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1. Die Ausweitung der Sonderrechte der Verwaltung

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Die Ausweitung der Sonderrechte der Verwaltung nahm unterschiedliche Formen an. Sie erfolgte vor allem über eine Einschränkung gewisser Freiheiten (die Religionsfreiheit wurde allerdings durch das Konkordat von 1801 wieder eingeführt). Sie manifestierte sich auch in der untergeordneten Stellung der Vertragspartner der Verwaltung, in dem Zugriff auf das Privateigentum und in der „Garantie der Beamten (garantie des fonctionnaires)“.

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Die Beschränkung individueller Freiheiten kam in zwei verschiedenen Aspekten zum Ausdruck. Sie bestand zunächst darin, dass die administrés zu persönlichen Dienstleistungen herangezogen wurden, was unter den euphemistischen Begriff der „Naturalabgaben (prestations en nature)“ gefasst wurde. Ferner zeigte sie sich in einer Stärkung der Befugnisse der Polizei zu Lasten der Freiheit von Handel und Industrie und insbesondere der Meinungsäußerungsfreiheit.

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Im Bereich der öffentlichen Verträge hatte die verstärkte Fokussierung auf das allgemeine Interesse drei Auswirkungen: Die Verwaltung wurde frei, mit denjenigen Leistungsanbietern, die sie vorzog, vertragliche Beziehungen einzugehen, was es ihr ermöglichte, die Angebote von Unternehmern, die sich noch nicht bewährt hatten, auszuschlagen. Sie konnte darüber hinaus einseitig die Vergütung, welche sie dem Auftragnehmer zu zahlen hatte, reduzieren, wenn sie feststellte, dass die Kosten für die Erstellung des Werks im Verlauf der Ausführung der Arbeiten um mindestens ein Sechstel gesunken waren. Schließlich konnte sie gegenüber bestimmten Anbietern sehr schnell die Einrede der Verjährung geltend machen.

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Die Erweiterung des Zugriffs auf das Privateigentum äußerte sich in zweifacher Hinsicht. Zum einen wurde das Eigentum an bestimmten Immobilien im Namen des Allgemeininteresses einem besonderen Rechtsregime unterstellt. Dies war der Fall bei Wäldern, Mooren und Bergwerken. Zum anderen wurden die Verfahren, die es gestatteten, Privatpersonen ihre Güter zu entziehen, zugunsten der Verwaltung erleichtert. Dies betraf die Bereiche der Beschlagnahmung, der Arrondierung und der Enteignung (im letztgenannten Fall zumindest von 1807 bis 1810).

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Die Beamten waren ihren Dienstvorgesetzten strikt untergeordnet. Zur Verantwortung gezogen werden konnten sie von den administrés überhaupt nicht und selbst von der Staatsanwaltschaft der ordentlichen Gerichtsbarkeit nur unter engen Voraussetzungen. All denjenigen, welche den Status eines „Beauftragten der Regierung (agent du Gouvernement)“ besaßen, wurde durch Art. 75 der Verfassung des Jahres VIII ein besonders starker Schutz zuerkannt: Sie konnten für Handlungen, die im Zusammenhang mit ihren amtlichen Funktionen standen, nur aufgrund einer Entscheidung des Conseil d’État verfolgt werden. Dieser Schutz, der „garantie des fonctionnaires“ genannt wurde, sollte nach Einschätzung liberaler Autoren wie Benjamin Constant 250 000 Mitgliedern der Verwaltung zugute kommen[18] (die übrigen Amtsinhaber profitierten weiterhin von Bestimmungen aus der Zeit der Revolution, welche die Möglichkeit einschränkten, gegen sie zivil- und strafrechtliche Sanktionen zu verhängen).

