Das Hochschulrecht in Baden-Württemberg

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

140

Bei der vom BVerfG[68] im Jahre 2014 entschiedenen Verfassungsbeschwerde ging es um die Aufgaben und Befugnisse der Hochschulleitung an der Medizinischen Hochschule Hannover nach dem Niedersächsischen Hochschulgesetz (NHG); dabei spielten auch Besonderheiten der Hochschulmedizin eine Rolle. Wie in Hamburg sah das NHG an der Medizinischen Hochschule Hannover eine Übertragung wichtiger Entscheidungsbefugnisse auf das Leitungsorgan (Präsidium und Vorstand) vor. Vollkommen überraschend und abweichend von der eigenen jahrzehntelangen Rechtsprechung erklärt das BVerfG in seinem Beschluss alle Hochschulentscheidungen über die Organisationsstruktur, den Haushalt und – wegen der untrennbaren Verzahnung mit der Wissenschaft – die Krankenversorgung nun für wissenschaftsrelevant und verbindet das mit der Forderung, dass an allen wissenschaftsrelevanten Entscheidungen die Wissenschaftler mitwirken müssten. In der Begründung heißt es dazu: „Wissenschaftsrelevant sind auch alle den Wissenschaftsbetrieb prägenden Entscheidungen über die Organisationsstruktur und den Haushalt (vgl. BVerfGE 35, 79 <123>; 61, 260 <279>; 127, 87 <124 ff., 126>), denn das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit liefe leer, stünden nicht auch die organisatorischen Rahmenbedingungen und die Ressourcen zur Verfügung, die Voraussetzungen für die tatsächliche Inanspruchnahme dieser Freiheit sind (vgl. BVerfGE 35, 79 <114 f.>)“. Das Hochschulurteil, auf das dabei Bezug genommen wird, hatte demgegenüber die „wissenschaftsrelevanten“ Angelegenheiten vollkommen anders definiert (s.o., Rn. 129 f.). Bei strukturellen und organisatorischen Entscheidungen sollten nur solche Angelegenheiten als wissenschaftsrelevant erfasst werden, „die Forschung und Lehre unmittelbar berühren“ (BVerfGE 35, 79 <123>). In allen dem Hochschulurteil nachfolgenden Entscheidungen hatte das BVerfG die Frage der Wissenschaftsrelevanz im Bereich von Haushalt und Organisation detailliert geprüft, nicht einfach pauschal eine Wissenschaftsrelevanz unterstellt. So wird in der vorher erwähnten Entscheidung zum HmbHG die Zuweisung von Stellen und Mitteln durch das Dekanat als wissenschaftsrelevant angesprochen, gleichzeitig aber der gesamte Umfang der haushaltsrechtlichen Kompetenzen des Dekanats analysiert und bewertet,[69] wobei ebenfalls auf das Hochschulurteil und eine Entscheidung zum Konvent in NRW Bezug genommen wird. In diesen beiden zitierten Urteilen kommt deutlich zum Ausdruck, dass das Merkmal „wissenschaftsrelevant“ nur durch substantielle Wertung ermittelt werden kann. Klarer als in der Entscheidung zum NRW-Konvent kann man das kaum zum Ausdruck bringen: „In einem weiten Sinne sind alle Entscheidungen der Gremien sowie alle Handlungen und Unterlassungen eines jeden an der Hochschule Beschäftigten kausal für die gesamte Institution Hochschule und insofern wissenschaftsrelevant. Will man den aus Art. 5 Abs. 3 GG hergeleiteten Einfluß der Professoren nicht auf alle denkbaren Bereiche der Hochschule ausdehnen, was nicht geboten ist und auch nicht ernsthaft vertreten wird, bleibt nur eine wertende Einschränkung der kausalen Betrachtungsweise“.[70] Diese jahrzehntelange Rechtsprechung verlässt das BVerfG mit seiner Entscheidung zur Medizinischen Hochschule Hannover – ohne die Änderung auch nur anzusprechen oder gar zu begründen. Es werden kommentarlos das Hochschulurteil und auch das Urteil zum NRW-Konvent zitiert, die gerade von einem deutlich anderen Ansatz ausgehen und den Begriff der Wissenschaftsrelevanz wertungsorientiert eingrenzen. Der Beschluss des BVerfG zu Hannover wirft damit die Frage auf, welche Entscheidungen in der Hochschule denn noch übrig bleiben, die als nicht-wissenschaftsrelevant anzusehen sind, und welche Gestaltungsfreiheit dem Gesetzgeber bei dieser Konstellation verbleibt.

