Ius Publicum Europaeum

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VI. Vereinheitlichungstrends

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Die Unterschiede zwischen den nationalen Verwaltungssystemen und Verwaltungsgesetzen sehen sich neuerdings externem und internem Druck ausgesetzt, der auf eine Annhäherung, vielleicht gar auf eine Vereinheitlichung hinwirkt. Nationale Verwaltungen sind oft mit vergleichbaren Problemlagen konfrontiert und haben, trotz ihres unterschiedlichen Kontexts, im Allgemeinen ähnliche Lösungswege gewählt. Es trifft deshalb nicht zu, dass im Bereich des Verwaltungsrechts die Besonderheiten vorherrschen und jedes nationale System einzigartig ist.

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Kolonialismus und Krieg hatten großen Einfluss auf die Entwicklung der Verwaltungsstrukturen. Ersterer trug zur Hierarchisierung und zur Herausbildung von Autorität innerhalb der nationalen Verwaltungen bei, ungeachtet der Differenzen zwischen dem französischen Modell (wo „la Métropole gouverne et administre“[55]) und dem britischen Modell der „indirect rule“.[56] Der Krieg führte zu einer Ausweitung der Regierungsverantwortlichkeiten, denn er zwang die nationalen Regierungen dazu, neue Regelungen in Bezug auf Verwaltungsverträge zu schaffen, mehr Steuern einzuziehen, den Sektor der staatlichen Wirtschaft auszudehnen, die staatlichen Interventionen in die Wirtschaft zu intensivieren und die Versorgung der Armeeangehörigen und ihrer Familien sicherzustellen.

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Wirtschaftskrisen, insbesondere die große Krise der Jahre 1929 bis 1933, drängten die Regierungen zum Handeln zugunsten der wirtschaftlichen Entwicklung, sahen sie sich doch einer „Letztverantwortung“ für die Wirtschaft ausgesetzt. Trotz einiger Unterschiede zwischen den Ländern (von denen einige mehr, andere weniger „etatistisch“ waren) trieben wirtschaftliche Krisen die Ausweitung der Regierungsfunktionen maßgeblich voran. Dies geschah nicht zuletzt im Wege der Nachahmung, da sich die Länder in Momenten der Krise in besonders intensiver Weise ausländischer Vorbilder bedienten.

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Innerstaatlicher Druck hin zu einer Verwaltungsvereinheitlichung setzte mit der Industrialisierung, dem Rationalismus und schließlich der Dezentralisierung ein. Nach dem Ersten Weltkrieg gewannen der Taylorismus und die „wissenschaftliche Betriebsführung (scientific management)“ unter den Regierungen an Einfluss.[57] Nach dem Zweiten Weltkrieg kam das Zeitalter der Organisation und der „managerial revolution“.[58] Die 1960er Jahre sahen die Entwicklung des „Planning, Programming, Budgeting System (PPBS)“ und die „Rationalisation des Choix Budgetaires (RCB)“. In den 1990er Jahren verbreitete sich das „New Public Management“ in allen Verwaltungssystemen. Alle diese Reformen basierten auf der Vorstellung, dass Verwaltungen weitgehend wie Unternehmen geführt werden können, und man stellte auf vermeintlich rationalere Organisations- formen und Verfahren um.

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In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging ein weiterer interner Druck von der Dezentralisierungsbewegung aus. Sie war in allen europäischen Staaten mehr oder weniger stark zu spüren und führte zu einer Neuverteilung der Machtstrukturen; es kam zu zahlreichen komplexen Vereinbarungen zwischen Zentrum und Peripherie. Insbesondere das deutsche föderale Grundgesetz diente als Inspirationsquelle für die Reformen in Italien, Spanien und Frankreich.[59]

