Die fünfte Jahreszeit

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Das Ermittlungsteam hatte sich diesmal im Konferenzraum versammelt. Wie im gesamten Polizeipräsidium herrschte auch hier eine nüchterne und kühle Arbeitsatmosphäre. Ein Konferenztisch aus hellem Holz dominierte umsäumt von Metallschwingern mit grünen Sitzflächen den Raum. Jemand hatte die Whiteboards mit den Tatortfotos zu beiden Seiten eines Fernsehbildschirmes aufgestellt.

Davor stand ein ernst blickender Fricke. »Bisher wurden beide Fälle von uns separat bearbeitet, doch jetzt haben sich die Dinge geändert. Wie es aussieht, gibt es eine Verbindung zwischen den Morden. Brodersen, Sie sind dran.«

Malin hielt vier Taschenbücher in die Höhe – Bände von Charlotte Leonberger. Vereinzeltes Lachen war zu hören.

»Das gibt’s doch nicht, jetzt kommt die wieder mit ihrer Krimitheorie«, kam es von Andresen. »Brodersen, wir befinden uns hier in Hamburg. Wir haben vielleicht ein Drogen­problem, aber doch keinen verrückten Serienmörder aus einem deiner Psychothriller.« Er schlug sich auf die Schenkel.

»Lass sie doch erst einmal anfangen«, mischte Bartels sich ein.

»Von mir aus, ich bin es ja schließlich nicht, der sich blamiert«, erwiderte Andresen achselzuckend.

»Fangen Sie an, Brodersen«, forderte Fricke sein jüngstes Teammitglied auf.

»Also gut. Es gibt verschiedene Verbindungen, die uns immer wieder zu einer Person führen. Charlotte Leonberger.« Malin machte eine kurze Pause und sammelte sich, bevor sie mit fester Stimme fortfuhr. »Der Mörder hat, sowohl beim Torhausmord als auch beim Fabrikmord, die Tatorte aus den Krimis von Charlotte Leonberger detailgetreu nachgestellt. Er benutzt sozusagen ihre Bücher als Anleitung für seine Morde.« Sie zog aus ihrer Tasche einen Stapel Papiere und verteilte sie an ihre Kollegen. Das letzte Exemplar drückte sie ihrem Vorgesetzten in die Hand. »Ich habe euch die entsprechenden Stellen markiert. Bevor ihr irgendetwas sagt, lest es.«

Die Teammitglieder folgten der Aufforderung. Nur von Sven Andresen war verhaltenes Lachen zu hören, während er die Seiten durchblätterte und schließlich beiseitelegte. »Das ist doch ein Witz, oder? Müssen wir uns von dieser Miss Marple wirklich einen solchen Bockmist erzählen lassen?«

»Sven, halt den Mund. Brodersen, fahren Sie fort«, wies Fricke Malin an.

Andresens Gesicht färbte sich feuerrot.

»Es gibt noch weitere Hinweise, die uns zu Charlotte Leon­berger führen. Ich hatte gestern ein interessantes Telefonat mit Henriette Woy, der Witwe unseres ersten Opfers. Sie hat bestätigt, dass ihr Mann die Krimiautorin kannte. In den Siebzigern war er ihr Kinderarzt. Auch zwischen Viktoria Steiner und Charlotte Leonberger gibt es eine Verbindung. Ich habe in der Wohnung der Toten alle vier Krimibände gefunden, alle mit persönlicher Widmung. Charlotte Leonberger …« Sie legte die signierten Bände vor sich auf den Tisch und ließ dann die Bombe platzen. »Charlotte Leonberger war die beste Schulfreundin von Viktoria Steiner. Falls jemand an der Richtigkeit meiner Aussage zweifeln sollte: Ihr findet im Anhang eine Klassenliste aus dem Jahr 1977«, beendete Malin ihren Bericht. Ihr Herz pochte und ihre Hände zitterten.

Es blieb still. Alle anwesenden Augenpaare sahen erst zu Malin und dann zu Fricke.

Fricke räusperte sich. »Sie haben mich überzeugt, Brodersen, wir werden der Sache nachgehen.«

»Aber das ist doch total irre, was für ein Verrückter kommt auf so eine Idee?«, fragte Ole Tiedemann. Sein ohnehin blasses Gesicht wirkte jetzt kreidebleich.