141

Das Leitungsmodell der Medizinischen Hochschule Hannover sah drei Vorstands- (Präsidiums-) Mitglieder mit unterschiedlichen Aufgaben vor: für Forschung und Lehre (beim Präsidenten), für die Krankenversorgung und für Administration und Wirtschaftsführung. Für jede dieser drei Positionen formuliert das BVerfG im Hinblick auf die Wissenschaftsfreiheit spezifische Anforderungen.[71] Als besonders unzureichend wurden die geringe Mitwirkungsmöglichkeit des Senats im Rahmen der Findungskommission zur Ermittlung geeigneter Kandidaten für die Leitungspositionen[72] und die hohe Hürde für einen Senatsbeschluss angesehen, beim Wissenschaftsministerium die Entlassung des Präsidenten (mit der Zuständigkeit für Forschung und Lehre) einzufordern. Das NHG verlangte für einen solchen Vorschlag eine qualifizierte Senatsmehrheit (Mehrheit von drei Viertel aller Mitglieder), die von den Vertretern der Wissenschaftler im Senat allein nicht erreicht werden konnte.[73] In der Gesamtbewertung kommt das BVerfG zum Ergebnis, dass die Mitwirkungsrechte des Senats an der Medizinischen Hochschule Hannover bei wissenschaftsrelevanten Entscheidungen vom Gesetzgeber unzureichend ausgestaltet wurden und eine Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit darstellen. Notwendig sei deshalb eine Kompensation durch eine wirksame Mitwirkung des Selbstverwaltungsorgans an der Bestellung und Abberufung des Leitungsorgans. Als defizitär im Hinblick auf die Mitwirkung des Senats werden insbesondere Entscheidungen im Bereich von Zielvereinbarungen, bei der Entwicklungsplanung, bei der Organisation, bei der Bildung von Schwerpunkten, beim Wirtschaftsplan und bei der Mittelverteilung angesprochen.[74] Die vom BVerfG vorgenommene Ausweitung der Angelegenheiten, die als wissenschaftsrelevant anzusehen sind, führt zwangsläufig zu einer Ausweitung der Sachverhalte, die nun als Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit angesehen werden können. Das erhöht die Notwendigkeit einer Kompensation in Gestalt einer verstärkten Mitwirkung des Senats bei der Bestellung, insbesondere aber bei der Abberufung der Mitglieder des Leitungsorgans.[75] Die im NHG dazu vorgesehenen Regelungen werden vom BVerfG als nicht ausreichend bewertet, um die festgestellte Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit zu kompensieren. Bei der Bestimmung der für notwendig erachteten Kompensation greift das BVerfG zunächst die Argumentation aus der Hamburg-Entscheidung auf, verschärft sie jedoch in der Formulierung, die nun lautet: „Je mehr, je grundlegender und je substantieller wissenschaftsrelevante personelle und sachliche Entscheidungsbefugnisse dem kollegialen Selbstverwaltungsorgan entzogen und einem Leitungsorgan zugewiesen werden, desto stärker muss im Gegenzug die Mitwirkung des Selbstverwaltungsorgans an der Bestellung und Abberufung dieses Leitungsorgans und an dessen Entscheidungen ausgestattet sein“.[76] Die mit kursiver Schrift (vom Verf.) gekennzeichnete Formulierung steht im Widerspruch zur getroffenen Feststellung, weil bei einer Ausweitung der Mitwirkung des Senats an wissenschaftsrelevanten Entscheidungen die Notwendigkeit einer Kompensation abnehmen oder ganz entfallen müsste.[77]

142

Bei der Prüfung, welche Entscheidungen eigentlich dem Selbstverwaltungsorgan „entzogen“ wurden, drängt sich insbesondere die Frage auf, in wessen Zuständigkeit die früher vom Staat wahrgenommenen, inzwischen aber auf die Hochschulen übertragenen Aufgaben fallen. Nur dann, wenn auf die Hochschule übertragene staatliche Aufgaben zwangsläufig in die Zuständigkeit eines Selbstverwaltungsorgans fallen, könnte man in Bezug auf diese Aufgaben von einem „Entzug“ sprechen.[78] Bei den staatlichen Aufgaben kann es sich nicht um Angelegenheiten handeln, die unmittelbar die Freiheit von Forschung und Lehre betreffen, sonst wäre eine Kompetenz des Staates verfassungsrechtlich unzulässig gewesen. Ist aber die Wissenschaftsfreiheit nicht betroffen, dann steht es dem Gesetzgeber frei, selbst zu entscheiden, welchem Hochschulorgan er die bisherige staatliche Aufgabe überlässt.[79] Da der Staat im Bereich der Organisation und des Haushalts umfangreiche Zuständigkeiten hat und hatte, kann die Übertragung solcher Kompetenzen auf das Leitungsorgan nicht als kompensationsbedürftige Regelung interpretiert werden, denn die Wissenschaftsfreiheit ist nicht betroffen. Das bestätigt gleichzeitig, dass die undifferenzierte Subsumtion aller Entscheidungen im Bereich von Organisation und Haushalt unter den Begriff der „wissenschaftsrelevanten Angelegenheiten“ nicht schlüssig ist.

