Das große Still-Kompendium

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VORWORT JANE STARK (2005)

„[…] überlasse ich Dich nun dem Studium und der Praxis der Philosophie der Osteopathie, die hier dargelegt wird. Sie soll Dich entsprechend leiten, damit Du Deine eigenen Schlussfolgerungen ziehen kannst, die auf der alltäglichen Ausarbeitung der Wissenschaft beruhen.“

A. T. Still, Forschung und Praxis, 1910

Liebe ‚freundliche Genies‘, Sie genießen den Vorzug die Worte und Schriften A. T. Stills in Ihrer Muttersprache jetzt in ihren osteopathischen Händen zu halten. Selbst einem englischsprachigen Publikum waren über Jahre hin eine Reihe von Stills Schriften nicht zugänglich. Doch jetzt ist sein Werk – nach harter Arbeit – für die Deutsch sprechenden Osteopathen und osteopathischen Studenten zugänglich. Ich habe absichtlich zwischen Worten und Schriften unterschieden. Denn die Worte sind der Schlüssel, um die Schriften zu verstehen. Doch die Schriften – das ganze Werk – sind der Schlüssel dazu, um Stills Osteopathie zu verstehen.

Obgleich Stills Schriften nur ein Jahrhundert alt sind, stammen sie von einem Mann, den viele von uns heute Pensionär nennen würden. Doch die Jahre vor der Pension – von 1828 – 1887 – sind ausschlaggebend; die Jahre in der Welt der Pioniere des Grenzlandes; die Zeit, in der die Nahrung eigenhändig durch Jagen, Töten und Anbauen erworben werden musste; die Jahre des Kampfs gegen den Rassismus (die so genannte Sklavenbefreiung); die Zeit, in der 8 von 13 seiner Kinder verstarben; die Jahre der Teilnahme am Amerikanischen Bürgerkrieg; der Erfahrung des Attentats auf den verehrtesten Präsidenten der USA – Abraham Lincoln; die Wahrnehmung der Erfindungen vom Morsecode zur Dampfmaschine bis hin zur Elektrizität; die Jahre der unaufhörlichen Suche nach dem Sitz der Seele; und der trotz großen Spottes sorgfältigen Ausarbeitung der Philosophie der Osteopathie. Vor diesem Hintergrund verlief Stills Leben und genau auf diese Lebenserfahrungen nahm er Bezug, reflektierte sie reich in seinen Worten und schließlich in seinen Schriften.

Schon zu seiner Zeit war es nicht leicht, Still zu verstehen. Bei einer Veranstaltung zu Ehren A. T. Stills nach seinem Tod 1917 durch den Präsidenten der Universität in Kirksville, meinte dieser nach 40 Jahren persönlicher Bekanntschaft: „Es war nicht leicht für uns Dr. Still zu verstehen!“ Doch in seiner Festrede betonte er, dass dies so schwierig war, „[…] weil wir nicht die Augen besaßen um zu sehen – kreative, reflektierende, unstillbare Seelenkraft.“ Nicht besser erging es den Lehrern und Studenten an seiner Osteopathieschule. W. J. Conner, DO, der später The Mechanics of Labor Taught by Andrew Taylor Still schrieb, beschrieb Still so: „Jeden Tag trug er uns vor. Doch vieles, von dem was er sagte, ging so weit über meinen Kopf weg, sodass ich nur den Ton hörte!“ Die erste Biografie über Still von E. E. Booth stellt fest, dass Stills „[…] Ideen stets ihrem Ausdruck davon eilten. Seine tiefsten Gedanken erschienen seinem Verstand mit solcher Geschwindigkeit und er äußerte sie in solch schneller Folge, dass der Hörer bei dem Versuch ihnen zu folgen, betäubt wurde […].“

Wir sollten daher nicht überrascht sein, wenn wir feststellen, dass Still 100 Jahre später zu lesen schwierig ist. Doch noch schwieriger ist es, ihn treu in eine andere Sprache zu übersetzen. Warum? Denn viele seiner Metaphern und Allegorien waren rot, weiß und blau. Wer weiß, dass rot, weiß und blau für die Vereinigten Staaten steht, kann den vorigen Satz verstehen. Doch falls man versucht, ihn in die deutsche Sprache zu übersetzen, bleibt es dann beim selben Sinn? Genau darin besteht das Problem.

Still wurde zurzeit der Jacksonschen Demokratie geboren, die nach dem siebten Präsidenten der Vereinigten Staaten Andrew Jackson benannt ist. In dieser Zeit entwickelten sich viele unabhängige medizinische Systeme wie Homöopathie, Eklektizismus, Thomsonianismus, Hydropathie und Christliche Wissenschaft. Zugleich traten die Verkäufer von Patentmedizin auf – es ging um Betrug. Man verkaufte betrügerische Heilmittel an die Kranken und Hoffnungslosen. Stills Botschaft konkurrierte mit diesen Stimmen, mit diesen Systemen. Er trug seine Reden vor den Zweiflern und Ungläubigen vor. Viele davon finden sich in der Autobiografie. Still benutzte die Sprache des Volkes, die zeitgenössische Sprache, der Tagesereignisse um sein Publikum zu erreichen. Aus diesem Grund haben wir Schwierigkeiten Still heute zu verstehen, gleich welchen Hintergrund wir selbst besitzen.