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Der Conseil d’État und die Cour de cassation legten das die agents du Gouvernement privilegierende Merkmal der „im Zusammenhang mit ihren amtlichen Funktionen stehenden Handlungen“ weit aus. Sie vertraten die Ansicht, dass es ausreichte, dass die Handlung, die der administré zur Anzeige brachte, während der Ausübung der amtlichen Funktionen vorgenommen worden war, um das Erfordernis einer Genehmigung seitens des Conseil d’État zu begründen, selbst wenn die Handlung ihrer Natur nach funktionsfremd war. Erst im Jahre 1864 modifizierte die Cour de cassation ihre Rechtsprechung in diesem Punkt. Sie hat es allerdings stets abgelehnt, Art. 75 der Verfassung des Jahres VIII allein auf Fälle einer strafrechtlichen Verfolgung und nicht auch auf solche, in denen der Amtsinhaber zivilrechtlich zur Verantwortung gezogen werden sollte, anzuwenden.

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Der Conseil d’État traf, in der Terminologie des Art. 75 der Verfassung des Jahres VIII, die „Entscheidung“, die Genehmigung einer Verfolgung bzw. Inanspruchnahme des agent du Gouvernement zu erteilen oder zu versagen. Napoleon war indes der Auffassung, dass ihm die Befugnis zukam, der Entscheidung, die der Conseil d’État getroffen hatte, zuzustimmen oder auch nicht, und zwar im Wege einer Ausweitung des Systems der „justice retenue“. Im Rückblick lässt sich sagen, dass der Conseil d’État sich nicht so zurückhaltend gezeigt hat, eine Genehmigung dafür zu erteilen, dass gerichtliche Schritte gegen einen agent du Gouvernement unternommen werden konnten, wie ihm dies seinerzeit vorgeworfen wurde. Er war jedoch nicht verpflichtet, seine Versagung einer Genehmigung zu begründen, was die Position der administrés schwächte. Der Mechanismus der „garantie des fonctionnaires“, an dem die Cour de cassation auch nach dem Untergang des Ersten Kaiserreichs (1804–1815) festhielt, rief scharfe Kritik hervor. Alexis de Tocqueville versicherte, dass ein Engländer oder Amerikaner ihn nicht verstehen könne. Dennoch bestand der Mechanismus bis zum Ende des Zweiten Kaiserreichs (1852–1870) fort.[19]

2. Die Einräumung rechtlicher Garantien zugunsten der administrés

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Im Gegenzug zur Ausweitung der Sonderrechte der Verwaltung räumte Napoleon den administrés rechtliche Garantien ein. Vielleicht tat er dies, weil er die Meinung teilte, die der Berichterstatter eines Gesetzesvorhabens über die Trockenlegung der Moore, der Abgeordnete des Corps législatif Henri de Carrion-Nisas, geäußert hatte: „Die beste Verwaltung ist diejenige, welche am schnellsten das öffentliche Interesse gegenüber dem privaten durchzusetzen vermag, allerdings unter Einsatz rechtmäßiger Mittel.“[20] Napoleon sah sich in vielfacher Hinsicht als Erbe der Revolution und der Ideen der Aufklärung, wie ein Großteil der Personen in seinem Umfeld. Die Rücksichtnahme auf die Rechte der administrés erfolgte jedoch auch aus politischem Kalkül, nämlich aus der Absicht heraus, seine persönliche Macht zu festigen.[21]

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Die Garantien, die den administrés eröffnet wurden, sollten sich in erster Linie aus leistungsfähigen Organisationsstrukturen und gut ineinander greifenden Arbeitsabläufen der Verwaltung ergeben. Die staatliche Vormundschaft, welche die kommunalen Räte äußerst schwer belastete, sollte die Einwohner der Gemeinden schützen. Die meisten Beschlüsse der Kommunen waren erst nach der Genehmigung durch den Präfekten vollziehbar, und zudem konnte sich jeder mit einer Beschwerde über Unregelmäßigkeiten an den Präfekten wenden. Die Aufsichtsbeschwerde stand den administrés unter vergleichbaren Voraussetzungen offen. Allerdings erkannte selbst Napoleon an, dass beide Arten von Beschwerden den öffentlichen Beauftragten, deren Entscheidungen bei ihren Vorgesetzten gerügt wurden, allzu viele Vorteile beließen, weil es ihnen regelmäßig nicht schwer fiel, diese von der Rechtmäßigkeit ihrer Maßnahmen zu überzeugen.