143

Die Konsequenzen der Hannover-Entscheidung des BVerfG zeigen sich überdeutlich an der Entscheidung des VerfGH BW vom 14.11.2016,[80] der allerdings vollständig von der früheren Rechtsprechung des BVerfG abrückt. Bei dieser Verfassungsbeschwerde ging es um die Frage, ob das LHG bei wissenschaftsrelevanten Entscheidungen der Leitungsorgane eine hinreichende Mitwirkung der Selbstverwaltungsorgane (Senat, Fakultätsrat) vorsieht. Der Beschwerdeführer, ein einzelner Hochschullehrer, bestritt dies und wies gleichzeitig darauf hin, dass das LHG keine ausreichende Kompensation des unzureichenden Einflusses der Selbstverwaltungsorgane bei der Wahl und der Abwahl von Mitgliedern der Leitungsorgane vorsehe. Im Ergebnis folgt der VerfGH BW dieser Argumentation. Das Rektorat habe ein „kompetenzrechtliches Übergewicht“, das ohne entsprechende Kompensation bei Wahl und Abberufung der hauptberuflichen Rektoratsmitglieder zu einer strukturellen Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit führe. Die Regelungen in § 18 LHG zur Wahl und zur Abberufung der hauptamtlichen Mitglieder des Rektorats seien deshalb verfassungswidrig – dem Gesetzgeber wird auferlegt, bis zum 31.3.2018 eine verfassungskonforme Neuregelung zu treffen.[81]

144

Formal gesehen stützt der VerfGH BW seine Entscheidung nicht unmittelbar auf Art. 5 III 1 GG, der über Art. 2 I LV Bestandteil der Landesverfassung ist, sondern auf Art. 20 I LV, der auch als individuelles Freiheitsrecht interpretiert wird.[82] Die Argumentation des Gerichts, dass Art. 20 I LV für Wissenschaftler an Hochschulen den Art. 2 I LV in Verbindung mit Art. 5 III 1 GG „verdrängt“, wie es das Gericht formuliert, überzeugt nicht. Folgt man dem Gericht, dann ist die individuelle Wissenschaftsfreiheit in der LV zweimal geschützt. Es wird unterstellt, dass der Verfassungsgeber von 1953 – vier Jahre nach Inkrafttreten des GG – mit Art. 20 I LV die individuelle Wissenschaftsfreiheit an Hochschulen habe regeln wollen, – dies ganz bewusst in Konkurrenz zu Art. 5 III 1 GG, der ja über Art. 2 I LV ebenfalls Bestandteil der LV wurde –, obwohl das verbal in Art. 20 I LV in keinster Weise zum Ausdruck kommt. Vergleicht man formaljuristisch den Gesetzestext von Art. 20 I LV und von Art. 5 III 1 GG, dann ist nicht Art. 20 I LV, sondern Art. 5 III 1 GG eindeutig die speziellere Norm, weil er die individuelle Wissenschaftsfreiheit schützt. Das Prinzip, dass eine lex specialis der allgemeineren Norm vorgeht, wird hier also auf den Kopf gestellt. Bei der über Art. 2 I LV geltenden Norm des Art. 5 III 1 GG handelt es sich um vorrangiges Bundesrecht. Die Landesverfassung kann den Bürgern des Landes zwar gleiche oder auch mehr Rechte einräumen als das GG.[83] Bei einem in der LV enthaltenen, mit der Regelung im GG identischen Grundrecht, kann die inhaltliche Auslegung dieses Grundrechts in der LV aber die inhaltliche Auslegung des Grundrechts durch das BVerfG nicht ignorieren, weil nach der Hierarchie der Normen Bundesrecht dem Landesrecht vorgeht (Art. 31 GG). Eine von der Rechtsprechung des BVerfG abweichende Auslegung des Wirkungsbereichs der Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 III 1 GG ist also über Art. 20 I LV nicht möglich. Warum also Art. 20 I LV, der sich nach dem eindeutigen Wortlaut nur auf die Hochschule bezieht, der Regelung des Art. 2 I LV i.V.m. Art. 5 III 1 GG vorgehen soll, ist nicht nachvollziehbar.[84] Letztlich kommt auch der VerfGH BW zum Ergebnis, dass die in der LV garantierte Wissenschaftsfreiheit im Lichte der Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 5 III 1 GG auszulegen ist.[85] Bemerkenswerterweise nimmt selbst § 3 I LHG im Hinblick auf den Schutz der individuellen Wissenschaftsfreiheit des einzelnen Wissenschaftlers nicht auf Art. 20 I LV Bezug, sondern auf Art. 5 III 1 GG, was belegt, dass vor dem Urteil des VerfGH BW mit Blick auf den eindeutigen Text der Norm niemand auf die Idee gekommen ist, die individuelle Wissenschaftsfreiheit unter Art. 20 I LV zu subsumieren. Das eigentliche Motiv für diese Auslegung des Art. 20 I LV könnte möglicherweise darin zu sehen sein, dass der VerfGH BW unbedingt selbst über die Verfassungsbeschwerde entscheiden wollte, um seine Vorstellung von der Auslegung der Wissenschaftsfreiheit zur Geltung zu bringen, denn bei einer direkten Anwendung von Art. 5 III 1 GG hätte der Weg am BVerfG nicht vorbei geführt.

