang des Golfs von Aden bis nach Indien (über weitere insulare Stützpunkte) und vor allem die Ausweitung seiner Herrschaft im Norden Indiens führte, bei gleichzeitiger Expansion Russlands nach Mittelasien (1867–1873), zu territorialen Konflikten zwischen Großbritannien und Russland und 1877/78 und 1885 zu erheblichen Spannungen an der Nordgrenze Indiens. Wie wichtig der Anspruch auf Indien für Großbritannien war, wird daran deutlich, dass das britische Parlament 1877 Königin Victoria zur Kaiserin von Indien proklamierte und dadurch eindeutig signalisierte, dass Indien für Großbritannien einen besonderen Status hatte. In Südasien entstand ein britisches Kaiserreich mit einer eigenen Interventionskapazität, die im gesamten asiatischen Raum eingesetzt werden konnte.

Daraus ergaben sich wiederum eine Reihe militärischer Auseinandersetzungen mit den etablierten Mächten Südwestasiens, dem Iran und Afghanistan, auf die sowohl Russland als auch Großbritannien territoriale Ansprüche erhoben. Zwar gelang es Afghanistan und Iran, sich der Kolonisierung sowohl durch Großbritannien als auch durch Russland zu widersetzen, aber beide mussten zum Teil empfindliche Gebietsverluste hinnehmen und wurden zu Objekten fortwährender Auseinandersetzungen.

Merke

Die wichtigsten geopolitischen Veränderungen

 Der Wiener Kongress stellte ein Instrument zur Eindämmung Frankreichs dar und etablierte ein kollektives Entscheidungssystem zur Regelung wichtiger Fragen in Europa.

 Er konnte diverse Unabhängigkeits- und Verfassungsbestrebungen aber weder rückgängig machen noch stoppen.

 Die Einigung des Deutschen Reiches und Italiens sowie die territoriale Expansion Großbritanniens und Russlands führten zur Konstitution von drei wichtigen Regionen als Konfliktregionen: Balkan, Naher und Mittlerer Osten, Vorderasien.

 In allen drei Regionen konkurrierten Großmächte (aber auch kleinere Mächte) um Einfluss: Österreich und Russland auf dem Balkan, Großbritannien und Russland im Mittleren Osten, Großbritannien und Russland in Vorderasien.

 Der Wiener KongressWiener Kongress war als Steuerungsinstrument begrenzt: außereuropäische Konflikte waren von seiner Agenda ausgeklammert.