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Durch verschiedene Gesetze und Verordnungen wurden daher minutiös geregelte nichtgerichtliche Rechtsbehelfsverfahren eingerichtet. Dies war der Fall im Zusammenhang mit der Begradigung der Straßen, der Trockenlegung der Moore, den Konzessionen für Bergwerke sowie der Inbetriebnahme störender oder gar gesundheitsschädigender Werkstätten oder Manufakturen. Bisweilen wurde sogar die Möglichkeit zur Anrufung der ordentlichen Gerichtsbarkeit vorgesehen, um den Rechtsschutz zu verbessern. Der Fall, bei dem dies besonders deutlich wurde, war derjenige der Enteignung. Napoleon ließ das Gesetz vom 8. März 1810 aufsetzen, das den Zivilrichter dazu ermächtigte, die Rechtmäßigkeit des durchgeführten Enteignungsverfahrens zu überprüfen und die Entschädigungssumme festzusetzen, die an den bisherigen Eigentümer zu zahlen war.

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Im selben Jahr gestattete die Cour de cassation, dass die Strafgerichte auf eine entsprechende Einrede hin untersuchen konnten, ob kommunale Polizeiverordnungen im Einklang mit gesetzlichen Vorschriften standen. Wenngleich sie derartige Verordnungen aufgrund von Verboten, die in den bereits erwähnten Revolutionsgesetzen niedergelegt waren, nicht aufheben konnten, so waren sie doch befugt, deren rechtliche Wirkungen auszusetzen. Diese Innovationen trugen dazu bei, dass der Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit gleichsam zu dem „natürlichen“ Richter im Bereich des Immobilieneigentums wurde und im Strafprozess die Gesetzmäßigkeit von Verordnungen untersuchen konnte.

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Schließlich konstituierten Verbesserungen in Bezug auf den Umgang des Conseil d’État und der Conseils de préfecture mit Verwaltungsstreitigkeiten eine Rechtsschutzgarantie für die administrés. Diese Garantie hat die Entwicklung einer Gerichtsbarkeit, die den administrés günstig gewogen war, erleichtert, auch wenn diese Entwicklung im Verlauf des 19. Jahrhunderts aus der Retrospektive gelegentlich als zu langsam und unzureichend erscheint.

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Der emblematischste Schritt in der Rechtsprechungsentwicklung war die Einführung der Anfechtungsbeschwerde (recours pour excès de pouvoir). Der Conseil d’État hat seit seiner Gründung Akte der Verwaltung aufgehoben, die daran krankten, dass sie von einer unzuständigen Stelle, in Überschreitung von Befugnissen oder formfehlerhaft erlassen worden waren oder dass ihr Inhalt im Widerspruch zu den anzuwendenden gesetzlichen Vorschriften stand. Während der letzten Jahre des Ersten Kaiserreichs stellte sich der Conseil d’État allerdings auf den Standpunkt, dass der Beschwerdeführer zunächst vom Minister selbst die Aufhebung des acte administratif, dessen Gültigkeit in Abrede gestellt wird, verlangen müsse, soweit dieser acte nicht von einer unzuständigen Stelle erlassen wurde oder ein Fall der Befugnisüberschreitung vorlag. Waren die genannten Mängel gegeben, stand es dem Conseil d’État zu, direkt zu entscheiden. Rügte der Beschwerdeführer hingegen einen anderen Mangel, konnte der Conseil d’État nur über einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung des „ministre juge“ mit der Angelegenheit befasst werden. Diese Differenzierung vermochte die Entwicklung des Instituts des recours pour excès de pouvoir nicht aufzuhalten, als dessen rechtliche Grundlage der Conseil d’État die Regelung über die „Beanstandungen der Unzuständigkeit (réclamations d’incompetence)“ im Gesetz vom 7. bis 14. Oktober 1790 ansah, was im Schrifttum allerdings nicht unumstritten war.[22] Der Conseil d’État vergrößerte die Zahl der Gründe, die zugunsten einer Aufhebung angeführt werden konnten, indem er insbesondere im Jahre 1864 die Aufhebung wegen Ermessensmissbrauchs zuließ; darüber hinaus dehnte er die Zulässigkeitsvoraussetzungen für den besagten Rechtsbehelf aus.[23]

