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2. Die Konstitutionalisierung von Verwaltung und Verwaltungsrecht

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Dem Diktum Otto Mayers über die verfassungsrechtliche Neutralität des Verwaltungsrechts erteilt das Grundgesetz eine klare Absage. Indem es erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte eine auch im europäischen Vergleich jener Zeit ungewöhnliche unmittelbare Bindung aller Staatsgewalten, auch des Gesetzgebers, an die Grundrechte anordnet (Art. 1 Abs. 3 GG), entzieht es einem Selbststand des einfachen Rechts, auch des Verwaltungsrechts, den Boden[188] und legt damit die Grundlage für einen Konstitutionalisierungsprozess, der erst zu Beginn der 1990er Jahre seinen Höhepunkt erreichen sollte.[189] Diese Transformation hat durchaus Anlass zu Kritik gegeben. Ernst Forsthoff sah sich schon 1971 zu der polemischen Aussage veranlasst, die Bundesrepublik sei, weil es ihr an „Souveränität im Sinne der höchsten und fortdauernden Gewalt“ fehle, „kein Staat im hergebrachten Sinne“ mehr: Im 19. Jahrhundert hätte einen solchen Staat „ein leiser Hauch der Geschichte dahingeweht“.[190]

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Die Konstitutionalisierung[191] des deutschen Verwaltungsrechts ist vor allem die Geschichte seiner „Vergrundrechtlichung“.[192] Im Zusammenspiel mit den formellen Aspekten des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG), mit der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, dem Vorrang und dem Vorbehalt des Gesetzes, wird die entschiedene Ausrichtung der Rechtsordnung auf die Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen ins Werk gesetzt. Die Grundrechte durchdringen nahezu jeden Winkel der Rechtsordnung, und jeder bedeutendere Akt der Rechtspolitik wird in einen Ableitungszusammenhang zur Verfassung gebracht.[193] Dies birgt ein erhebliches Konfliktpotenzial für den europäischen Rechtsraum, dessen Verwaltungsrecht nicht in gleicher Weise durch diktatorische Erfahrungen unterlegt ist.

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Dogmatische Grundlage dieser Entwicklung ist zum einen, dass sich das Bundesverfassungsgericht in seinem Elfes-Urteil von 1957[194] auf einen weiten Schutzbereich der Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG, später als Allgemeine Handlungsfreiheit interpretiert) festlegt, mit der Folge, dass jede dem Staat zurechenbare Belastung aus der Sicht des Bürgers einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff darstellt und ihm daher, gestützt auf Art. 2 Abs. 1 GG, ein Anspruch auf Freiheit vor gesetzlosem wie gesetzwidrigem Zwang zukommt,[195] und zum anderen die in ihrer langfristigen Wirkung kaum zu überschätzende Weichenstellung des Lüth-Urteils von 1958, nach der die Grundrechte nicht nur als Abwehrrechte, sondern auch als objektive Wertentscheidungen verstanden werden.[196] Seitdem wird von Jurastudenten in fast jeder verwaltungsrechtlichen Klausur eine Prüfung verfassungs- und insbesondere grundrechtlicher Aspekte verlangt, was die Internalisierung dieser Konstitutionalisierung in der Breite nachhaltig befördert: Heute diskutieren Demonstranten und Polizei den Verlauf von Aufzügen nach Maßgabe verfassungsgerichtlicher Urteile.

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Die Konstitutionalisierung des deutschen Verwaltungsrechts erfolgt freilich nicht über Nacht. Sie stand den Akteuren in Verwaltung, Verwaltungsgerichtsbarkeit und Verwaltungsrechtswissenschaft zudem keineswegs als kohärentes „Programm“ vor Augen. Obwohl Fritz Werner bereits 1959, und zwar in denkbar mächtiger Position als Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, die Formel vom „Verwaltungsrecht als konkretisierte[m] Verfassungsrecht“ kreiert hatte,[197] und damit das Leitmotiv für eine flächendeckende Umwertung und Neuausrichtung nahezu des gesamten Verwaltungsrechts in den folgenden Jahrzehnten, war dies doch ein schwieriger Prozess, in dem sich immer wieder neue „Baustellen“ auftaten; Zweifel werden erst seit den achtziger Jahren verstärkt geäußert.[198]

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Etwa ab Mitte der 1960er Jahre löst die Entfaltung des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts im Allgemeinen und der Grundrechte im Besonderen unter dem Signum der sog. Wesentlichkeitsdoktrin[199] schließlich einen bis dahin ungekannten Verrechtlichungsschub aus, dem durch die Normativität der Verfassung und ihre unmittelbare Anwendbarkeit auf die Rechtsverhältnisse zwischen Bürger und Staat zusätzlicher Nachdruck verliehen wird. Die Fälle reichen vom Strafvollzug über das Schul- und Hochschulrecht bis zum Standesrecht der freien Berufe.