 

145

In der allgemeinen rechtlichen Begründung der Entscheidung werden vom VerfGH BW ganze Passagen aus dem Beschluss des BVerfG zur Medizinischen Hochschule Hannover wortgleich übernommen. Das betrifft zum einen die Frage, welche Entscheidungen als „wissenschaftsrelevant“ anzusehen sind,[86] zum anderen die Interpretation des Merkmals „Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit“.[87] Außerordentlich aufschlussreich ist eine Formulierung in der Entscheidung des VerfGH BW zum Thema der notwendigen Kompensation einer Übertragung von wissenschaftsrelevanten Entscheidungen auf ein Leitungsorgan durch entsprechende Mitwirkungsrechte bei Wahl und Abwahl von Mitgliedern des Leitungsorgans. In die wörtlich aus der Entscheidung des BVerfG übernommene Passage zur Rechtsstellung des Senats werden an zwei Stellen zusätzlich die Worte „dort vertretene Hochschullehrer“ eingefügt,[88] was deutlich macht, dass es dem VerfGH BW nicht um eine Stärkung des Senats per se, sondern eine Stärkung der Hochschullehrer in diesem Gremium als Vertreter der Professorenschaft geht.[89] Das kommt auch in dem Vorschlag zur Kompensation der gestärkten Entscheidungsbefugnisse des Rektorats zum Ausdruck. Ein hinreichendes Mitwirkungsniveau sei dann gesichert, wenn bei der Wahl der Mitglieder eines Leitungsorgans das „Selbstverwaltungsgremium mit der Stimmenmehrheit der gewählten Vertreter der Hochschullehrer die Wahl eines Mitglieds, das das Vertrauen dieser Gruppe nicht genießt, verhindern kann“.[90] Eine solche Forderung entfernt sich weit von dem ursprünglichen Zweck, die Wissenschaftsfreiheit zu schützen. Die Wissenschaftsfreiheit ist nicht dadurch in Gefahr, dass eine bestimmte Person ohne die Mehrheit der Hochschullehrer in ein Leitungsorgan gewählt wird. Das BVerfG hat es seit dem Apothekenurteil[91] regelmäßig abgelehnt, hypothetische Gefährdungstatbestände ohne Nachweis der konkreten Gefährdung anzuerkennen – selbst nicht bei einer Gefahr für Leib und Leben. Deshalb ist es wenig schlüssig, dass zum Schutz der Wissenschaftsfreiheit eine rein hypothetisch prognostische Gefährdung in Gestalt eines zu wählenden Mitglieds eines Leitungsorgans als relevant anerkannt wird. Auf der einen Seite wird die Pflicht des Gesetzgebers postuliert, „den Wissenschaftsbetrieb den Zeitbedürfnissen gemäß zu gestalten“ und „bisherige Organisationsformen kritisch zu beobachten und zeitgemäß zu reformieren“.[92] Tatsächlich aber übernimmt diese Art von Rechtsprechung mit Hilfe des Arguments einer potentiellen Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit in Verbindung mit dem Kompensationsaspekt die Aufgabe des Gesetzgebers. Von der offenen Formulierung in der Brandenburg- Entscheidung zur Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers[93] bleibt nur noch wenig übrig. Es geht gar nicht mehr um die konkrete Bewertung einer Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit, sondern nur noch um die vom Gericht gewünschte Kompensation. Bei der Wahl eines Leitungsorgans jedenfalls lässt sich der Gefährdungsgedanke überhaupt nicht begründen.[94] In der Entscheidung des BVerfG zum HmbHG, die der VerfGH BW in diesem Zusammenhang zitiert, ging es gar nicht darum, ein Wahlrecht speziell für die Hochschullehrergruppe einzufordern – das HmbHG räumte dem Fakultätsrat gerade ein Recht zur Bestätigung des vorgeschlagenen Dekans ein und diese gesetzliche Regelung hielt das BVerfG verfassungsrechtlich für ausreichend. Mit der Rechtsprechung des BVerfG lässt sich also die Argumentation des VerfGH BW nicht begründen. Was für Hamburg vom BVerfG im Gesamtkontext zur Vermeidung einer Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit als notwendig angesehen wurde, kann auch nicht inhaltsgleich auf eine ganz andere hochschulgesetzliche Regelung übertragen werden, weil immer das jeweilige gesetzliche Gesamtgefüge betrachtet werden muss.