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Um die Vereinheitlichungstendenzen richtig zu verstehen, muss man auch die Wissenschaft in den Blick nehmen. Über die gesamten beiden letzten Jahrhunderte führten Rechtswissenschaftler intensive rechtsvergleichende Untersuchungen zum öffentlichen Recht im Allgemeinen und zum Verwaltungsrecht im Besonderen durch. Der Blick richtete sich dabei insbesondere auf England und Frankreich (zu denken ist an den Diskurs von Albert Venn Dicey und Alexandre Vivien, Léon Aucoc und Henry Berthélemy oder auch Maurice Hauriou und wiederum Dicey),[60] Frankreich und Deutschland (dabei ist Otto Mayer hervorzuheben),[61] Deutschland und England (Rudolf von Gneist),[62] Italien und Deutschland (Vittorio Emanuele Orlando und Paul Laband, Santi Romano und Georg Jellinek),[63] Italien und Frankreich (Romano und Hauriou),[64] Italien und England (Massimo Severo Giannini und William Wade),[65] Österreich und Frankreich (Hans Kelsen und Charles Eisenmann),[66] und nicht zu vergessen England und die Vereinigten Staaten (William Robson, Frank Johnson Goodnow und James McCauley Landis).[67] An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert waren ein Mitglied des französischen Conseil d’État, Max Boucard, und ein namhafter Verwaltungsrechtsprofessor, Gaston Jèze, die Herausgeber einer „Bibliothèque internationale de droit public“, in der Werke von Paul Laband, Albert Venn Dicey, Frank Johnson Goodnow, Josef Redlich und James Bryce sowie die französische Ausgabe von Otto Mayers „Deutsches Verwaltungsrecht“ publiziert wurden.

Einführung › § 41 Die Entfaltung des Verwaltungsstaates in Europa › VII. Die Charakteristika der traditionellen Gestalt der Verwaltung und des Verwaltungsrechts

VII. Die Charakteristika der traditionellen Gestalt der Verwaltung und des Verwaltungsrechts

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Die Entwicklung der Verwaltungssysteme in Europa erfolgte zyklisch: von gemeinsamen Grundlagen zu nationaler Ausdifferenzierung, anschließend von nationaler Ausdifferenzierung zu wachsenden Gemeinsamkeiten. Einige Phasen dieses Zyklus hingen überwiegend mit der Institutionengeschichte zusammen; andere waren mehr mit der allgemeinen Geistesgeschichte verknüpft. Wenn man die Pendelbewegungen genauer betrachtet, werden unter den vielen nationalen Spielarten vorherrschende Muster erkennbar.

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Das erste gemeinsame Merkmal ist die gewaltige Ausweitung exekutivischer Tätigkeit.[68] Recht und Ordnung („l’Etat gendarme“), danach zusätzlich Steuerung und Regulierung der Wirtschaft („l’Etat propulsif“) und später noch die Daseinsvorsorge („l’Etat Providence“) sind die gemeinsamen Aufgaben der verschiedenen Verwaltungssysteme in Europa. Die Verwaltung, die zunächst als ein Apparat aufgefasst worden war, um den Gehorsam der Subjekte gegenüber der Obrigkeit zu erzwingen[69] (der Bürger war „Untertan“ oder „administré“), wurde nun dafür verantwortlich, Dienstleistungen gegenüber dem Bürger zu erbringen. Als Folge des Kompetenzzuwachses der Parlamente und der damit zusammenhängenden Parlamentarisierung der öffentlichen Gewalt wurde die Perspektive ex parte principis durch diejenige der ex parte civis ergänzt, zum Teil gar ersetzt.

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Die Ausweitung der administrativen Funktionen geschah schrittweise, und zwar von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (wie im Falle Österreichs),[70] als nationale Parlamente nun auch die unteren Klassen der Gesellschaft repräsentierten und mehr Gesetze in den Bereichen Arbeitsschutz, Sozialwesen, Renten, Gesundheit, Beschäftigungsförderung oder Bildung verabschiedeten.[71] Die beiden Hauptantriebskräfte dieser Entwicklung waren die Parlamente und die Gerichte. Sie beeinflussten die Ausweitung der Verwaltungsaufgaben des Staates allerdings auf unterschiedliche Weise: Die Parlamente dehnten die Bereiche aus, für welche die Verwaltung zuständig sein sollte, während die Gerichte die Verwaltungspraxis rationalisierten, allgemeine Prinzipien aufstellten und die Regierungen dazu zwangen, im Einklang mit der rule of law zu handeln.