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Betrachtet man die rechtsstaatliche Expansion des klassischen deutschen Verwaltungsrechts, so lassen sich namentlich die Entfaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips (a), die Beseitigung grundrechtsfreier Räume (b) sowie die Bewältigung von Leistungsverwaltung (c) und informalem Verwaltungshandeln (d) als wesentliche Etappen ausmachen – auch in chronologischer Hinsicht.

a) Die Entfaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips

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Aus der Retrospektive lässt sich feststellen, dass die Konstitutionalisierung des Verwaltungsrechts in gewisser Weise mit der Entdeckung bzw. Verallgemeinerung des Verhältnismäßigkeitsprinzips begann, also einem dem Verwaltungsrecht selbst entstammenden Grundsatz. Im preußischen Polizeirecht bereits angelegt,[200] kann sich dieser Grundsatz nach und nach auch in anderen Bereichen des Verwaltungsrechts als allgemeiner Rechtsgrundsatz etablieren,[201] bevor er mit dem sog. Apotheken-Urteil[202] in die Grundrechtsdogmatik Eingang findet[203] und über die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und das Unionsrecht auch in andere europäische Rechtsordnungen transportiert wurde.[204] Dies belegt im Übrigen eine häufig übersehene Abhängigkeit des Verfassungsrechts vom Verwaltungsrecht, entpuppt sich doch eine der expansivsten verfassungsrechtlichen Figuren als verwaltungsrechtliche Kreation.[205]

b) Die Beseitigung grundrechtsfreier Räume

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Schon in der Weimarer Zeit hatte der in Deutschland lehrende Schweizer Fritz Fleiner vor der „Flucht […] in das Privatrecht“ gewarnt,[206] also vor der – nach wie vor ungebrochenen – Neigung der öffentlichen Hand, sich mit der ihr in der Regel offen stehenden Wahl privatrechtlicher Handlungsformen (unzulässigerweise) auch der öffentlich-rechtlichen Bindungen zu entledigen. Diesen Ansatz fortführend vertrat die von Hans Julius Wolff begründete und von der Rechtsprechung umgehend aufgenommene Lehre vom Verwaltungsprivatrecht[207] die Auffassung, dass die öffentliche Verwaltung, jedenfalls in den Fällen, in denen sie die Gestaltungsmöglichkeiten des Privatrechts für die unmittelbare Erfüllung von Verwaltungsaufgaben – der Daseinsvorsorge oder der Wirtschaftslenkung – einsetzt, „verwaltungsprivatrechtlich“ gebunden sei, mithin insbesondere die Grundrechte als gegen den Staat gerichtete Abwehrrechte beachten müsse.[208] Vergleichbares gilt bei Organisationsprivatisierungen, also der gesellschaftsrechtlichen Verselbständigung von Verwaltungsaufgaben mittels einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, einer Aktiengesellschaft oder eines Vereins. Solche öffentlich beherrschten juristischen Personen des Privatrechts werden seitdem als Teil der öffentlichen Verwaltung begriffen und unterliegen deshalb den Bindungen des öffentlichen Rechts, insbesondere der Grundrechte.[209]