»Es ist unsere Aufgabe, das rauszufinden, Ole. Ich befürchte nur, wir werden uns fachliche Unterstützung holen müssen.« Fricke wendete sich wieder Malin zu. »Mal abgesehen von Ihren Privatermittlungen, was hat die Befragung von Eliza­beth Völkers ergeben?«

Malin wechselte einen kurzen Blick mit dem übernächtigt aussehenden Bartels. »Ich habe sie gestern noch aufgesucht. Sie hat den Montagabend mit Viktoria Steiner in einer Weinstube am Großneumarkt verbracht. Gegen elf sind beide aufgebrochen. Getrennt. Viktoria Steiner war mit dem Wagen da, Völkers hat ein Taxi genommen«, berichtete Malin.

»Wurde das überprüft?«

»Das Taxiunternehmen hat die Angaben bestätigt.«

»Der Mörder könnte sie auf dem Weg zum Auto abgepasst haben.«

»Wurde denn das Auto schon gefunden?«, ertönte eine dunkle Stimme. »Vielleicht hat der Mörder sein Opfer auch vor der Tür abgepasst.« Malin sah neugierig zu der brünetten Frau, die zwischen den anderen Ermittlern saß. Die Beamtin war von kräftiger Statur und trug ihr Haar zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden. Dass auffälligste Merkmal waren ihre zahlreichen Sommersprossen und das tiefe Timbre ihrer Stimme.

»Nele Richter vom KDD«, erklärte Fricke, »war eine der ersten Kollegen vor Ort beim Torhausmord. Sie wurde uns vorübergehend zur Unterstützung zugeteilt. Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Und ein guter Einwand, den Sie vorgebracht haben. Das können Sie dann auch gleich überprüfen. Fred, du befragst die Leute in der Weinstube. Sven und Ole, ihr knöpft euch die Familie und Nachbarn vor. Sie, Brodersen, kümmern sich um die Adresse von dieser Krimiautorin.«

»Habe ich bereits.«

»Gut. Dann werden wir beide der Dame einen Besuch abstatten.« Er klatschte in die Hände. »So, Leute. An die Arbeit. Fred, Sven und Brodersen, hierbleiben.«

Fricke wartete, bis der Rest der Ermittlungsgruppe den Raum verlassen hatte, dann schaute er von Malin zu Bartels. »So, ihr beiden, und jetzt erklärt mir mal, warum Brodersen alleine eine wichtige Zeugin befragt. Woher wollt ihr wissen, dass sie nichts mit dem Mord an Viktoria Stein zu tun hat?«

»Tja, Hans, also das war so …«, begann Bartels.

»Es war meine Schuld, Chef.« Betreten sah Malin zu Boden. »Frederick hat gesagt, ich soll Andresen mitnehmen, aber irgendwie bin ich dann alleine los. Es tut mir leid.«

»Verdammt, Brodersen, ich habe Ihnen doch neulich schon gesagt – keine Alleingänge. Schreiben Sie sich das gefälligst hinter die Ohren. Sie sind noch viel zu unerfahren. Und was Ihre ständigen Kabbeleien mit dem Kollegen Andresen angeht, klärt das, wir haben für solchen Kinderkram keine Zeit.« Er warf Andresen, der noch immer auf seinem Platz saß und Kaugummi kaute, einen finsteren Blick zu. Dann schaute er auf seine Uhr. »Ich muss noch einige Telefonate führen. Brodersen, wir treffen uns in zwei Stunden. Sie können jetzt gehen.«

Das ließ sich Malin nicht zweimal sagen. Schnell folgte sie Bartels aus dem Raum.

Sie hatten gerade beschlossen, eine Kleinigkeit essen zu gehen, als Fricke nochmals seinen Kopf aus der Tür streckte. »Fred, eins noch: Sorg bitte dafür, dass die Völkers noch mal zur Aussage aufs Präsidium kommt. Und, Brodersen?«

»Ja, Chef?«

»Mal abgesehen von der Sache mit dem Verhör – gute Arbeit, Mädchen. Sie sind hartnäckig, das gefällt mir.« Sein Kopf verschwand wieder im Inneren des Raumes.

Unmittelbar darauf drang lautes Gebrüll durch die geschlossene Tür, teils von Hauptkommissar Fricke, teils von Kriminaloberkommissar Sven Andresen.

Zwanzig Minuten später bog Malin in die Gertigstraße ein. Glücklicherweise fanden sie auf Anhieb einen Parkplatz.