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Was den Bereich der Haftung der Amtsträger und der öffentlichen Bediensteten anbelangte, traf eine provisorische Regierung, diejenige der Défense Nationale, die sich aus überzeugten Republikanern zusammensetzte, die Entscheidung, den besonderen Schutz der Beamten, der über die „garantie des fonctionnaires“[24] vermittelt wurde, durch die Gesetzesverordnung (décret-loi) vom 19. September 1870 aufzuheben. Mit dieser Maßnahme wurde das Ziel verfolgt, der ordentlichen Zivil- und Strafgerichtsbarkeit die Befugnis zurückzugeben, de plano über Klagen zu entscheiden, die darauf gerichtet waren, Amtsträger und öffentliche Bedienstete zur Verantwortung zu ziehen.

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Das Tribunal des conflits nahm allerdings sehr schnell eine grundlegende Unterscheidung vor. Im Pelletier-Urteil vom 30. Juli 1873 verneinte es eine Zuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit, wenn dem betroffenen Amtswalter kein persönliches Fehlverhalten vorzuwerfen war. Das bedeutete im Umkehrschluss, dass die Verwaltungsgerichtsbarkeit nur von solchen administrés angerufen werden konnte, die Schadensersatz verlangten, ohne Opfer eines persönlichen Fehlverhaltens geworden zu sein. Dieses System der Nichtkumulation von Verantwortlichkeiten wurde wie folgt gerechtfertigt: Das Opfer eines persönlichen Fehlverhaltens muss auf die persönliche Haftung desjenigen, welcher dieses Fehlverhalten begangen hat, vor der ordentlichen Gerichtsbarkeit setzen; das Opfer eines einfachen, als „im Rahmen des service“ bezeichneten Fehlverhaltens muss demgegenüber die Haftung der öffentlichen Gemeinschaft vor der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Anspruch nehmen. Dieses logische System hatte für die administrés allerdings einen Nachteil: Sie konnten in einem schwerwiegenden Fall eines persönlichen Fehlverhaltens nicht sicher sein, entschädigt zu werden, weil die Möglichkeit bestand, dass der betroffene Amtswalter nicht über ausreichende Mittel verfügte, um Schadensersatz leisten zu können. Der Conseil d’État lockerte am 3. Februar 1911 seine Position, indem er für den Fall einer Kumulation von persönlichem und einfachem dienstbezogenen Fehlverhalten eine Geltendmachung kumulierter Verantwortlichkeiten zuließ.[25]

3. Die Begründung der Sonderstellung des Verwaltungsrechts

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Die Begründung der Sonderstellung des Verwaltungsrechts hängt an der Bestimmung des Kompetenzbereichs der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Der Conseil d’État griff auf verschiedene Kriterien zurück, um die Kompetenzabgrenzung zur ordentlichen Gerichtsbarkeit vorzunehmen, insbesondere auf dasjenige des acte administratif. Die Richter an den ordentlichen Gerichten waren nicht dafür zuständig, Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, die einen acte administratif zum Gegenstand hatten. Dabei wurden Maßnahmen, welche der Staat in seiner Eigenschaft als Eigentümer vornahm, als einfaches Verwaltungsgeschäft (acte de gestion) betrachtet und somit nicht erfasst. Während des Zweiten Kaiserreichs gestattete der Conseil d’État, dass die Verträge, die von der Verwaltung im Interesse eines service public geschlossen worden waren, in die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte fielen, wenn der Vertragsschluss nach den Vorschriften des Code civil erfolgt war. Auch diese Verträge galten als actes de gestion und nicht als Maßnahmen im Rahmen der Ausübung von öffentlicher Gewalt (actes d’autorité), auf die das Verwaltungsrecht anzuwenden war.