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Das zweite hervorstechende Merkmal eines ausgereiften Verwaltungssystems ist eine stete Spannung zwischen Politik und Verwaltung. Der Verwaltungsstaat ist ein Staat, in dem die politische Gestaltung letztlich der rule of law unterliegt, die mittels richterlicher Kontrolle durchgesetzt wird.[72] Die Hauptaufgabe der Verwaltung ist der Gesetzesvollzug.[73] Daraus ergeben sich sowohl politische als auch theoretische Implikationen. Die Auffassung, wonach den Behörden lediglich eine beschränkte Entscheidungsfreiheit zukommen darf, weil sie verpflichtet sind, die politischen Entscheidungen, die vom Parlament getroffen werden, umzusetzen, geht davon aus, dass der Verwaltungsapparat seine Legitimation vom Parlament erhält: Die Bürger wählen die Mitglieder des Parlaments; das Parlament verabschiedet dann die Gesetze, wodurch es an die Regierung und die Verwaltung Legitimation weiterreicht („Legitimationszusammenhang“).[74]

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Die positivistische Sicht, nach der das Verwaltungssystem das Gesetz passiv implementiert, billigt Beamten und Richtern nur in engen Grenzen einen eigenen Bewegungsspielraum zu. Ihre Aufgabe beschränkt sich auf die Auslegung der Gesetze, und das Verfahren, in dem das Recht interpretiert werden kann, ist wiederum selbst durch Gesetze reguliert. Die Gesetzesanwender können bei Fehlen einschlägiger gesetzlicher Bestimmungen auf Analogieschlüsse und allgemeine Rechtsprinzipien zurückgreifen. Diese mechanische, positivistische Herangehensweise ist jedoch mittlerweile weitgehend verdrängt.

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Eine wesentliche Komponente des Verwaltungsstaates ist ein Berufsbeamtentum, das für eine stabile Bürokratie steht, deren Angehörige nach dem Leistungsprinzip ausgewählt sind. Dieses Prinzip ersetzte das herkömmliche System der politischen Patronage und die venalité des offices, die Käuflichkeit der Ämter. Allerdings kennt das Prinzip der Neutralität der Verwaltung verschiedene Ausprägungen, von der „faceless figure“ des britischen öffentlichen Bediensteten, der vollständig aus dem politischen Betrieb ausgegliedert ist, bis zu der französischen hybriden Laufbahn des „haut fonctionnaire“ und des „cabinet ministeriel“, aber auch Figuren wie den deutschen Dualismus, der zwischen „Laufbahnbeamten“ und „politischen Beamten“ unterscheidet.

 

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Das Paradigma vom „Staat als Einheit“ ist das dritte gemeinsame Merkmal des Verwaltungsstaates. Dieses Paradigma beruht auf einem nationalen Zentrum bestehend aus Ministerien, Fachabteilungen und Dienststellen und weist verschiedene Varianten auf, von denen die einen mehr, die anderen weniger hierarchisch sind (mit Letzteren wird das Ziel verfolgt, eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Dienststellen und eine effizientere Aufsicht zu erreichen). Über ein gewisses Maß an zentralisierter Gewalt und einheitlichen Regelungen verfügen auch die dezentralisierten und föderalen Staaten, zumindest für fiskalische und militärische Angelegenheiten.

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Das Zentrum ist natürlich mit der Peripherie verbunden, um die zentrifugalen Kräfte unter Kontrolle zu halten und die Einheitlichkeit des Verwaltungsraums zu bewahren; dies gilt auch in kleinen Ländern wie der Schweiz.[75] Die Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie kann verschiedene Formen annehmen: In einer stärker zentralisierten Form trifft das Zentrum die Entscheidungen, während die Peripherie diese ausführt („la chaine d’exécution descend sans interruption du ministre à l’administré“[76]). Eine dezentralisiertere Form gesteht der Peripherie die Ausübung eines gewissen Maßes an Selbstverwaltung zu.