Bartels beförderte seine langen Beine umständlich aus dem Mini. »Ich finde es ja nett von dir, dass du mich zum Essen einlädst, aber nächstes Mal fahre ich. Dein Auto ist ja nur was für Zwerge.«

»Danke. Schau, da ist es.« Malin wies auf einen unscheinbaren Laden mit großer Fensterfront. Durch die Scheibe konnte man die schlichte Einrichtung erkennen: Stehtische mit rot-weiß karierten Lackdecken und eine Ladentheke mit italienischen Spezialitäten. Auf einer Tafel waren in kritzeliger Schrift die Tagesgerichte notiert.

»Du lädst mich in einen Stehimbiss ein?«, fragte Bartels irritiert.

»Das ist kein Stehimbiss. Das ist der beste Italiener der Stadt, du wirst schon sehen.«

»Bester Italiener? Deswegen ist wohl auch erst ein Tisch belegt?«

»Fred, jetzt maul nicht rum, es ist noch nicht mal zwölf. Warte mal ab, was hier in einer Stunde los ist.«

Die Türglocke kündigte ihr Eintreffen an. Eine rundliche Italienerin mittleren Alters trat durch einen Kettenvorhang. Als sie Malin erkannte, erhellte sich ihr Gesicht und sie breitete die Arme aus.

»Commissaria, wie schön, Sie mal wieder zu sehen. Kommen Sie, lassen Sie sich drücken.« Sie umarmte Malin herzlich und musterte sie dann eingehend. »Aber Commissaria, Sie sind ja ganz dünn geworden. Dagegen müssen wir etwas tun. Lassen Sie mich nur machen. Ich habe gerade eine vorzügliche Pasta fertig.« Sie tätschelte Malin die Wange.

Bartels starrte seine Kollegin ungläubig an, seine unausgesprochene Frage schien ihm regelrecht auf die Stirn geschrieben.

»Gut, dann nehmen wir zweimal von der Pasta«, beschloss Malin.

»Commissaria, wer ist denn Ihr hübscher junger Freund?«

Malin stellte sie einander vor. Emilia zwinkerte Bartels zu und verschwand dann in Richtung Küche.

»Commissaria …?«, fragte Bartels.

»Warum nicht? Hört sich doch gut an, außerdem sind wir schon alte Freunde, Emilia und ich.« Malin zuckte die Achseln.

»Warum hast du eigentlich nicht mit mir geredet, Malin?«

»Worüber?«

»Tu nicht so, das weiß du doch genau.«

»Gegenfrage: Hättest du mir denn geglaubt?«

»Eins zu null für dich. Aber sag mal, wann hast du das alles überhaupt rausgefunden?«

»Du meinst den Zusammenhang mit den Büchern?«

Bartels nickte. Malin erzählte ihm von ihrem Déjà-vu beim Anblick der Torhausleiche, dem tagelangen Durchforsten der Bücher und dem letztendlich entscheidenden Hinweis, der die beiden Morde miteinander verknüpfte.

 

»Ganz schön abenteuerlich.«

Malin runzelte die Stirn. »Weißt du, was mir wirklich Kopfschmerzen bereitet? Die Tote hatte doch diese Münze um den Hals hängen. Davon stand nichts in dem Buch.«

»Es könnte auch einfach nur eine Kette gewesen sein. Frauen tragen so etwas. Malin, du solltest dich wirklich nicht zu sehr auf die Sache einschießen, vielleicht erweist sich das alles doch noch als Sackgasse.«

Malin schüttelte den Kopf. »Das wird es nicht. Ah, da kommt das Essen.«

Emilia hatte sich eine Schürze um die Hüften gebunden, was sie noch dicker erscheinen ließ, und trug ein großes Tablett vor sich her. Sie stellte zwei Teller mit dampfender Pasta und einen Brotkorb auf den Tisch. Dann stellte sie noch unaufgefordert eine Karaffe mit Wein dazu. Bartels hob sofort abwehrend die Hände.

»Ein kleines Schlückchen wird auch Ihnen gut tun, Commissario. In Italia trinkt jeder mittags Wein. Egal, ob Straßenfeger oder Polizist. Salute«, entgegnete Emilia resolut und verschwand wieder hinter ihrem Tresen.

Mit kauenden Backen grinste Bartels Malin an.