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Im Bereich der Staatshaftung gebrauchte der Conseil d’État auch das Kriterium des „Staates als Schuldner (Etat débiteur)“, wobei er sich auf eine fehlerhafte Interpretation der Revolutionsgesetze stützte, die es den Zivilrichtern untersagt hatten, den Staat zu Schadensersatz zu verurteilen. Das Kriterium wurde vom Tribunal des conflits im Blanco-Urteil vom 8. Februar 1873 zugunsten eines bis dahin zweitrangigen Kriteriums, und zwar desjenigen des service public, aufgegeben: Die Haftung des Staates „kann nicht durch die Grundsätze, die im Code civil für die Beziehungen zwischen Privatpersonen aufgestellt sind, bestimmt werden. […] Sie hat ihre speziellen Regeln, die je nach den Erfordernissen des service und der Notwendigkeit, einen Ausgleich zwischen den Rechten des Staates und den privaten Rechten herbeizuführen, variieren.“[26] Damit erscheint die Entscheidung als eine Grundsatzerklärung zu der Unentbehrlichkeit und der Besonderheit des Verwaltungsrechts. Das Unterscheidungskriterium des service public setzte sich dann gegenüber der Unterscheidung zwischen den actes d’autorité und den actes de gestion ab den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts als das primäre zur Bestimmung des Verwaltungsrechts durch.[27]

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Während dieses Zeitraums widmete ein prominentes Mitglied des Conseil d’État, Edouard Laferrière (1841–1901), der Verwaltungsgerichtsbarkeit ein essenzielles Werk, in dem er ihre historische Entwicklung nachzeichnete, ihre Grundlagen klärte und die Rechtsprechung darlegte.[28] Vor allem unterbreitete er eine Analyse und Klassifizierung der Rechtsbehelfe, die sich aufgrund ihrer Stringenz und Klarheit durchsetzen sollten. Laferrière unterschied vier verschiedene gerichtliche Verfahren, angefangen mit demjenigen der pleine juridiction, welcher die Rechtssachen unterliegen, in denen die Verwaltungsgerichtsbarkeit die weitreichendsten Befugnisse ausübt. Sie urteilt über Sach- wie über Rechtsfragen und fällt eine Entscheidung zwischen zwei Streitparteien wie die ordentlichen Gerichte. Sie kann insbesondere auch zur Zahlung von Schadensersatz verurteilen. Das zweite Verfahren ist dasjenige der Aufhebung (annulation), des recours pour excès de pouvoir. Laferrière sah darin „eine der interessantesten Schöpfungen der französischen Jurisprudenz“ und zog einen Vergleich zwischen dieser Schöpfung und dem „ausgeklügelten und beharrlichen Werk, das im römischen Recht durch die Jurisprudenz des Prätors zustande gebracht wurde“.[29] Das dritte Verfahren ist dasjenige der Auslegung (interprétation), bei welchem die Verwaltungsgerichtsbarkeit aufgrund des Prinzips der Gewaltenteilung mit der strittigen Auslegung eines acte administratif oder mit der Beurteilung von dessen Gültigkeit anlässlich eines Rechtsstreits, der bei einem ordentlichen Gericht (tribunal judiciaire) anhängig ist, befasst wird. Das vierte Verfahren ist dasjenige der Ahndung (répression): Der Verwaltungsrichter sanktioniert Schädigungen, die durch Privatpersonen an der sog. grande voirie vorgenommen wurden, d.h. an natürlichen oder künstlich angelegten Verbindungswegen, die dem allgemeinen Verkehr dienen, oder an gewissen Bauwerken, die durch verschiedene Gesetze diesem Schutzregime unterstellt worden sind.[30]

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Laferrière zeigte sich sehr kritisch gegenüber der Rechtsfigur des „ministre juge“, die bereits im Zusammenhang mit dem recours pour excès de pouvoir erwähnt wurde.[31] Sie wurde paradoxerweise zu einer Zeit entwickelt, als sich die Organisation und die Arbeitsabläufe der verschiedenen „administrativen Tribunale (tribunaux administratifs)“ klarer abzeichneten und verbesserten. Tribunaux administratifs sind dabei der Conseil d’État, die Conseils de préfecture und die anderen Kollegialorgane, die zur Entscheidung verwaltungsrechtlicher Streitigkeiten eingesetzt worden waren. Die Rechtsfigur des „ministre juge“ ging so weit, dass der Minister als der „gewöhnliche Richter in Verwaltungsangelegenheiten“ angesehen wurde, was bedeutete, dass er als der zuständige Richter galt, soweit eine Verwaltungsstreitigkeit nicht ausdrücklich durch Gesetz oder Verordnung einem anderen Richter zugewiesen war. Laferrière war überzeugt, dass diese Rechtsfigur nicht tragfähig sei. Für ihn war die so genannte „Gerichtsbarkeit der Minister in Wahrheit nichts anderes als die Manifestation ihrer administrativen Autorität, die spontan oder auf ein entsprechendes Begehren einer interessierten Partei hin in Angelegenheiten ausgeübt wird, die einem Rechtsstreit unterliegen“. Die fehlgehende Doktrin habe unter anderem den Nachteil, dass sie „jede vernünftige Theorie der Verwaltungsgerichtsbarkeit durcheinander bringt“.[32]