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Unter dem Einfluss von Art. 1 Abs. 3 GG brach sich darüber hinaus die Einsicht Bahn, dass die Grundrechte auch in jenen Verwaltungsrechtsverhältnissen Geltung beanspruchen, die man früher als „besondere Gewaltverhältnisse“ bezeichnet hatte. Darunter verstand man im Anschluss an Otto Mayer „die verschärfte Abhängigkeit, welche zugunsten eines bestimmten Zweckes öffentlicher Verwaltung begründet wird für alle Einzelnen, die in den vorgesehenen besonderen Zusammenhang treten“.[210] Diese „verschärfte Abhängigkeit“ bestand in den Verwaltungsrechtsverhältnissen zwischen Beamten und Dienstherrn, Strafgefangenen und Justizvollzugsanstalt, Schülern und Schule, Soldaten und Armee bzw. den jeweiligen Trägern, und wurde auch nach 1949 noch mit einem Grundrechtsverzicht begründet, der nach dem Grundgedanken des volenti non fit iniuria mit dem Eintritt in ein solches Rechtsverhältnis fingiert wurde, auch wenn dieser Eintritt – wie bei Strafgefangenen – nicht freiwillig geschah. Mit seiner Strafgefangenen-Entscheidung aus dem Jahre 1972 hat das Bundesverfassungsgericht der Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis[211] den Boden entzogen und klargestellt, dass die Grundrechte auch im Strafvollzug gelten und nur durch oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden können. Es hat diese Rechtsprechung später im Hinblick auf das Schulrecht bestätigt und ausgebaut. Indem es etwa für die Einführung der obligatorischen Förderstufe,[212] den Erlass schulrechtlicher Ordnungsmaßnahmen,[213] für den Sexualkundeunterricht[214] oder die Disziplinarmaßnahme der Schulentlassung[215] eine Regelung durch den Gesetzgeber gefordert hat, hat es implizit auch die Grundrechtsrelevanz all jener Maßnahmen anerkannt – mit allen Konsequenzen, was etwa die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes angeht.

c) Die Leistungsverwaltung

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Die zunehmende Prosperität der sog. Wirtschaftswunderjahre und die in dieser Zeit angehäuften Überschüsse in den öffentlichen Haushalten ermöglichten einen substantiellen Ausbau der Leistungsverwaltung: Das Sozialhilferecht wurde kodifiziert,[216] eine staatliche Studien- und Ausbildungsförderung eingeführt,[217] das Kindergeld in staatliche Regie übernommen,[218] staatliche Anreize für die Vermögensbildung gesetzt[219] und nicht zuletzt auch Subventionen in großem Umfang vergeben.[220] Allerdings gilt das Sozialrecht als eine eigene, weitgehend verselbständigte Submaterie und bildet eine Disziplin, welche auf die Entwicklung des Verwaltungsrechts im Ganzen nur wenig Einfluss nahm, anders als etwa in Schweden oder im Vereinigten Königreich.[221]

 

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Die auf das Rechtsverständnis insgesamt ausstrahlende dogmatische Verarbeitung des Sozialstaates erfolgte maßgeblich in verfassungsrechtlichen Kategorien. Diese waren, da auf die Eingriffsverwaltung ausgerichtet, auf die Leistungsverwaltung nur ungenügend vorbereitet, ungeachtet einer Reihe von Arbeiten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts.[222] Der Vorbehalt des Gesetzes in der Leistungsverwaltung wie auch die Funktion der Grundrechte im Leistungsstaat waren wenig erforscht. So wusste man lange Zeit etwa nicht genau, ob und inwieweit die Grundrechte originäre Teilhaberechte darstellen[223] und beispielsweise einen Anspruch auf Schaffung neuer Studienplätze[224] verbürgen.

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Zwar setzte sich hier Mitte der 1970er Jahre die Auffassung durch, dass die Grundrechte – von Ausnahmefällen abgesehen – keine originären Teilhaberechte verbürgen, sondern dass es Aufgabe des Gesetzgebers ist, bei der Ausgestaltung der objektiven Dimension der Grundrechte auch über eventuelle – derivative – Leistungsansprüche zu entscheiden; unter formell-rechtsstaatlicher Perspektive misslang die Konsolidierung der Leistungsverwaltung jedoch weitgehend. Noch heute ist umstritten, ob die Vergabe von Subventionen dem Vorbehalt des Gesetzes unterliegt; h.M. und Rechtsprechung gehen davon aus, dass nur Eingriffe in Freiheit und Eigentum bzw. „wesentliche“ Regelungen diesem Erfordernis unterliegen, nicht aber der gesamte Bereich der Leistungsverwaltung.[225] Die Vergabe von Subventionen bzw. Zuwendungen (§ 23 Bundeshaushaltsordnung) erweitere die Rechtssphäre der Empfänger und beeinträchtige sie nicht. Daher genügen insoweit noch immer die generelle Bereitstellung staatlicher Mittel in Haushaltsplan und Haushaltsgesetz.[226] Dass derartige Begünstigungen in der Regel in multipolare Verwaltungsrechtsverhältnisse eingebettet sind, an denen neben dem Staat und dem Subventionsempfänger auch Dritte beteiligt sind, und diese nachteilig betroffen werden, ist zwar präsent.[227] Harte Konsequenzen werden daraus jedoch zumeist nicht gezogen.[228]