»Mmh, lecker«, sagte er, nachdem er seinen letzten Bissen mit einem Schluck Wein hinuntergespült hatte. Sein Teller war blitzblank. »Malin, ich muss sagen, du hattest recht. Das Essen ist geradezu fantastisch.« Alle Tische in dem kleinen Lokal waren mittlerweile belegt und um sie herum herrschte lautes Stimmengewirr.

Malin schob ihren Teller beiseite. »Was war eigentlich gestern Nachmittag los? Warum konntest du nicht mit zur Völkers kommen?«

Ein Schatten flog über Bartels’ Gesicht. »Meine Frau hat mich nach Hause zitiert, um mir ein Ultimatum zu stellen. Ich soll bis Ende der Woche ausziehen, sonst tauscht sie die Schlösser aus und meine Sachen landen auf dem Sperrmüll.«

»Das kann sie doch nicht machen«, entgegnete Malin erbost. »Wer von euch beiden ist schließlich fremdgegangen? Ja wohl nicht du. Lass dir das bloß nicht gefallen.«

»Und du? Wir sprechen immer nur von mir. Bist du mit jemandem zusammen?«

Malin starrte auf ihr Wasserglas. »Zur Zeit nicht.« Diese Gesprächswendung behagte ihr nicht.

»Aber es gab jemanden?«, hakte Bartels nach.

»Natürlich, ich bin schließlich keine Nonne.«

»Das wäre auch zu schade.« Seine dunklen Augen musterten sie eingehend.

»Wir sollten jetzt lieber gehen«, entgegnete Malin spröde. »Ich möchte nicht riskieren, dass Fricke ohne mich zu Charlotte Leonberger fährt.«

Die Fahrt nach Strande dauerte fast anderthalb Stunden.

Fricke wirkte angespannt. Schweigsam saß er am Steuer seines Dienstwagens und lauschte seiner ABBA-CD. Malin nutzte die Zeit, um einige Telefonnotizen durchzugehen, die ihr Tiedemann noch kurz vor der Abfahrt in die Hand gedrückt hatte.

Zwei waren von ihrer Mutter. Die konnten warten. Eine weitere Nachricht war von Ingrid Larsen. Malin runzelte die Stirn. Was konnte die wollen? Sie griff nach ihrem Handy und wählte die angegebene Nummer. Niemand hob ab.

»Haben Sie unseren Besuch angekündigt?«, fragte Fricke. Sie hatten mittlerweile die A7 verlassen und fuhren die B503 Richtung Eckernförde.

»Sie meinen bei der Leonberger? Ja, das habe ich schon vom Präsidium aus gemacht.«

»Was haben Sie ihr gesagt? Warum wir kommen, meine ich.«

»Gar nichts. Interessanterweise schien sie nicht im mindesten überrascht über meinen Anruf«, entgegnete Malin und genoss für einen Moment die Aussicht auf den Nordostseekanal.

Fünfzehn Minuten später parkte Fricke den Dienstwagen vor einem reetgedeckten Haus. Solange ihr Vorgesetzter noch mit seinen Unterlagen kämpfte, schaute sich Malin draußen ein wenig um.

Das Haus von Charlotte Leonberger stand auf einer kleinen Anhöhe direkt an der Uferpromenade nur wenige Meter vom Strand entfernt. Eine Handvoll Bäume und eine zwei Meter hohe Hecke schützten die Bewohner vor neugierigen Blicken. Die Fassade war rot geklinkert und die vielen Sprossenfenster waren weiß lackiert. Kleine halbrunde Fenster lugten aus dem Reetdach hervor. Die Vorderfront des Gebäudes war von oben bis unten verglast und bildete einen reizvollen Kontrast zum Rest des Hauses.

Endlich schien Fricke alle nötigen Dinge in seiner abgewetzten Ledertasche verstaut zu haben. Er ging an Malin vorbei und trat mit energischen Schritten durch die Holzpforte. »Jetzt kommen Sie schon, Brodersen. Sie werden heute die Befragung durchführen.«

Malin zögerte. Und was, wenn sie doch falsch lag? Sie schüttelte den Gedanken ab, trat entschlossen neben Fricke und betätigte die Klingel.

Die Tür wurde geöffnet und eine ältere Frau mit dunklen Knopfaugen stand vor ihnen. Malin stellte sich und ihren Chef vor.