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Die Ansicht Laferrières wurde vom Conseil d’État anlässlich der Rechtssache Cadot am 13. Dezember 1889 bestätigt. Nachdem der Ingenieur Marie Emanuel Cadot de Villemonble im Anschluss an die Beendigung seines Beschäftigungsverhältnisses seitens der Stadt Marseille versucht hatte, durch die ordentlichen Gerichte und dann durch den Conseil de préfecture Schadensersatz zu bekommen, wandte er sich an den Minister des Inneren. Dieser lehnte es ab, sich mit dem Gesuch zu befassen. Der von Cadot aufgrund dieser Ablehnung angerufene Conseil d’État vertrat die Auffassung, dass der Minister rechtmäßig gehandelt habe, da die Frage „nicht in seine Kompetenz fällt“, und erklärte sich selbst für zuständig. Die Weigerung des Bürgermeisters und des Stadtrates von Marseille, Cadot weiter zu beschäftigen, habe zwischen den Parteien einen Rechtsstreit hervorgerufen, den zu entscheiden ihm zustehe.[33] Der Conseil d’État begnügte sich insofern nicht damit, der Doktrin des „ministre juge“ eine Absage zu erteilen. Er wies sich zudem selbst als Gerichtsbarkeit für das „gemeine Recht der administrativen Streitigkeiten“ (juridiction de droit commun du contentieux administratif) aus. Auf diese Weise erweiterte er deutlich seinen eigenen Zuständigkeitsbereich und vervollständigte die Trennung zwischen aktiver Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit.[34]

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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff service public zum vorherrschenden Kriterium für die Bestimmung der Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit und damit für die Anwendung des Verwaltungsrechts. Er rechtfertigte, dass Streitigkeiten, welche die Verträge und die Haftung der kommunalen Gebietskörperschaften betrafen, von den Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit auf die Verwaltungsrichter übertragen wurden.[35] Die Aktivitäten der kommunalen Gebietskörperschaften nahmen erheblich zu, weil diese vom Staat mit neuen Aufgaben betraut wurden. Auch bemühten sich die gewählten Amtsträger dieser Gebietskörperschaften darum, aus der Erweiterung ihrer eigenen Aufgabenbereiche durch das Departementgesetz (loi départementale) vom 10. August 1871, das von belgischen Vorschriften inspiriert war, und das Kommunalgesetz (loi municipale) vom 5. April 1884 Nutzen zu ziehen.[36]

 

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Der service public stand im Zentrum des Lehrgebäudes von Léon Duguit (1859–1928), der eine wohldurchdachte materielle Definition formulierte: Bei dem service public handelt es sich um „jede Aktivität, deren Entfaltung durch die Regierenden geregelt, geschützt und kontrolliert werden muss, weil sie für die Realisierung und Fortentwicklung sozialer Interdependenz unerlässlich und von solch einer Beschaffenheit ist, dass sie nur durch eine Intervention seitens der Regierungsgewalt vollständig gewährleistet werden kann“.[37]