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Die Beziehung von Zentrum und Peripherie zeichnet sich in fortentwickelten Verwaltungsstaaten durch zwei bedeutende Gegensätze aus: Je mehr die Verwaltungssysteme für die Wohlfahrt des Bürgers Sorge tragen, desto mehr müssen die zentralen Verwaltungen wachsen. Schon Tocqueville beobachtete: „wenn die Gleichheit fortschreitet, […] scheinen alle Kräfte wie von selbst zum Zentrum zu strömen“.[77] Dies schafft allerdings zentrale Strukturen, die tendenziell überlastet sind, was folglich zu Bestrebungen der Dezentralisierung führt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden über 200 Regionen in den europäischen Nationalstaaten gegründet. Seit dem Jahre 1994 verfügt die Europäische Union sogar über ein spezielles Organ, den Ausschuss der Regionen, um ihnen eine Stimme zu verleihen.

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Da England bereits früh zentrale Strukturen aufgebaut hatte, war es dort möglich, den local governments viel Freiheit zu gewähren.[78] Deren Zahl wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts drastisch reduziert (in den Jahren 1974, 1986 und 1990). Ein traditionell zentralistisch geprägtes Land wie Frankreich verfügt, trotz seiner Bemühungen, die Anzahl der Kommunen zu reduzieren, immer noch über eine große Zahl von collectivités locales die, dank der Kumulierung von Mandaten, eine wichtige Rolle in der nationalen Politik spielen.

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Das vierte Merkmal des Verwaltungsstaates besteht darin, dass der Prozess der Entscheidungsfindung in der Verwaltung rechtlich geregelt ist (rule of law, règle de droit, Rechtsstaat). Auf keinen Fall dürfen Regierung oder Verwaltung willkürlich handeln. Die rechtliche Regelung der Verwaltungsverfahren erfüllt zwei weitere Funktionen: Sie dient erstens dem Bedürfnis, den Regierungsapparat zu rationalisieren (durch die Zuweisung von Befugnissen, die Festlegung von Arbeitsabläufen, die Einführung wissenschaftlicher Bewertungen und die Bestimmung von Fristen), und gewährt zweitens der Zivilgesellschaft Teilhabe an der Regierungstätigkeit, indem den Bürgern das Recht auf Information eingeräumt wird („government in the sunshine“), ihren Stimmen Gehör verschafft wird (Verwaltungsdemokratie), ihnen das Recht gewährt wird, zu widersprechen (Regierung durch Konsens) und Verwaltungsentscheidungen anzufechten (Verwaltungsgerichtsbarkeit). Dies sorgt letztlich dafür, dass die öffentliche Gewalt im Verhältnis zur Gesellschaft in Schranken gehalten wird, und wirkt der regelmäßigen Einseitigkeit von Verwaltungsentscheidungen dadurch entgegen, dass deren Gesetzmäßigkeit und Angemessenheit überprüft werden. Die rechtlichen Regelungen der Verwaltungsverfahren sind durchaus unterschiedlich. In Ländern wie Österreich folgen die Vorschriften dem gerichtlichen Modell;[79] in Ländern wie Italien besteht das Hauptziel der verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorschriften darin, die Transparenz und Effizienz des Verwaltungshandelns zu sichern.[80]

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Fünftes Merkmal ist, dass die Verwaltungsentscheidungen Gegenstand der Kontrolle durch unabhängige Instanzen sind, und zwar gerichtlicher wie außergerichtlicher. In einigen Ländern ist die Befugnis zur gerichtlichen Kontrolle besonderen Gerichten übertragen („dualité de jurisdictions“), in anderen Ländern hingegen der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Die gerichtliche Kontrolle hat in einigen Ländern eine zentrale Rolle erlangt, zumal dort, wo die Verwaltungsrichter – wie etwa die Mitglieder des französischen Conseil d’État – zu den maßgeblichen Experten des Verwaltungsrechts geworden sind und Verwaltungsrechtswissenschaftler sich vornehmlich mit ihren Entscheidungen befassen. In so unterschiedlichen Ländern wie Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien und der Schweiz hat die gerichtliche Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen die Entwicklung des Verwaltungsrechts vorangetrieben.[81] Die Gerichte haben zur Rationalisierung des Verwaltungsrechts und zur Ausarbeitung seiner grundlegenden Prinzipien (z.B. Unparteilichkeit, Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit) beigetragen. Mehr als andere Rechtsgebiete ist das Verwaltungsrecht ein von Richtern gemachtes Recht.