Die Frau reichte ihnen die Hand. »Ich bin Alma Leonberger. Charlottes Tante. Sie hat mir schon gesagt, dass Sie kommen. Leider wird sie erst in ein paar Minuten zurück sein. Kommen Sie doch bitte herein.« Sie trat ein Stück beiseite und ließ sie eintreten. »Hier entlang.« Sie wies zum Wohnzimmer.

Der Raum war komplett in hellen Tönen eingerichtet. Die Farbpalette reichte von weiß über creme bis zu einem Dunkelbeige. Das Eichenparkett war weiß lasiert. Malins Blick flog automatisch zu der verglasten Fensterfront, die eine atemberaubende Aussicht auf die wogende Ostsee bot.

Alma Leonberger war neben sie getreten. »Am schönsten ist es während der Kieler Woche. Sie können die Windjammerparade direkt hier vom Fenster aus sehen. – Käffchen?«

Malin und Fricke nickten beinahe gleichzeitig.

»Die scheint ja auch nicht im mindesten überrascht zu sein, uns hier zu sehen, Brodersen«, flüsterte Fricke seiner Mitarbeiterin zu, nachdem Alma Leonberger aus dem Raum geeilt war. »Sieht aus, als hätten Sie den richtigen Riecher gehabt. Wo bleibt denn nun diese Autorin?«

Malin zuckte die Achseln und schaute sich um. Im Wohnzimmer gab es nicht ein einziges Bücherregal. Ungewöhnlich für eine Schriftstellerin, dachte sie und beschloss nachzusehen, wo Alma Leonberger geblieben war. Sie wandte sich zur Tür und blieb abrupt stehen.

Eine Frau in Jeans und heller Seidenbluse lehnte im Türrahmen und beobachtete die beiden Kriminalbeamten. Sie war groß und schlank und hatte langes feuerrotes Haar. Ihre tiefgrünen Augen sahen Malin unverwandt an. Dann glitt ihr Blick weiter zu Fricke, der ihr den Rücken zuwandte und die Bilder auf dem Kaminsims betrachtete. Malin erkannte die Frau mit dem eindrucksvollen Gesicht sofort. Vor ihnen stand Charlotte Leonberger.

»Schauen Sie mal, Brodersen, dass muss sie sein. Sieht gar nicht aus wie eine Krimiautorin.« Fricke drehte sich zu Malin um und hielt ihr einen silbernen Rahmen hin.

»Wie muss denn eine Krimiautorin Ihrer Meinung nach aussehen?« Charlotte Leonberger trat auf ihn zu und nahm ihm das Bild aus der Hand.

Amüsiert bemerkte Malin die leichte Röte, die jetzt das Gesicht ihres Vorgesetzten überzog. Umgehend straffte sich seine ganze Statur, und er strahlte Autorität und Selbstsicherheit aus. »Fricke, Kriminalpolizei Hamburg. Meine Kollegin Brodersen. Ich nehme an, Sie sind die Autorin von diesen abstrusen Krimis.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung.

Charlotte Leonberger zog ihre linke Augenbraue hoch. Ihr geringschätziger Blick wanderte über Frickes Kleidung. Er trug eine seiner ausgeleierten Cordhosen und eine abgewetzte Wachsjacke. Sein kariertes Hemd hatte sich mal wieder verselbständigt und hing mit einem Zipfel aus der Hose. Sein Haar war vom Küstenwind zerzaust und stand wild vom Kopf ab. Er bemerkte die Musterung und strich sich unwillkürlich über die Haare. Wieder stieg eine leichte Röte in sein Gesicht. Malin musste sich ein Lachen verkneifen. Schöne Frauen brachten ihren Chef leicht aus der Fassung.

»Ich habe Ihre Bücher gelesen«, entfuhr es Malin.

Charlotte Leonberger lächelte sie kurz an und wies dann auf die weißen Ledersofas. »Setzen wir uns.«

»So, da bin ich wieder.« Alma Leonberger kam mit einem großen Tablett herein. »Bitte, greifen Sie zu.« Sie wies auf die Kaffeetassen und eine Schale mit Gebäck.

Fricke ließ sich nicht zweimal bitten und griff nach den Keksen. »Selbstgebacken? Die sind gut.« Genüsslich kauend lehnte er sich ins Sofa zurück. Alma Leonbergers runzeliges Gesicht strahlte ihn kurz an, bevor sie wieder den Raum verließ.

