Das Hochschulrecht in Baden-Württemberg

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2. Kapitel Rechtsstellung und Organisation der Hochschulen

A.Staat und Hochschulen115 – 213

I.Verfassungsrechtliche Einbettung des Deutschen Hochschulsystems115 – 118

II.Die Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 III 1 GG)119 – 151

1.Art. 5 III 1 GG als individuelles Freiheitsrecht122

2.Art. 5 III 1 GG als Ausdruck einer objektiven Wertordnung für den Bereich der Wissenschaft123 – 125

3.Wissenschaftsfreiheit und staatliche Regelungskompetenz126 – 151

III.Hochschulselbstverwaltung und staatliche Regelungskompetenz152 – 213

1.Art. 5 III 1 GG und das Selbstverwaltungsrecht der Hochschulen153 – 156

2.Wissenschaftsfreiheit der Hochschulen, Hochschulselbstverwaltung und staatliche Aufsicht (Art. 20 LV)157 – 182

a)Die Wissenschaftsfreiheit der Hochschule nach Art. 20 I LV158 – 162

b)Das Selbstverwaltungsrecht der Hochschulen nach Art. 20 II LV163 – 177

(1)Rechtliche Grundlagen des Selbstverwaltungsrechts163 – 165

(2)Inhalt der Hochschulselbstverwaltung166 – 177

(a)Institutionelle Garantie und geschützter Kernbereich166 – 169

(b)Hochschulreform durch staatliche Deregulierung170 – 172

(c)Umfang des Satzungsrechts der Hochschulen173 – 177

c)Staatliche Aufsicht178 – 182

3.Hochschulselbstverwaltung und Demokratische Legitimation im Kontext der Grundsätze funktionaler Selbstverwaltung183 – 213

a)Die Einführung des Organs „Hochschulrat“ als Ausgangspunkt einer rechtlichen Diskussion über das Prinzip der demokratischen Legitimation183 – 185

b)Hochschulselbstverwaltung und funktionale Selbstverwaltung186 – 190

c)Grundsätze zur demokratischen Legitimation191 – 199

(1)Demokratische Legitimation im Bereich der unmittelbaren Staatsverwaltung192 – 195

(2)Demokratische Legitimation im Bereich der funktionalen Selbstverwaltung196 – 199

d)Demokratische Legitimation der Organe der Hochschule200 – 213

B.Hochschulorganisation214 – 461

I.Leitbilder214 – 216

II.Die Gruppenhochschule als unternehmerische Hochschule217 – 232

III.Rechtliche Rahmenbedingungen für die Ausgestaltung der Hochschulorganisation233 – 241

1.Die Wissenschaftsfreiheit als Leitprinzip (§ 3 LHG)234, 235

2.Demokratische Legitimation der Hochschulorgane durch den Gesetzgeber, Umfang und Grenzen ergänzender Satzungsregelungen236 – 239

3.Hochschulübergreifende Kooperationen, rechtsfähige Hochschulverbände240, 241

IV.Rechtliche Vorgaben zur Besetzung und Zusammensetzung der Hochschulorgane242 – 253

1.Aufgabenspezifische Unterschiede zwischen den Organen242 – 246

2.Mitwirkung der Mitglieder in Gremien und Verfahrensgrundsätze dort247 – 253

V.Die zentralen Organe der Hochschulen (ohne Duale Hochschule)254 – 409

1.Das Rektorat255 – 347

a)Kollegiale Hochschulleitung255, 256

b)Zusammensetzung des Rektorats, Wahl, Amtszeit, Abwahl und rechtliche Stellung nach der Abwahl257 – 294

(1)Die hauptamtlichen Rektoratsmitglieder258 – 272

(2)Die nebenamtlichen Rektoratsmitglieder273, 274

(3)Vorzeitige Beendigung der Amtszeit eines Mitglieds des Rektorats (§ 18 V LHG)275 – 285

(4)Abwahl eines Mitglieds des Rektorats durch die Gruppe der Hochschullehrer (§ 18a LHG)286 – 294

c)Aufgabenbereich des Rektorats, interne Aufgabenverteilung und Einzelaufgaben des Rektors295 – 343

(1)Überblick295 – 299

(2)Finanz- und Ressourcenentscheidungen300 – 303

(3)Personalbezogene Entscheidungen und Verwirklichung der Gleichstellung304 – 315

(4)Struktur- und Entwicklungsplanung, Planung der baulichen Entwicklung316, 317

(5)Hochschulinterne Organisation und Zuordnung von Aufgaben318 – 322

(6)Vorbereitung der Senatssitzungen, Koordination der Gremienberatungen, Vollzug der Gremienbeschlüsse323, 324