d) Die Bewältigung des informalen Verwaltungshandelns

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Nur mit erheblichen Verzögerungen wagte sich das deutsche Verwaltungsrecht schließlich an die rechtsstaatliche Bändigung des „informalen Verwaltungshandelns“. Damit sind nicht nur Realakte gemeint, sondern insbesondere die seit den 1980er Jahren immer stärker um sich greifende Informationstätigkeit der öffentlichen Hand. Die wegweisende Habilitationsschrift von Hans-Ulrich Gallwas aus dem Jahre 1970[229] blieb lange Zeit unbeachtet, bis sie das Bundesverwaltungsgericht in seiner Transparenzlisten-Entscheidung von 1987[230] entdeckte und zu einem zentralen Referenzwerk machte, das vielfältige literarische Gefolgschaft gefunden hat.[231] Die Vollendung der rechtsstaatlichen Konsolidierung ist in jüngster Zeit allerdings stecken geblieben, seit das Bundesverfassungsgericht in seiner Glykol-Entscheidung zwar die Existenz faktischer Grundrechtsbeeinträchtigungen akzeptiert, die Sicherungen des formellen Rechtsstaates, insbesondere den Vorbehalt des Gesetzes, jedoch für unanwendbar erklärt hat.[232]

3. Ausbau und Vervollständigung des Individualrechtsschutzes

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Hand in Hand mit der Konstitutionalisierung des Verwaltungsrechts unter dem Grundgesetz geht der Ausbau des Individualrechtsschutzes. Dies akzentuiert den materiell rechtsstaatlichen Zugang des „klassischen“ deutschen Verwaltungsrechts und findet in der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG ebenso Ausdruck (a) wie in der Einführung der verwaltungsgerichtlichen Generalklausel (b) und in einer flächendeckenden Subjektivierung des Verwaltungsrechts (c). Anders als etwa in Frankreich oder Österreich gilt die gerichtliche Kontrolle der Verwaltung nicht als Durchbrechung,[233] sondern als wesentlicher Ausdruck der Gewaltenteilung. Dieses deutsche Verständnis erschwert es, die Verwaltungsgerichte als gestaltende Institutionen öffentlicher Gewalt zu begreifen.[234] Eine weitere Abschirmung gegenüber legitimatorischen Nachfragen erfolgt durch die „Doktrin von der einzig richtigen Interpretation“, der wichtigsten dogmatischen Basis der hohen verwaltungsgerichtlichen Kontrolldichte und, so Rainer Wahl, ebenfalls eine Besonderheit des deutschen Rechts.[235] Obgleich die Unhaltbarkeit dieser Doktrin theoretisch seit langem erwiesen ist und damit die gestaltende und verwaltende Rolle der Gerichte außer Frage steht,[236] hält sie sich, wohl weil sie kongenial zur Justizialisierung ist. Erkennt man aber ihre Brüchigkeit, so erscheint eine geringere gerichtliche Kontrolldichte in anderen Mitgliedstaaten und auf der europäischen Ebene in anderem, freundlicherem Licht.

a) Die Rechtsschutzgarantie

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Mit der Garantie effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) trägt das Grundgesetz der Erkenntnis Rechnung, dass subjektiv-öffentliche Rechte erst dann effektiv sind, wenn sie im Konfliktfall durchgesetzt werden können. Die Rechtsschutzgarantie ist deshalb ein entscheidendes Vehikel, um die Selbstherrlichkeit der öffentlichen Verwaltung gegenüber dem Bürger zu beseitigen und einen „substantiellen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle“ zu verwirklichen.[237] Sie ist in dieser Perspektive gleichsam der „Schlußstein der rechtsstaatlichen Ordnung“,[238] der (vorläufige) Höhepunkt einer Entwicklung, die in ihren Wurzeln zumindest bis zur Gründung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts zurückreicht und der damit verbundenen Hinwendung zum Rechtsstaat.[239] Vollständig beendet ist diese Entwicklung, wie ein Blick auf das Vergaberecht zeigt, jedoch noch nicht.[240] Vor allem ergibt die Zentrierung auf Rechte, dass kein lückenloser Schutz von rechtlich nicht geschützten Interessen besteht. Die Konfrontation mit der Verwaltungsgerichtsbarkeit anderer Länder, die interessen- und nicht rechtebezogen ist, ist hierbei dienlich.[241]