146

Entsprechendes gilt für die Abwahl, die der VerfGH BW unter Verweis auf die Entscheidungen des BVerfG zu Hamburg und Hannover in die alleinige Entscheidungszuständigkeit der Vertreter der Hochschullehrer im Selbstverwaltungsgremium legen möchte: „Die in ein Selbstverwaltungsorgan gewählten Vertreter der Hochschullehrer müssen sich von dem Mitglied eines Leitungsorgans, das ihr Vertrauen nicht mehr genießt, trennen können, ohne im Selbstverwaltungsgremium auf eine Einigung mit den Vertretern anderer Gruppen und ohne auf die Zustimmung eines weiteren Organs oder des Staates angewiesen zu sein“.[95] Die zur Rechtfertigung dieser Meinung vom VerfGH BW vorgenommene Bezugnahme auf die beiden Entscheidungen des BVerfG (E 127, 87 und E 136, 338) ist unzutreffend, weil dort von der Kompetenz des zuständigen Hochschulorgans (Fakultätsrat, Senat) und weiteren Voraussetzungen die Rede ist, aber nicht davon, dass die Gruppe der Hochschullehrer in der Lage sein soll, unabhängig von den Hochschulorganen und sogar vom Staat eine Entlassung durchzusetzen. Das Urteil des VerfGH BW setzt sich vor allem auch in Widerspruch zur Brandenburg–Entscheidung des BVerfG, die das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit des Senats zur Abwahl der Hochschulleitung akzeptiert und darin keine Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit sieht. Diese Entscheidung wird im Urteil des VerfGH BW zwar erwähnt, aber dann doch inhaltlich ignoriert. Im Grunde geriert sich der VerfGH BW hier wie ein Gesetzgeber, der unter Ausblendung der vom Gesetz vorgesehenen Zuständigkeit der Hochschulorgane für eine einzelne Gruppe von Mitgliedern, die Hochschullehrer, Sonderrechte einfordert. Der echte Gesetzgeber hat nur noch die Wahl, entweder die gesamte Hochschulorganisation im Sinne eines rückwärtsgewandten Hochschulmodells zu verändern oder aber die vom VerfGH geforderten Sonderrechte für die Gruppe der Hochschullehrer in die gesetzliche Regelung aufzunehmen. Der baden-württembergische Gesetzgeber hat sich gezwungenermaßen mit dem HRWeitEG vom 13.3.2018 für die zweite Variante entschieden (vgl. Rn. 286, 287).