(7)Mitwirkung bei Satzungen325, 326

(8)Kontrolle der hochschulinternen Aufgabenerfüllung327 – 333

(9)Qualitätsmanagement334, 335

(10)Informationssystem, Berichtspflichten, Sicherstellung des hochschulinternen Informationsflusses336 – 340

 

(11)Sicherstellung der hochschulinternen Ordnung341, 342

(12)Vertretung der Hochschule, Externe Kooperationen343

d)Aufgabenverteilung und Beratungsverfahren344 – 347

2.Der Senat348 – 375

a)Zusammensetzung des Senats, Wahl der Mitglieder und Amtszeit349 – 352

b)Aufgaben des Senats353 – 372

(1)Grundsätzliche Abgrenzung zu Rektorat und Hochschulrat353, 354

(2)Satzungen und Organisationsentscheidungen355 – 357

(3)Angelegenheiten von grundsätzlicher Bedeutung in Forschung, Kunst, Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und Technologietransfer358 – 363

(4)Mitwirkung bei der Besetzung von Organen und besonders wichtigen Personalentscheidungen, Beschlüsse zum Ruhen der Mitgliedschaft, akademische Auszeichnungen364 – 369

(5)Mitwirkung an Entscheidungen anderer Organe und Entgegennahme von Berichten370 – 372

c)Beratungsverfahren im Senat373 – 375

3.Der Hochschulrat376 – 409

a)Verfassungswidrige „Fremdverwaltung“ oder demokratisch legitimiertes Aufsichtsorgan?376 – 385

b)Zusammensetzung des Hochschulrats, Auswahl der Mitglieder und Amtszeit386 – 391

c)Aufgaben des Hochschulrats392 – 405

(1)Überblick392

(2)Personal- und Organisationsangelegenheiten393 – 396

(3)Finanziell gewichtige Angelegenheiten einschließlich der Bau-, Struktur- und Entwicklungsplanung397 – 400

(4)Stellungnahmen zu akademischen Angelegenheiten401

(5)Informations- und Kontrollrechte, lösungsorientierte Mitwirkung bei Beanstandungen402 – 405

d)Ausstattung, Beratungsverfahren406 – 408

e)Rechtliche Stellung, Haftung409

VI.Die dezentralen Organe in den Fakultäten und Sektionen (ohne Duale Hochschule)410 – 457

1.Fakultäten und Sektionen411 – 417

2.Das Dekanat418 – 448

a)Zusammensetzung des Dekanats, Wahl der Mitglieder und Amtszeit419 – 430

(1)Der Dekan420 – 428

(2)Der Prodekan429

(3)Der Studiendekan als Mitglied des Dekanats430

b)Aufgabenbereich des Dekanats und des Dekans431 – 442

(1)Aufgabenbereich im Überblick431, 432

(2)Finanz- und Ressourcenausstattung der Mitglieder und Einrichtungen433, 434

(3)Personalentscheidungen435

(4)Struktur- und Entwicklungsplanung436

(5)Sicherstellung eines ordnungsgemäßen Lehr- und Studienbetriebs437

(6)Dienstaufsicht und Kontrolle der fakultätsinternen Aufgabenerfüllung438, 439

(7)Qualitätssicherung innerhalb der Fakultät durch Evaluationsverfahren440

(8)Zusammenarbeit mit Fakultätsrat und Rektorat, Berichtspflichten441

(9)Aufgabenverteilung und Beratungsverfahren442

c)Studiendekane und Studienkommissionen443 – 448

(1)Die Studienkommissionen444 – 446

(2)Die Studiendekane447, 448

3.Der Fakultätsrat (Sektionsrat)449 – 457

a)Zusammensetzung des Fakultätsrats, Wahl der Mitglieder und Amtszeit450 – 452

b)Aufgaben des Fakultätsrats453 – 456

c)Beratungsverfahren im Fakultätsrat457

VII.Zentrale oder dezentrale Hochschuleinrichtungen458 – 461

C.Hochschulfinanzierung462 – 614

I.Die Finanzverfassung der Hochschulen462 – 544

1.Die Finanzreform in Baden-Württemberg462 – 474

a)Die Entwicklung vor dem LHG 2005462 – 469

(1)Der Weg zum Solidarpakt I462 – 466

(2)Die Finanzreform – Haushaltsflexibilisierung und Globalisierung467

(3)Das HRÄG 1999 – Erhöhung der Finanzautonomie und Leistungsorientierung der Finanzierung468, 469

b)LHG 2005, ZHFRUG und Weiterentwicklungen470 – 474

(1)LHG 2005 und ZHFRUG470, 471

(2)Die Weiterentwicklung der Hochschulgesetzgebung bis zum HRWeitEG und der Hochschulfinanzierungsvertrag „Perspektive 2020“472 – 474