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Den Bedarf an services publics zu befriedigen ist somit die Aufgabe der Regierenden, welche die sozialen Bedürfnisse interpretieren, die dem Rechtssystem zugrunde liegen. Nach Ansicht Duguits, der von der Soziologie Émile Durkheims beeinflusst war, stellte die Rechtsnorm nichts anderes als eine soziale Norm dar, die in eine bestimmte Form gegossen und für den Fall ihrer Nichtbeachtung mit Sanktionsmöglichkeiten ausgestattet war. Duguit macht sich zum Herold einer objektiven Konzeption des Rechts. Das erste Werk, in dem er diese Konzeption entwickelte, L’Etat, le droit subjectif et la loi positive, das im Jahre 1901 veröffentlicht wurde, war seine Antwort auf das 1892 erschienene Buch von Georg Jellinek über das System der subjektiven öffentlichen Rechte. Duguit warf diesem und „der deutschen Doktrin des öffentlichen Rechts“ insgesamt vor, sie seien „ausschließlich subjektiv. Sie [scil.: die deutsche Doktrin] macht aus der öffentlichen Gewalt ein subjektives Recht, wobei der Staat als Person das Subjekt ist. Meine Doktrin“, fuhr Duguit fort, „ist ihrem Wesen nach objektivistisch: Ich lehne es ab, die Ausübung öffentlicher Gewalt als subjektives Recht zu begreifen; ich bestreite, dass der Staat die Eigenschaft eines Rechtssubjekts besitzt; ich sehe im Staat nichts anderes als eine faktische Macht, deren Gegenstand und Umfang durch das objektive Recht bestimmt werden“.[38]

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Für Duguit, der seinerzeit Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät an der Universität von Bordeaux war, folgt das Besondere des Verwaltungsrechts aus dem Erfordernis, services publics zu erbringen, und nicht aus der öffentlichen Macht des Staates. Dieser besteht entweder aus einer Gesamtheit von Organen, welche die services publics im materiellen Sinne gewährleisten, oder aus einer Gesamtheit von services publics, diesmal im organischen Sinne, wie auch Duguit den Begriff in seinen Werken benutzt hat. Duguit hatte den Eindruck, dass sich der Conseil d’État und das Tribunal des conflits mehr und mehr dieser Natur des Staates und der kommunalen Gebietskörperschaften bewusst waren. In der Tat geschah dies in einem Moment der Dritten Republik, in dem sich das Thema Solidarität großer Beliebtheit erfreute. Vor diesem Hintergrund setzte sich zwischen 1903 und 1909 das Definitionskriterium des service public auch in der Rechtspraxis durch, insbesondere was die Streitigkeiten in Bezug auf Verträge mit dem Staat, den Gemeinden und den Departements sowie den Bereich der quasi-deliktischen Haftung anbelangte.[39]

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Zur gleichen Zeit wurde die Verwaltungsgerichtsbarkeit zu einem Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung für einen weiteren Juristen von großem Format, der sowohl ein Freund als auch ein geistiger Rivale von Duguit war: Maurice Hauriou (1856–1929). Wie Duguit verfügte Hauriou über umfassende Geschichtskenntnisse; er interessierte sich für die philosophischen und sozialwissenschaftlichen Strömungen seiner Zeit, zitierte und diskutierte die Ansichten ausländischer, insbesondere deutscher, italienischer, britischer, spanischer und belgischer Autoren. Wie Duguit zögerte er nicht, heterodoxe Ideen zum Ausdruck zu bringen, beispielsweise über die Hierarchie der Gewalten: Er räumte der vollziehenden Gewalt Vorrang ein gegenüber der „beschlussfassenden Gewalt, die durch die parlamentarischen Versammlungen repräsentiert wird“[40], obgleich die Dritte Republik den Eindruck vermittelte, dass die beiden Kammern des Parlaments im Vergleich zu den fragilen und instabilen Regierungen allmächtig waren. Dennoch stellte sich Hauriou auf der Grundlage einer spiritualistischen Konzeption der Gesellschaft und des Rechts der objektiven Rechtskonzeption von Duguit entgegen. Er war ein zugleich sozial und liberal eingestellter Katholik.