147

Ausgehend von der Annahme, die die Hannover-Entscheidung des BVerfG formuliert hat, dass letztlich alle Entscheidungen innerhalb der Hochschule als „wissenschaftsrelevant“ anzusehen sind, prüft der VerfGH BW alle Entscheidungszuständigkeiten des Rektorats. Bei diesem Vorgehen ist es mehr oder weniger nur noch eine Frage der subjektiven Einschätzung, welchen Kompetenzen man ein Potential zur Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit zuordnet, denn eine mögliche Kausalität ist immer denkbar. Die Konsequenzen sind sehr klar am Urteil des VerfGH BW ablesbar. Als wissenschaftsrelevant und kompensationsbedürftig werden vom VerfGH BW[96] die Planung der baulichen Entwicklung, die Ausstattungspläne, Hochschulverträge und Zielvereinbarungen, der Haushalts-/Wirtschaftsplan sowie die Mittel-, Grundstücks- und Raumverteilung angesprochen[97] – alles Bereiche, die nach der jahrzehntelangen Rechtsprechung des BVerfG vor dem Beschluss zu Hannover aus guten Gründen nicht als wissenschaftsrelevant angesehen wurden. Nicht unerwähnt bleiben darf an dieser Stelle die Entscheidung des BVerfG vom 12.5.2015 zur Fusion der BTU Cottbus mit der FH Lausitz, die das Merkmal „wissenschaftsrelevant“ graduell differenziert,[98] was eine Relativierung ermöglicht. Damit hat sich der VerfGH BW aber nicht auseinandergesetzt, wie das vom Gericht geforderte Übermaß an Kompensation in Gestalt eines Abwahlrechts allein für die Gruppe der Hochschullehrer zeigt. Aus welchen verfassungsrechtlichen Überlegungen sich dieses Sonderrecht für die Gruppe der Hochschullehrer rechtfertigt, bleibt nebelhaft. In der Hamburg-Entscheidung des BVerfG[99] – entsprechendes gilt für die Hannover-Entscheidung mit Bezug auf die Hochschulleitung – ist nicht von einem unabhängigen Abberufungsrecht der Vertreter der Hochschullehrer die Rede, sondern nur davon, dass dem Fakultätsrat eine Kontrolle des Dekanats nicht möglich ist, wenn er den Dekan nicht abwählen kann. Das Fehlen einer solchen Abwahlmöglichkeit durch den Fakultätsrat war also für das BVerfG das entscheidende Kriterium, um eine Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit zu bejahen. Der VerfGH BW geht weit darüber hinaus. Erkennbar geht es dem VerfGH BW nicht darum, das Gewicht zwischen den Organen wissenschaftsadäquat auszutarieren, sondern ausschließlich um eine Aufwertung des Einflusses der Hochschullehrer ganz generell.[100] Wie ein roter Faden zieht sich dieser Gesichtspunkt durch die Entscheidung.

148

Es überrascht deshalb auch nicht, dass die Entscheidung des VerfGH BW eine historische Besonderheit des baden-württembergischen Hochschulrechts als rechtlich nicht zulässig anspricht: die Amtsmitgliedschaft der Dekane und einzelner Mitglieder des Rektorats im Senat unter Anrechnung auf die Stimmen der Hochschullehrer. Diese Regelung schuf im Senat eine die verschiedenen Fakultäten umfassende repräsentative Klammer, ohne die Größe des Senats allzu sehr aufzublähen und damit seine Arbeitsfähigkeit einzuschränken. Möglich war das, weil die Amtsmitglieder entsprechend ihrer tatsächlichen Qualifikation zahlenmäßig der Gruppe der Hochschullehrer im Senat zugerechnet wurden. Obwohl gar nicht unmittelbar entscheidungsrelevant, erklärt der VerfGH BW in seiner Entscheidung, dass Amtsmitglieder auf Grund des Repräsentationsprinzips nicht als Vertreter der Hochschullehrer angesehen werden könnten, weil sie nicht förmlich als Vertreter in dieses Gremium gewählt wurden. Zur Unterstützung dieser These wird auf das Hochschulurteil und verschiedene Stellen in der Literatur hingewiesen.[101] Prüft man die angeführten Zitate, dann ist keines bezogen auf die vertretene These belastbar. Das Hochschulurteil des BVerfG vertritt mit seinem materiellen Hochschullehrerbegriff und der Forderung nach einer Homogenität[102] der Gruppe der Hochschullehrer die gegenteilige Meinung, während – bis auf eine Ausnahme – alle anderen zitierten Stellen die vom VerfGH BW vertretene Auffassung nicht stützen und ganz andere Themen behandeln.[103] Viel gravierender aber ist, dass der VerfGH sich nicht die Mühe macht, sich mit anderen Meinungen in Literatur und Rechtsprechung zu diesem Thema auseinanderzusetzen.[104] Das einzige vom VerfGH an dieser Stelle zutreffend verwendete Zitat ist der Verweis auf von Coelln,[105] der ein Urteil des VG Dresden von 2006 erwähnt, in dem eine dem VerfGH entsprechende Meinung vertreten wird, die von Coelln auch in seine Erläuterungen übernimmt. Was aber von Coelln und der VerfGH BW ausblenden, ist der Inhalt des bei von Coelln sogar erwähnten Urteils des Sächsischen Oberverwaltungsgericht,[106] das die Entscheidung des VG Dresden aufhebt und in einer überzeugenden Begründung darlegt, warum Dekane als Amtsmitglieder im Senat auf die Gruppe der Hochschullehrer anzurechnen sind. Dem steht die in nur drei Sätze gekleidete gegenteilige These des VerfGH BW gegenüber, der die Möglichkeit nicht genutzt hat, auf Grund des Hinweises bei von Coelln sich mit dem Urteil des SächsOVG auseinanderzusetzen. Da es für die rechtliche Bewertung von erheblicher Bedeutung ist, werden einige der besonders wichtigen Aussagen des SächsOVG nachfolgend zitiert:

 

„bb) Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts erfordert auch die verfassungsrechtlich gewährleistete Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, Art. 21 SächsVerf) i.V.m. dem Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 18 Abs. 1 SächsVerf) keine Auslegung von § 92 Abs. 3 Satz 2, § 67 SächsHG, dahingehend, dass die Gruppe der Hochschullehrer im Sinne des § 67 Abs. 1 Nr. 1 SächsHG eine gleich große Anzahl von gewählten (sic!) Vertretern in den Senat entsenden muss, wie die Gruppen der akademischen Mitarbeiter und der Studenten“.[107]

„Beide Erfordernisse knüpfen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, Beschl. v. 31.7.2001 – 6 B 42/01, juris) allein an den materiellen Hochschullehrerbegriff an (vgl. auch OVG Hamburg, Urt. v. 20.5.1985 – Bf III 8/94). Nicht entscheidend ist, wie der Hochschullehrer seine Stellung in dem Gremium erlangt hat. Dies ist auch die ganz überwiegende Auffassung in der Literatur (vgl. z.B. Reich, HRG, 9. Aufl., § 37 Rn. 5, sowie 4. Aufl., § 38 Rn. 24; Denninger, HRG, § 38 Rn. 3). Die Auffassung des Verwaltungsgerichts (Anm: Dresden), die bei der Senatszusammensetzung zwischen gewählten Hochschullehrern und Senatoren kraft Amtes differenziert, kann dagegen nicht überzeugen, weil sie Gleiches – Hochschullehrer – ungleich behandelt, ohne dass zwischen ihnen Unterschiede solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie eine Differenzierung rechtfertigen“.[108]

„Auch nicht entscheidend ist, ob es sich um Hochschullehrer handelt, die ihr Amt durch Wahl oder kraft Amtes erhalten haben. Beide können ihren Sachverstand in die Diskussion und Abstimmung einbringen und verhindern, dass dieser Sachverstand überspielt wird. Im Übrigen gilt auch für die Senatoren kraft Amtes, dass sie zwar die Gruppe der Hochschullehrer nicht ausschließlich repräsentieren, jedoch indem sie selbst Professoren oder Juniorprofessoren sind, eine weit mehr dieser als den anderen Gruppen entsprechende Interessenlage haben (BVerfG, Beschl. v. 2.10.2003 – 1 BvQ 23/03).“[109]

Auch wenn es sich bei den Ausführungen des VerfGH BW nur um ein „obiter dictum“ gehandelt haben mag, muss in einer so wichtigen und zentralen Frage erwartet werden können, dass ein Verfassungsgericht substantiiert argumentiert oder aber ein nicht unmittelbar entscheidungsrelevantes Thema ausklammert. Wie auch die ähnliche Vorgehensweise des VerfGH zum Thema Hochschulrat zeigt (Rn. 380), kann man den Eindruck nicht unterdrücken, der VerfGH BW fühle sich dazu berufen, das Hochschulsystem umzugestalten.

149

Die zu klärende Frage ist auch nochmals unter einem etwas anderen Gesichtspunkt zu betrachten, nämlich dem der demokratischen Legitimation (3.d, Rn. 196 ff., 200 ff.), die sich aus der gesetzlichen Regelung ableitet. Die Hochschulen sind Einrichtungen der funktionalen Selbstverwaltung; ihre Struktur und Organisation werden vom Gesetzgeber vorgegeben, der entsprechend dem Hochschulurteil des BVerfG zum Schutz der Wissenschaftsfreiheit verschiedene Vorgaben beachten muss. Dazu gehören bestimmte Stimmanteile für die Hochschullehrer in den Selbstverwaltungsgremien, aber auch das Erfordernis der Homogenität in dieser Gruppe. Das vom VerfGH BW unterstellte Repräsentationsprinzip gilt dagegen nur in der Ausgestaltung, die der Gesetzgeber unter Beachtung der verfassungsrechtlich relevanten Vorgaben vorgenommen hat. Bei der Zusammensetzung der entscheidungsberechtigten Organe besteht unter Beachtung des Hochschulurteils im Interesse möglichst sachgerechter Entscheidungen Gestaltungsfreiheit, die die Möglichkeit einschließt, Gremienmitglieder auf unterschiedliche Weise zu berufen.[110] In welchem Verfahren also die Mehrheit der Hochschullehrer im Senat hergestellt wird, ist dem Gesetzgeber überlassen,[111] solange nicht durch die Art des Verfahrens das Prinzip der Homogenität unterlaufen wird, der Gesetzgeber also willkürlich handelt. Davon kann aber bei der Berücksichtigung der Amtsmitglieder nicht die Rede sein.