2.Finanzautonomie475 – 499

a)Haushaltsaufstellung477 – 486

b)Haushaltsvollzug487 – 494

(1)Abbau der sachlichen Bindung/Deckungsfähigkeit488

(2)Übertragbarkeit der Mittel489, 490

(3)Beispielhaftes Zusammenspiel von haushaltsrechtlichen Flexibilisierungen491 – 494

c)Aufsicht495 – 499

3.Dezentrale Finanzverantwortung500 – 509

a)Ziele und Umsetzung500 – 503

b)Weitere Instrumente der Dezentralen Finanzverantwortung504 – 509

(1)Effizienzrendite505 – 508

(2)Globalsteuerungsreserve509

4.Globalhaushalt510 – 513

5.Hochschulen als Landesbetriebe514 – 533

a)Rechtlicher Rahmen514 – 525

b)Vor- und Nachteile der kaufmännischen Buchführung526 – 530

c)Umsetzung in den Hochschulen531 – 533

 

6.Hochschulen in anderer Rechtsform534 – 544

a)Mögliche andere Rechtsformen534 – 539

(1)Privatrechtliches Unternehmen535

(2)Rechtsfähige Stiftungen öffentlichen Rechts oder Körperschaften öffentlichen Rechts536

(3)Das KIT – Körperschaft des öffentlichen Rechts537 – 539

b)Pro und Contra anderer Rechtsformen540 – 544

II.Hochschulsteuerung – die neuen Steuerungsinstrumente545 – 573

1.Änderung der Steuerungsmechanismen545 – 547

2.Steuerungssysteme548 – 573

a)Controlling-System549, 550

b)Berichtswesen551 – 566

(1)Hochschulinternes Berichtswesen551 – 558

(2)Hochschulexternes Berichtswesen559 – 565

(3)Berichtsfrequenzen566

c)Kosten- und Leistungsrechnung567 – 572

d)Informationssystem zur Steuerungsunterstützung573

III.Finanzbemessung574 – 601

1.Staatliches Finanzwesen574 – 586

a)Rechtliche Grundlagen der Hochschulfinanzierung574, 575

b)Finanzierungsquellen der Hochschulen, insbes. Drittmittel576 – 586

2.Komponenten der staatlichen Hochschulfinanzierung587 – 597

a)Erste Säule: Mehrjährige Hochschulverträge588

b)Zweite Säule: Leistungsorientierte Mittelverteilung589 – 591

c)Dritte Säule: Zielvereinbarungen592

d)Fehlende Umsetzung in Baden-Württemberg593 – 597

3.Solidarpakte und Hochschulfinanzierungsvertrag „Perspektive 2020“598 – 601

a)Solidarpakte598

b)Hochschulfinanzierungsvertrag599 – 601

IV.Körperschaftsvermögen602 – 614

a)Körperschaftsvermögen der Hochschule603 – 609

b)Gliedkörperschaft „Verfasste Studierendenschaft“610 – 614

Inhaltsverzeichnis

A. Staat und Hochschulen

B. Hochschulorganisation

C. Hochschulfinanzierung

2. Kapitel Rechtsstellung und Organisation der Hochschulen › A. Staat und Hochschulen

Dr. Klaus Herberger

A. Staat und Hochschulen

2. Kapitel Rechtsstellung und Organisation der Hochschulen › A. Staat und Hochschulen › I. Verfassungsrechtliche Einbettung des Deutschen Hochschulsystems