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Die gerichtliche Kontrolle hat darüber hinaus einen indirekten Beitrag zur Entwicklung des Verwaltungsrechts geleistet, indem sie den Wissenschaftlern, welche die Gerichtsentscheidungen interpretieren, das Forschungsmaterial in Gestalt von rationes decidendi und von dicta für weitere Untersuchungen geliefert hat. Nach Jean Rivero hat sich die Wissenschaft vom Verwaltungsrecht in Frankreich „im Schoße der Rechtsprechung“ entwickelt.[82] Die Wissenschaft vom Verwaltungsrecht ist ein gemeinsames Werk von Richtern und Wissenschaftlern. Verwaltungsrecht hat sich in allen Ländern, sowohl in solchen, die in der Tradition des Common Law stehen, als auch in denjenigen kontinentaleuropäischer Tradition, als ein besonderer Rechtszweig fest etabliert.

Einführung › § 41 Die Entfaltung des Verwaltungsstaates in Europa › VIII. Kontinuität und Wandel

VIII. Kontinuität und Wandel

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Seit den Gründungsjahren haben viele Eigenschaften des Staates und der Verwaltung einen Wandel erfahren: ihre Funktionen, ihre Größe sowie ihre Beziehung zu Politik und Gesellschaft. Diese Veränderungen geschahen weder aus einem einzigen Impetus heraus, noch haben sie einheitliche Auswirkungen. Stattdessen gibt es zahlreiche Interdependenzen. Die bedeutendsten Veränderungen stehen im Zusammenhang mit dem Konzept der Unsterblichkeit der Verwaltung,[83] dem europäischen Kontext der öffentlichen Verwaltung, den Beziehungen zwischen Verwaltungs- und Verfassungsrecht, zwischen kollektiver Willensbildung und öffentlicher Verwaltung, und der Entwicklung des enabling state.

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Vom „Vater“ des deutschen Verwaltungsrechts, Otto Mayer, stammt der Ausspruch: „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht“[84]. Mayer formulierte diesen Satz in seinem „Verwaltungsrecht“ und betonte, dass dies die allgemeine Auffassung seiner Zeit war. Doch hat die Beständigkeit der Verwaltung, wenn nicht sogar ihre Unsterblichkeit, mittlerweile ein Ende gefunden. Veränderungen gehören nunmehr zum Alltag. Kontexte ändern sich. Funktionen, Strukturen und Prozesse unterliegen einem Wandel. Das Personal des öffentlichen Dienstes verändert sich. Die Verwaltung wird nicht länger als ausschließlich instrumentell und in ihrer hergebrachten Gestalt als an jede Politikrichtung anpassungsfähig betrachtet. Wenn sich die politischen Richtungen ändern, muss dies der Verwaltungsapparat bisweilen auch in organisatorischer Hinsicht nachvollziehen, um die jeweilige Politik in die Praxis umzusetzen.

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An diesem Punkt scheint ein Widerspruch in dem vorherrschenden Standpunkt zu Mayers Zeit auf. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das Verwaltungsrecht durchaus schon als ein im Verfassungsrecht wurzelnder Zweig des öffentlichen Rechts wahrgenommen. Das Verfassungsrecht war die Grundlage, auf der das Verwaltungsrecht ruhte, und es konnte nicht geändert werden, ohne dass dies Auswirkungen auf das nachgeordnete Verwaltungsrecht gehabt hätte.[85] Dies aber wird von Mayers berühmtem Diktum in Abrede gestellt. Eine weitere Konsequenz des Untergangs des Konzepts von der „Unsterblichkeit“ der Verwaltung ist, dass dogmatische Modelle durchaus obsolet werden können. Die Verwaltung ändert sich jeden Tag und lässt damit bisweilen solche Modelle als unzulänglich erscheinen.

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Schließlich wird administrativer Wandel heutzutage regelmäßig durch Regierungsreformen eingeleitet. Das Bedürfnis nach einer grundlegenden Reform der Verwaltung kam im Verlauf des 20. Jahrhunderts auf. Es ist zu einem nicht geringen Teil auf die politische Ebene zurückzuführen. Frankreich während der Zeit der von Léon Blum (1936–1937) angeführten Front populaire bietet insoweit ein gutes Beispiel. Blum schreibt das Scheitern seiner Regierung ihrer Unfähigkeit zu, die Verwaltung zu reformieren. Verwaltungsreform war ein Mittel, um die administrativen Strukturen und Verfahren der neuen Politik einer linksgerichteten Regierung anzupassen.