Im Dekanemodell ist bei der Wahl des Dekans durch den Fakultätsrat allen Beteiligten bewusst, dass der Dekan im Senat eine Stimme hat und dort der Gruppe der Hochschullehrer zugerechnet wird. Nach der Rechtsprechung des BVerfG kommt es aber allein darauf an, „daß der Gruppe der Hochschullehrer keine Personen mit minderer Qualifikation zugerechnet werden dürfen“, “weil andernfalls der Gruppenproporz willkürlich würde.“[112] Das Gericht betont dabei, dass es um den Ausgleich der verschiedenen Gruppeninteressen innerhalb der Gruppenhochschule geht und unterstellt, dass die Gruppen „die vorgegebenen und in sich regelmäßig im wesentlichen homogenen Interessenlagen … repräsentieren“.[113] Sollte es innerhalb einer Gruppe erhebliche Interessenkonflikte geben und sollten „die gegensätzlichen Auffassungen in der Gruppenvertretung nicht hinreichend zum Zuge kommen“, dann sei es dem Gesetzgeber nicht verwehrt, die betroffene Gruppe auch nochmals sachgemäß zu untergliedern.[114] Als Ergebnis ist daher festzuhalten, dass der Gesetzgeber die Gruppen definiert und bezogen auf die Gruppe der Hochschullehrer die materielle Hochschullehrereigenschaft entscheidend ist, aus der sich die notwendige Homogenität ableitet.[115] Die Vorstellung, dass Dekane ihre Stimme im Senat primär für die Interessen der Fakultät einsetzen, direkt gewählte Vertreter in erster Linie für die Interessen ihrer Gruppe, ist auch wirklichkeitsfremd. Rechtlich gesehen haben die Mandatsträger in den Selbstverwaltungsorganen sowieso die Interessen der gesamten Einrichtung, nicht nur die Interessen ihrer Gruppe zu vertreten. Gerade dieser Gesichtspunkte spricht zusätzlich für ein Dekanemodell, nämlich integrativ die ganz unterschiedlichen Interessen der dezentralen Ebene in die Beratungen und Entscheidungen einzubringen.

150

Aus der Entscheidung des VerfGH BW ergeben sich im Wesentlichen folgende Konsequenzen:


Die über 40 Jahre anerkannte, kontinuierlich bestätigte Rechtsprechung des BVerfG zur Interpretation des Begriffs „wissenschaftsrelevant“ wird inhaltlich ausgehöhlt, denn nach dem Hochschulurteil des BVerfG werden als „wissenschaftsrelevant“ nur Entscheidungen eingestuft, die unmittelbar kausal Forschung und Lehre berühren.
Angelegenheiten, die früher in der alleinigen oder zumindest kondominialen Entscheidungszuständigkeit des Staates gelegen haben und im Zuge der Reform auf die Hochschulen übertragen wurden, können schon deshalb nicht als „wissenschaftsrelevant“ angesehen werden, weil der Staat für „wissenschaftsrelevante“ Angelegenheiten keine Kompetenz hatte; es ging dabei um den vor einem staatlichen Zugriff geschützten Kernbereich wissenschaftlicher Tätigkeiten.
Die Projektion der Wissenschaftsfreiheit nur auf die Hochschullehrer wird der Realität nicht mehr gerecht. Die formale Trennung von Lehrer und Schüler ist insbesondere auf der Ebene der wissenschaftlichen Mitarbeiter unscharf geworden. In den naturwissenschaftlichen und technischen Fächern entwickeln sich Doktoranden und Postdoktoranden zunehmend zu Experten für einzelne wissenschaftliche Fragestellungen. Welches Gewicht hat die Wissenschaftsfreiheit dieser Gruppe von Wissenschaftlern?

151