I. Verfassungsrechtliche Einbettung des Deutschen Hochschulsystems

115

Das deutsche Hochschulsystem weist eine Reihe von Besonderheiten auf, die Hochschulsysteme anderer Länder in dieser Form nicht kennen. Die Hochschullandschaft wird von staatlichen Hochschulen geprägt,[1] deren rechtliche Struktur den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes – bezogen auf das einzelne Bundesland auch der Landesverfassung – entsprechen muss. Auf der einen Seite genießen die Hochschulen mit der Wissenschaftsfreiheit einen besonderen staatlichen Schutz, auf der anderen Seite sind sie als staatliche Einrichtungen selbst verpflichtet, die Grundrechte ihrer Mitglieder und anderer zu beachten, Grundrechtsbindungen ergeben sich aus der „Freiheit von Forschung und Lehre“ nach Art. 5 III 1 GG, aus der Freiheit der Berufswahl nach Art. 12 I GG und aus dem übergreifenden Gleichheitssatz nach Art. 3 GG mit dem Anspruch auf Gleichbehandlung; aber auch andere Grundrechte können eine Rolle spielen.[2] Für die deutlich wachsende, aber immer noch kleine Zahl nichtstaatlicher Hochschulen, die sich vor allem über Studiengebühren, längerfristig engagierte Sponsoren und private Spenden finanzieren, gilt das nicht in gleicher Weise. Nichtstaatliche Hochschulen brauchen jedoch eine staatliche Anerkennung, für deren Erteilung die Einhaltung einer Reihe von Vorgaben Voraussetzung ist (§ 70 II LHG).[3] Ohne eine solche staatliche Anerkennung kann die Verwendung des Begriffs „Hochschule“ oder einer ähnlichen Bezeichnung als Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße bis zu 100 000 Euro geahndet werden (§ 75 II und III LHG).

116

Innerhalb der Hochschule kommt es zwangsläufig zu einer kontinuierlichen Kollision der angesprochenen Grundrechte, weil die Interessenlage der verschiedenen Mitglieder der Hochschule ganz unterschiedlich ist .[4] Die Konfliktlage hat sich über Jahrzehnte hinweg in einer umfangreichen Rechtsprechung niedergeschlagen und zu einer langen Reihe von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und der Verfassungsgerichtshöfe der Länder geführt, die das Deutsche Hochschulrecht prägen. Das erklärt gleichzeitig, warum das Hochschulrecht in der Vergangenheit außerordentlich detaillierte Regelungen enthielt und – trotz aller Bemühungen um eine Deregulierung – z.T. bis heute noch enthält. Erneut bestätigt wird dieser Befund durch das im März 2018 vom Landtag von Baden-Württemberg verabschiedete Gesetz zur Weiterentwicklung des Hochschulrechts (HRWeitEG), mit dem die Landesregierung auf ein Urteil des Verfassungsgerichtshofs Baden-Württemberg (VerfGH BW) v. 14.11.2016 reagiert hat. In diesem Urteil nimmt der VerfGH die gesetzliche Gesamtstruktur in den Blick und kommt zum Ergebnis, dass einzelne Bestimmungen zum Zeitpunkt der Entscheidung im Jahr 2016 eine strukturelle Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit darstellen und damit unvereinbar mit Art. 20 I LV sind.[5]

117

Als Träger der staatlichen Hochschulen hat das jeweilige Bundesland – in Ausnahmefällen auch der Bund – eine übergreifende Verantwortung dafür, dass die Hochschulen die ihnen übertragenen Aufgaben erfüllen und dabei die angesprochenen Grundrechte beachten. Diesem Zweck dienen die Regelungen in den Landeshochschulgesetzen, aber auch einzelne Entscheidungen der Politik zu Hochschulstandorten, zum Fächerausbau und zu Schwerpunktbildungen.[6] Diese verfassungsrechtliche Einbettung des deutschen Hochschulsystems dient Freiheit und Gerechtigkeit, engt aber gleichzeitig die Gestaltungsspielräume ein. Jede Verletzung eines der genannten Grundrechte kann Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht oder dem zuständigen Landesverfassungsgericht sein, die im Erfolgsfall zu einer Aufhebung der beanstandeten Regelung führt – aus Gründen der Rechtssicherheit manchmal auch zeitlich hinausgeschoben.

118

Für das Verständnis des deutschen Hochschulrechts und der einzelnen landesspezifischen Regelung ist es unverzichtbar, sich eingehend mit der Rechtsprechung des BVerfG und des jeweiligen Landesverfassungsgerichts auseinanderzusetzen. In der nachfolgenden Darstellung wird deshalb auf diese Rechtsprechung bewusst ausführlich eingegangen. Oft geht es in diesen Entscheidungen um kleine Nuancen in der Formulierung. Pauschale Verweisungen auf Entscheidungen ohne Auseinandersetzung mit dem konkreten Entscheidungstext sind deshalb wenig hilfreich. Das gilt vor allem für die konkrete Bestimmung des geschützten Bereichs der in Art. 5 III 1 GG und Art. 20 I LV garantierten „Freiheit von Forschung und Lehre“, die nicht nur für den Hochschullehrer oder die Hochschule, sondern auch für die staatliche Gemeinschaft von herausragender Bedeutung ist. Welche Herausforderung die Grundrechte in der praktischen Umsetzung mit sich bringen, wird deutlich, wenn man sich bewusst macht, dass innerhalb der Hochschule ständig divergierende, durch Grundrechte geschützte Interessen aufeinanderprallen.[7] Die Notwendigkeit, die gegenläufigen Interessen adäquat zu den Grundrechten auszubalancieren, bestimmt also seit Jahrzehnten die Hochschulgesetzgebung in Deutschland.