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Daneben entwickelte sich das Bedürfnis nach einer Reform der Verwaltung aber auch aus den öffentlichen Verwaltungen selbst heraus. Ein Beispiel dafür ist der Fulton-Report aus dem Jahre 1968, welcher vorschlug, dass die britischen öffentlichen Verwaltungen ihr auf Generalisten ausgerichtetes Modell zugunsten einer weit größeren Rolle von Spezialisten reformieren sollten. Dies führte zur Gründung eines Civil Service College, dessen Aufgabe darin bestand, Verwaltungsbedienstete zu schulen.

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Bis an die Schwelle der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts blieben Verwaltungsreformen ein episodisches Phänomen in Europa. Die Regierungen konzentrierten ihre Bemühungen auf Reformen des besonders sichtbaren Dienstleistungsbereichs (wie Gesundheit, Renten, Bildung, Wohnungsbau und Beschäftigung). Obgleich es Pläne für eine allgemeine Verwaltungsreform durchaus gab, wurden diese letztlich nicht realisiert. Dies änderte sich im letzten Viertel des Jahrhunderts. Zuerst wurde die Verwaltungsreform zu einem eigenständigen politischen Ziel, dessen Realisierung oft Regierungsmitgliedern überantwortet wurde, die sich ausschließlich dieser Aufgabe widmeten. Zweitens wurde die Verwaltungsreform zu einer permanenten öffentlichen Aufgabe. Drittens wurde die Verwaltungsreform an die Spitze der politischen Agenda gesetzt, versehen mit dem kraftvollen und andauernden Bekenntnis sicherzustellen, dass der Staatsapparat zur Umsetzung der Regierungspolitik so effektiv wie möglich gestaltet ist. Viertens und letztens breitete sich die Verwaltungsreformpolitik als gemeineuropäisches Phänomen aus und wurde in vielen Ländern zum Gegenstand des Regierungshandelns.

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Die Hauptgründe für das Anliegen der Verwaltungsreform waren die Wiederentdeckung, Affirmation und Ausbreitung der Märkte und des Verbraucherschutzes. Mit ihnen ging ein neues Bürgerverständnis einher. Der Nutzer der öffentlichen Einrichtungen und Dienste war nicht länger administré, sondern ein Kunde, der zufrieden gestellt werden musste. Ein weiterer wichtiger Grund war das Erstarken der Idee des freien Marktes. Dank dieser Idee haben die Verwaltungsreformen ihren Charakter dahingehend geändert, dass Verwaltungshandeln nicht etwas den öffentlichen Sektor lediglich intern Betreffendes, sondern gerade auch für das Funktionieren der Wirtschaft von größter Bedeutung ist: Effizienz und Effektivität werden somit imperativ.

 

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Die Verwaltungsreformen, die im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts in vielen europäischen Ländern in Gang gesetzt wurden, weisen zahlreiche gemeinsame Merkmale auf. Sie wurden überall mit emphatischen Bezeichnungen versehen, um ihren innovativen Gehalt herauszustellen: „Neues Steuerungsmodell“ in Deutschland seit 1978, „New Public Management“ im Vereinten Königreich seit 1979, „Renouveau du service public“ in Frankreich seit 1989, „Modernización“ in Spanien seit 1992. Die schöne Formulierung „Re-inventing government“, von David Osborne und Ted Gaebler 1992 in den Vereinigten Staaten geprägt, wurde in vielen europäischen Ländern übernommen. Verwaltungsreformen waren in Ländern mit konservativen Regierungen, etwa Großbritannien in den Jahren von 1979 bis 1997, genauso verbreitet wie in Ländern mit linksgerichteten Regierungen, etwa Frankreich von 1981 bis 1986, von 1988 bis 1993 und von 1997 bis 2002, oder in Ländern mit Koalitionsregierungen wie Deutschland und Italien. Ähnliche Verwaltungsreformen wurden in Ländern mit erheblich voneinander abweichenden Verwaltungskulturen durchgeführt. Die Reformen wurden nahezu immer von der Regierung ausgearbeitet, aber kaum jemals von der Opposition bekämpft. Zum Beispiel wurden Verwaltungsreformen in Frankreich durch Jacques Chirac im Jahre 1986 initiiert, von Michel Rocard im Jahre 1988 fortgeführt und von Edouard Balladur und Alain Juppé von 1993 bis 1997 weiterentwickelt. Man kann sie folglich als parteiübergreifend betrachten. Daraus ergibt sich, dass Verwaltungsreformen ein Instrument zur Modernisierung der öffentlichen Verwaltungen waren, unabhängig davon, wer die Regierungsmehrheit stellte. In dieser Angelegenheit besteht ein Konsens zwischen Regierung und Opposition.