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Indem Art. 19 Abs. 4 GG den Rechtsschutz gegenüber der öffentlichen Gewalt als Grundrecht ausgestaltet, bringt er zum Ausdruck, dass die Rechtsschutzgarantie – wie die materiellen Grundrechte – vor allem den Einzelnen und seine Selbstverwirklichung im Auge hat. Für ihn ist dieses „formelle Hauptgrundrecht“[242] eine „Bastion der Individualität“.[243] Vor diesem Hintergrund enthält die Vorschrift eine Systementscheidung für den Individualrechtsschutz, die für die gesamte Struktur des deutschen Verwaltungsrechts von erheblicher Bedeutung ist. Sie reicht ungeachtet der bemerkenswert expansiven Interpretation der Art. 6 und 13 EMRK durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zudem weit über das konventionsrechtlich Geforderte hinaus. Ähnliches gilt für die Anforderungen des Art. 47 der Grundrechte-Charta.[244]

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Die Tragweite der Rechtsschutzgarantie und der allgemeineren Justizgewährleistungsgarantie (Art. 20 Abs. 3 GG) ist auch daran abzulesen, dass Deutschland im europäischen Vergleich über die relativ höchste Anzahl an Richtern[245] sowie über fünf Rechtszüge verfügt, von denen immerhin drei der Verwaltungskontrolle dienen: Die Verwaltungsgerichtsbarkeit besteht aus dem Bundesverwaltungsgericht mit Sitz in Leipzig (§ 2 VwGO), 15 Oberverwaltungsgerichten bzw. Verwaltungsgerichtshöfen sowie 52 Verwaltungsgerichten. Daneben existieren als besondere Verwaltungsgerichtsbarkeiten die Sozialgerichtsbarkeit mit einem drei- und die Finanzgerichtsbarkeit mit einem zweizügigen Rechtszug (Art. 95 GG). Die hohe Zahl an Richtern führt zu einer hohen Zahl entsprechend tätiger Rechtsanwälte, was insgesamt zur Folge hat, dass Verwaltungsbeamte den Diskurs über das Verwaltungsrecht nicht mehr allein beherrschen und eine Perspektivenvervielfältigung stattfindet.

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Zu den Weiterungen der auf einen flächendeckenden Individualrechtsschutz zielenden Rechtsschutzgarantie gehört die Etablierung des „Rechts auf fehlerfreien Ermessensgebrauch“[246] sowie die Unterscheidung zwischen Ermessen und unbestimmtem Rechtsbegriff,[247] die sich in Literatur[248] und Rechtsprechung[249] durchgesetzt hat. Beides hat die (verwaltungs-)gerichtliche Kontrolle der öffentlichen Verwaltung spürbar intensiviert,[250] wenn auch um den Preis eines im europäischen Vergleich deutschen Sonderweges. Größere Kritik daran ist erst in jüngerer Zeit laut geworden.[251]

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Die Gewährleistung lückenlosen Individualrechtsschutzes hat notgedrungen einen edukatorischen Effekt auf die öffentliche Verwaltung.[252] Insoweit ist Art. 19 Abs. 4 GG ein wesentlicher Baustein des gewaltengegliederten Staates (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG), der im Verein mit anderen Bestimmungen der Verfassung – namentlich Art. 93 und 100 GG – die im europäischen Vergleich herausragende Stellung der Judikative in Deutschland besonders anschaulich macht. Allerdings handelt es sich insoweit lediglich um einen Reflex, nicht um das spezifische Anliegen der Rechtsschutzgarantie. Die flächendeckende gerichtliche Kontrolle der öffentlichen Verwaltung mag daher zwar ein wesentliches Charakteristikum der deutschen Funktionenordnung sein; als staatsorganisatorische Grundentscheidung würde sie jedoch missverstanden.

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Mit Ausbau und Perfektionierung des Individualrechtsschutzes nach 1949 haben Ausmaß und Intensität der (verwaltungs-)gerichtlichen Kontrolle gegenüber der öffentlichen Verwaltung kontinuierlich zugenommen.[253] Das hat vor allem die Verwaltungsgerichtsbarkeit in den Augen von Politik und Wirtschaft in Misskredit gebracht, weil man in der Gewährung effektiven Rechtsschutzes und nicht in dem rechtswidrigen Verhalten der Verwaltung die Ursache für lange Verfahrensdauern und die Verhinderung von Vorhaben sah. Zentrale öffentlich-rechtliche Zuständigkeiten im Bereich des Regulierungs- (§ 75 Abs. 4 des Energiewirtschaftsgesetzes) und Vergaberechts (§§ 116ff. des Gesetzes über Wettbewerbsbeschränkungen [GWB]) wurden deshalb später, anders als in den romanischen Staaten, den ordentlichen Gerichten zugewiesen.