2. Kapitel Rechtsstellung und Organisation der Hochschulen › A. Staat und Hochschulen › II. Die Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 III 1 GG)

II. Die Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 III 1 GG)

119

Die größten Fortschritte in der Entwicklung der Menschheit verdanken wir einzelnen nach Erkenntnis und Wahrheit suchenden Protagonisten. Politische Ideologien oder religiöse Überzeugungen bewirkten meist das Gegenteil: die Suche nach Wahrheit und Erkenntnis wurde reglementiert, eingeschränkt oder vollkommen unterdrückt. Blickt man zurück – immer markieren neu gewonnene wissenschaftliche Erkenntnisse den Beginn einer neuen Epoche. Nicht immer wurde wissenschaftliche Erkenntnis zum Wohl der Menschen eingesetzt. Die Verantwortung dafür aber tragen die Handelnden, die das Wissen nutzen. Jede Art von Wissen kann missbraucht werden. Erkenntnis ist wertneutral. Auch wenn Wissenschaft nur nach Erkenntnis sucht, trägt sie doch auch Verantwortung; sie muss auf Gefahren und Risiken, die mit einem bestimmten Wissen verbunden sind, hinweisen, muss warnen und muss möglicherweise sogar aus ethischen Gründen darauf verzichten, Wissen zu vertiefen. Das Wissen, über das wir heute verfügen, offenbart auch, vor welchen enormen Problemen wir stehen. Schon immer war der Mensch den Kräften der Natur ausgeliefert, heute hat er zumindest in begrenztem Umfang die Chance, Entwicklungen im Rahmen seiner Möglichkeiten zu beeinflussen. Eine Reihe von z.T. selbst verursachten Risiken bedrohen die Fortentwicklung oder sogar den Fortbestand der menschlichen Zivilisation. Eine Lösung kann nur im Vertrauen auf die Wissenschaft und mit deren Hilfe gelingen.[8] Die Freiheit der Wissenschaft hat also existentielle Bedeutung.

120

„Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“. Mit dieser knappen Formulierung kommt in Art. 5 III 1 GG der Schutz der Wissenschafts- und Kunstfreiheit zum Ausdruck. Im Unterschied zu anderen Freiheitsrechten wird in Art. 5 III 1 GG der Träger des Freiheitsrechts[9] nicht genannt. Dem Wortlaut nach bezieht sich die verfassungsrechtliche Bestimmung auf die genannten Tätigkeitsfelder, nämlich Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre. Von den anderen in Art. 5 GG genannten Grundrechten, der Meinungsfreiheit und den Medienfreiheiten, unterscheiden sich die Wissenschafts- und die Kunstfreiheit insbesondere dadurch, dass für sie der in Art. 5 II GG geregelte Gesetzesvorbehalt nicht gilt. Dem Gesetzgeber sind Eingriffe in die Wissenschafts- und Kunstfreiheit verwehrt. Dennoch gelten auch für die Wissenschafts- und die Kunstfreiheit immanente Schranken, die sich aus dem notwendigen Schutz kollidierender Grundrechte ergeben.[10] Wie die Unterdrückung der Kunstfreiheit in totalitären Systemen zeigt, besitzt die Kunstfreiheit für eine freiheitlich- demokratische Gesellschaft eine vergleichbar hohe Bedeutung wie die Wissenschaftsfreiheit. Auch ohne ausdrückliche Erwähnung gelten die nachfolgenden Ausführungen zur Wissenschaftsfreiheit entsprechend auch für die Kunstfreiheit.

121

Der Schutz der Wissenschaftsfreiheit hat mehrere Facetten:


Schutz des einzelnen Wissenschaftlers vor unmittelbaren staatlichen Eingriffen in seine wissenschaftliche Tätigkeit (absolutes und vorbehaltloses Abwehrrecht gegen Eingriffe in den Kernbereich der wissenschaftlichen Tätigkeit),
Schutz der Wissenschaftler in einer wissenschaftlichen Organisation vor organisatorischen oder strukturellen Regelungen, die die Freiheit der wissenschaftlichen Arbeit verletzen oder zumindest strukturell gefährden,