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Mit Blick auf das Verwaltungsrecht formulierte Hauriou, der seinerzeit Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät von Toulouse war, seine Gedanken zum einen in einer großen Anzahl von Urteilskommentaren – mehr als 300 zwischen 1892 und 1928 – und zum anderen in den verschiedenen Auflagen seines Précis de droit administratif.[41] Er definierte dieses Rechtsgebiet als die „Gesamtheit der Rechtssätze, welche die Organisation der Verwaltungsbediensteten, ihre juristische Tätigkeit und ihre Beziehungen zu den administrés im Rahmen der Erfüllung der administrativen Aufgaben betreffen“. Diese Definition gelte, so fügte er hinzu, unabhängig davon, um welches Verwaltungsrecht es sich handele. Das französische Verwaltungsrecht ist ihm zufolge „ein Recht der Billigkeit, das auf der Prärogative der Verwaltung gründet, durch den Richter geschaffen ist und sich nach Maßgabe der Theorie der Handlungsformen gliedert“[42]. Hauriou verwies anlässlich dieser Ausführungen explizit auf Gaston Jèzes Übersetzung von Albert Venn Diceys Werk Introduction to the Study of the Law of the Constitution, die im Jahre 1902 unter dem Titel „Introduction à l’étude du droit constitutionnel“ erschienen war. Dicey, so sagte er, „war mit den Gegensätzen zwischen der englischen und der französischen Rechtsordnung vertraut und hat daher die passenden Worte gefunden“; er fügte allerdings hinzu, dass bereits 1865 Léon Aucoc, ein prominentes ehemaliges Mitglied des Conseil d’État, einen solchen Vergleich zwischen dem französischen Conseil d’État und den englischen Equity-Gerichten unterbreitet habe.[43]

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Hauriou war der Auffassung, dass der service public, dessen Bedeutung er nicht in Abrede stellte, keine erstrangige Erklärung für die spezifische Besonderheit des Verwaltungsrechts liefern kann. Das, was dieses Rechtsgebiet kennzeichne, seien vielmehr die Prärogativen der öffentlichen Gewalt, die Handlungsmöglichkeiten, die über diejenigen des Zivilrechts hinausgehen und über die der Staat und andere öffentliche Körperschaften im Namen des Allgemeininteresses verfügen. Der Gebrauch dieser Prärogativen müsse mit den berechtigten Ansprüchen der administrés in Einklang gebracht werden. Hauriou begrüßte, dass sich bei dem vorzunehmenden Ausgleich dank einer Abmilderung oder eines Richtungswandels in der Rechtsprechung des Conseil d’État eine stärkere Berücksichtigung der Belange der administrés beobachten lasse.[44]

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Während der ersten fünfzehn Jahre des 20. Jahrhunderts fällte der Conseil d’État eine Reihe von Urteilen, die den recours pour excès de pouvoir als wirksames Instrument des Rechtsschutzes signifikant ausbauten. Er dehnte die Statthaftigkeit dieses Rechtsbehelfs aus, indem er annahm, dass ganz unterschiedliche natürliche und juristische Personen ein hinreichendes Interesse daran haben können, die Aufhebung der sie betreffenden Maßnahmen zu verlangen: die Steuerzahler der Gemeinden und der Departements, die Benutzer von services publics, die Gewerkschaften oder die Angestellten der Verwaltungen oder öffentlichen Körperschaften, gegen die Disziplinarmaßnahmen verhängt oder die entlassen werden. Die gewählten örtlichen Amtsträger konnten nunmehr die Entscheidungen anfechten, die von den Aufsichtsbehörden (autorités de tutelle) getroffen wurden. Die Zulässigkeit des recours pour excès de pouvoir wurde auch dann als gegeben angesehen, wenn dem Beschwerdeführer ein anderer gerichtlicher Rechtsbehelf zur Verfügung stand. Weitere Typen von Maßnahmen konnten zum Gegenstand dieser Aufhebungsbeschwerde gemacht werden, etwa Verordnungen der öffentlichen Verwaltung, die mit der Kompetenz des Präsidenten der Republik erlassen worden waren, oder unilaterale Maßnahmen im Zusammenhang mit einem Vertrag, der von einer öffentlichen Körperschaft geschlossen worden war. Darüber hinaus wurden zusätzliche Rechtswidrigkeitsgründe zugelassen, etwa eine unzutreffende Tatsachengrundlage oder deren fehlerhafte rechtliche Bewertung.