»Warum kommen Sie erst jetzt?«, fragte die Krimiautorin an Malin gewandt.

Die Frage brachte Malin aus dem Konzept. »Sie wissen von den beiden Morden? Warum haben Sie sich dann nicht bei uns gemeldet?«, fragte sie irritiert, während Fricke unbeeindruckt zum zweiten Mal in die Gebäckschale griff.

»Aber das habe ich doch. Allerdings hat mich Ihr Kieler Kollege nicht gerade besonders ernst genommen. Aber Moment mal, Sie sagten da gerade etwas von zwei Morden? Habe ich das richtig verstanden?«

»Ja, wir ermitteln in Hamburg zur Zeit in zwei Mordfällen. Wir haben Grund zu der Annahme, dass Sie mit beiden Opfern bekannt waren.«

»Dann kommen Sie gar nicht wegen der Anrufe?«, fragte Charlotte Leonberger überrascht.

»Von welchen Anrufen reden Sie da?«, mischte sich Fricke ein.

»Ich habe zwei anonyme Anrufe erhalten. Beide Male wurden Textstellen aus meinen Krimis zitiert. Beim ersten dachte ich noch an einen Scherz, beim zweiten habe ich die Polizei alarmiert.«

»Was für Textstellen?«, fragte Malin.

»Aus meinen ersten beiden Bänden. Frühjahrssterben und Blutiger Sommer. Soll ich Ihnen die Bücher holen?«

»Nicht nötig, ich habe sie dabei.« Malin zog die Bücher aus der Tasche und reichte sie der Autorin.

Die hob ungläubig die Augenbrauen. »Na, Sie scheinen wirklich ein Fan zu sein.« Sie blätterte die Seiten des ersten Bandes durch, schlug eine Seite auf und reichte das Buch an Malin zurück.

Stirnrunzelnd las Malin die bekannten Zeilen und reichte den Band an Fricke weiter. »Wann haben Sie die anonymen Anrufe bekommen?«

»Der erste kam übers Handy. Da war ich auf Autorenlesung. Ich glaube, es war vorletzte Woche, Donnerstag. Wie gesagt, da bin ich noch von einem Scherz ausgegangen.«

»Und der zweite?«

»Das weiß ich noch genau, weil ich an dem Tag von meiner Reise zurückgekommen bin. Das war am letzten Donnerstag.«

Malin und Fricke wechselten einen bedeutsamen Blick, der auch der Krimiautorin nicht verborgen blieb.

»Könnten Sie mich jetzt bitte darüber aufklären, was hier überhaupt los ist?«, bat Charlotte Leonberger. »Hat es etwas mit dem Tod von Dr. Woy zu tun?«

Malin nickte. »Wenn Ihnen die Medienberichte bekannt sind, dürften Ihnen die Gemeinsamkeiten mit einem Ihrer Bücher nicht entgangen sein. Sie kannten Dr. Woy?«

»Ja, ich kannte ihn. Allerdings habe ich ihn seit fast dreißig Jahren nicht mehr gesehen. Erst meine Tante hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass der Tote vom Torhaus mein Kinder­arzt war. Und natürlich habe ich auch die Ähnlichkeiten zu meinem ersten Krimi bemerkt. Leider hat mich bei der Polizei ja niemand wirklich ernst genommen – bis jetzt. Aber was meinen Sie eigentlich damit, ich wäre mit beiden Opfern bekannt?«, fragte sie hörbar verunsichert.

Malin zog ein Foto von Viktoria Steiner aus der Tasche und hielt es ihr hin. »Kennen Sie diese Frau?«

»Oh Gott, das ist Vicki. Was ist mir ihr?«

»Frau Steiner wurde vor zwei Tagen ermordet aufgefunden.«

Die Krimiautorin schlug für einen Moment die Hände vors Gesicht. Als sie wieder aufblickte, schimmerten ihre Augen feucht. »Wie ist sie gestorben?«, fragte sie mit belegter Stimme. »Sie brauchen mich nicht zu schonen. Ich habe selbst über jede Menge solcher Dinge geschrieben.«

Malin schob ihr den zweiten Band der Krimireihe zu. Blutiger Sommer. Sie wies auf die Textstelle der aufgeschlagenen Seite. Charlotte Leonberger sah irritiert auf das vor ihr liegende Buch. Dann wurde sie bleich.

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