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Eine weitere Veränderung hängt mit dem Kontext der Verwaltungssysteme in Europa zusammen. Nach traditioneller Auffassung ist das Verwaltungsrecht ein auf der Verfassung gegründeter Zweig des öffentlichen Rechts und daher sehr eng mit dem Nationalstaat verbunden. Der Staat bietet den exklusiven Rahmen für den Verwaltungsapparat. Diese herkömmliche Ansicht vermag in ihrer Absolutheit freilich nicht länger zu überzeugen. Jenseits des Staates gibt es supranationale und globale Akteure, die Maßstäbe für die nationalen Verwaltungen setzen und deren innerstaatliche Umsetzung überwachen. Nationale Behörden sind sowohl den übergeordneten Teilen der Exekutive und der Legislative ihres Staates als auch den supranationalen und globalen Akteuren gegenüber verantwortlich. Während der Staat die Kontrolle über Ressourcen und Legitimationsprozesse bewahrt hat, hat er seine ausschließliche Kontrolle über das Recht und die öffentliche Wohlfahrt verloren. Dies führt zu einer „Situation struktureller Ungewissheit“[86].

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Das Recht, das sich jenseits des Staates insbesondere auf europäischer Ebene herausbildet, basiert auf der Anerkennung einiger grundlegender Prinzipien der gemeinsamen Tradition der Staaten (z.B. der rule of law) und auf der Neubestimmung einiger anderer Konzepte, wie etwa der Begriff „Einrichtung des öffentlichen Rechts (body governed by public law)“ gebraucht wurde, um den öffentlichen vom privaten Sektor zu trennen. Nationale Verwaltungen sind nunmehr staatlich wie überstaatlich eingebunden und üben eine Doppelfunktion aus: Sie sind sowohl Akteure des Staates als auch externer Autoritäten. Nationale Verwaltungen dienen daher zwei bzw. mehreren Herren und sind folglich auch einer größeren Anzahl von Spannungen ausgesetzt.

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Diese Entwicklungen haben bedeutende Veränderungen herbeigeführt. Innerhalb des Staates hatten sie eine Fragmentierung zur Folge. Da nationale Behörden nun gegenüber Stellen auf supranationaler und globaler Ebene verantwortlich sind, ist ihre Einheitlichkeit gefährdet. Der europäische Rechtsraum ist dabei das bei weitem wichtigste, aber keineswegs einzige einschlägige Phänomen. Außerhalb des Staates wird die leichtere Verbreitung verwaltungsrechtlicher Institute ermöglicht: Wenn die globale Ebene einheitlicher ausgestaltet ist, erleichtert dies Übertragungen von einem nationalen Rechtssystem in ein anderes. Das Ergebnis dieses Prozesses sind wachsende Übereinstimmungen. Insgesamt sind die nationalen Verwaltungssysteme immer weniger an rein nationale Kontexte gebunden.

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Ein weiterer Aspekt des Wandels besteht darin, dass das Verwaltungsrecht vom Verfassungsrecht durchdrungen worden ist.[87] Die Ausweitung der in der Verfassung gewährleisteten Rechte durch die Rechtsprechung der Verfassungsgerichte führte zu einer Entwicklung, die – zugespitzt formuliert – das Verwaltungsrecht zum „konkretisierten Verfassungsrecht“[88] werden lässt. Diese Entwicklung schmälert die Rolle der Verwaltungsgerichte als letzter Entscheidungsinstanz über Verwaltungshandeln, außer in Ländern wie Frankreich, wo der Conseil d’État eine übergeordnete Stellung bewahrt und der Conseil constitutionnel erst in jüngster Zeit die Kompetenzen eines echten Verfassungsgerichts erlangt hat.

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Ein anderer Aspekt bezieht sich auf das Verhältnis zwischen kollektiven Entscheidungen und der Verwaltung. Ursprünglich mussten kollektive Entscheidungen ihren Weg über die nationalen Parlamente nehmen: Die Legislative erließ Gesetze, die Ziele im Bereich der Verwaltung festlegten, Aufgaben zuwiesen und Verfahrenserfordernisse regelten. Der Verwaltungsapparat war anschließend aufgerufen, diese Gesetze umzusetzen. Die Legitimität der Verwaltungsbehörden resultierte aus der von ihnen vorgenommenen Umsetzung der Gesetze. Legalität bedeutete daher zugleich auch Legitimität.

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Dies entspricht heute jedoch nur noch teilweise der Wahrheit. Der gesellschaftliche Druck auf den Verwaltungsapparat hat stetig zugenommen, und der Regierungsapparat hat sich diesem Druck geöffnet. Zu beobachten ist zum Beispiel die Herausbildung von Teilhaberechten. Die Verwaltungsbehörden treffen ihre Entscheidungen nicht mehr hinter verschlossenen Türen, sondern informieren die Betroffenen über die anstehenden Entscheidungen und diskutieren ihre Überlegungen im Vorfeld mit ihnen. Die durch das Parlament vermittelte Legitimation reicht nicht aus; vielmehr gibt es eine weitere Art von Legimitation, die „Legitimation durch Verfahren“[89]. Da die nationalen Verwaltungen für die Verfahrensbeteiligten zugänglicher werden, besteht jedoch eine wachsende Gefahr, dass sie von privaten Interessen vereinnahmt werden. Das zweite Beispiel betrifft die gesetzliche Ermächtigung. Nach herkömmlicher Auffassung ist Verwaltungsrecht „hoheitlich“, was metaphorisch gesprochen bedeutet, dass es von „oben kommt“. Das Ziel der gesetzlichen Ermächtigung besteht darin, die Bürger – insbesondere die benachteiligten – in die Lage zu versetzen, ihre Rechte gegenüber dem Staat durchzusetzen. An dieser Stelle spielen der Staat und die Verwaltung eine doppelte Rolle: Sie erkennen Rechte an und stellen zugleich Mittel zu deren Durchsetzung bereit.

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Schließlich verlangen Anordnungen der Verwaltung nach dem herkömmlichen Denkmuster unbedingten Gehorsam. Dieses hoheitliche Verständnis fasst allerdings nicht mehr das Gesamte der Verwaltung: Nunmehr fördern die Verwaltungsbehörden, sie geben Anreize zwecks Lenkung; ihre Adressaten werden dazu ermuntert, sich nach administrativen Vorgaben zu richten. Der Wohlfahrtsstaat zeigt sich großzügig gegenüber den Bürgern, vor allem in den Bereichen Gesundheit, soziale Sicherheit und Arbeit. Der Regulierungsstaat (regulatory state) lässt den privaten Unternehmen größeren Freiraum, wodurch seine eigenen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt werden. Der ermöglichende Staat (enabling state) schafft eine „Republik der freien Wahl“[90], in der die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen „outgesourct“ wird und „Gutscheine“ gewährt werden, so dass die Bürger ihre Dienstleistungsanbieter frei wählen können. Diese Trends zeigen sowohl die Stärken als auch die Schwächen des Verwaltungsstaates auf. Sie sind ein Zeichen seiner Fähigkeit, sich an eine neue Umgebung anzupassen, in der die Bürger eine aktivere Rolle im öffentlichen Leben spielen. Aber sie offenbaren auch, dass der Staat überlastet ist und deshalb die Notwendigkeit besteht, neue Wege der Aufgabenerfüllung zu finden.