Seine Botschaft ist den Kampf wert. Warum? Weil Stills Anliegen darin bestand, ein System der nicht-schneidenden (chirurgiefreien) und medikamentenfreien Medizin zu schaffen. Er heilte Krankheit. Doch zeichnete er nicht auf, wie dies geschah. Stattdessen bot er eine medizinische Philosophie an, in der dem Körper nichts hinzugefügt oder entzogen wurde. Es ging schlicht darum, den Körper zu veranlassen die Medizin in hinreichenden Mengen an die richtige Stelle zu liefern und dann den Abfall zu entfernen. Es handelt sich um eine Philosophie, bei der er darauf vertraute, dass WIR sie gut verwenden und sein Werk fortsetzen.

Ich möchte jeden von Ihnen dazu ermutigen sein großes Werk zu erproben und zu lesen, das Werk – wie manche sagen – eines der „[…] größten medizinischen Genies des 19. Jahrhunderts.“ Wie die Werke aller Genies konfrontiert es die Lesenden mit Herausforderungen. Doch mit der Ausdauer kommt man zum ‚wahren Nachtisch‘ – zum Lohn.

Ich schließe mit den Worten von A. T. Still:

„Es gefällt mir nicht zu schreiben, ich mache es nur, wenn ich weiß, dass mein Schaffen in die Hände freundlicher Genies gerät, die nicht lesen, um ein Buch voller Zitate zu finden, sondern mit der Seele des Themas gehen, das um seines Wertes willen untersucht wurde – alle Wahrheiten abwägt und dazu beiträgt, seinen Nutzen zum Wohle des Menschen nach vorne zu bringen.“

A. T. Still, Die Philosophie der Osteopathie, 1899

Seien Sie eines dieser freundlichen Genies!

Jane Stark

Guelph, Ontario, Kanada.

EINLEITUNG DES ÜBERSETZERS (2005)

„Ein Osteopath sollte ein klar denkender, gewissenhafter, wahrheitsliebender Mensch sein, der erst redet, wenn er weiß, dass er die Wahrheiten gefunden hat, die er zu wissen vorgibt und sie auch (praktisch) beweisen kann.“

A. T. Still, Die Philosophie der Osteopathie, 1899

Diese Einleitung entfaltet zunächst das Grundkonzept Andrew Taylor Stills knapp und skizziert den Charakter des Hauptargumentes und seiner Darstellung (2). Sodann werden einige Fragen der von Still möglicherweise bzw. wahrscheinlich rezipierten Theorien erörtert, wobei der Philosophie Herbert Spencers – wie sie in den First Principles entfaltet ist – eine besondere Bedeutung zukommt (3). Darüber hinaus werden Sprache, Gestaltung und das grundlegende Muster von Stills medizinisch-philosophischen Büchern Die Philosophie der Osteopathie, Die Philosophie und mechanische Prinzipien der Osteopathie und Forschung und Praxis im Vergleich zur Autobiografie dargestellt, sodass eine leichtere Orientierung in Stills Texten möglich ist (4). Ich beginne mit einer kurzen Vorbemerkung (1).

1. VORBEMERKUNG

Für die zweite Auflage der Werke von Still wurde die Übersetzung überprüft und verbessert. Der eher ‚wörtliche‘ Charakter der Übersetzung in der ersten Auflage blieb wegen der Schwierigkeit der Texte erhalten, eine genaue Bezeichnung der Stellen in den englischen Originalen wurde hinzugefügt. Stilistisch wurden nur unnötige sprachliche Härten vermieden, wenn der deutsche Text den englischen Text allzu sehr nachzuahmen drohte.

Ich habe mich der nicht ganz geringen Mühe des Lektorats und Übersetzens der Texte unterzogen bzw. der Aufgabe die erste Version zu überarbeiten, weil ich selbst glaube, dass die von Still neu entwickelte Form der Medizin gerade auch nichtmedizinische Beachtung verdient. Neben anderen Medizinformen (Schulmedizin, Psychosomatische Medizin, Traditionelle Chinesische Medizin, Homöopathie u. a.) ist sie für eine allgemeine philosophische Perspektive von Interesse, denn es kann keine allgemeine Philosophie geben, die das Thema von ‚Gesundheit und Krankheit‘ nicht im Kontakt zu den verschiedenen Medizinsystemen der Weltkulturen reflektierte. Zudem habe ich selbst gelegentlich osteopathische Behandlung in Anspruch genommen und dabei gute Erfahrungen gemacht. Die von Herrn Christian Hartmann angebotene Zusammenarbeit zwischen einem Kulturwissenschaftler, der interdisziplinäre Erfahrungen mit Naturwissenschaftlern gemacht hat, und einem Mediziner und Naturwissenschaftler, der selbst osteopathische Kenntnisse besitzt, besaß zudem einen großen Reiz. Herr Hartmann zeichnet für die recht stark revidierte medizinische Begrifflichkeit verantwortlich. Ebenso hat er mit nachvollziehbaren Gründen festgelegt, dass die Lesenden Stills von diesem mit der zweiten Person Singular und Plural und nicht mit der distanzierteren Höflichkeitsform ‚Sie‘ angeredet wurden. Nicht nur hierfür bin ich ihm zu großem Dank verpflichtet.

Die Übersetzung folgt der Regel für Osteopathen, die Still im Motto dieser Einleitung aufgestellt hat. Sie vermeidet allzu hypothetische Übersetzungsvorschläge. Das gilt vor allem gegenüber Versuchen, den Sinn von Begriffen oder Bildern, die Still verwendet, allzu rätselhaft anzusetzen. Daher muss man versuchen, die Regel zu erfassen bzw. zu beschreiben, wie Still bestimmte Bilder oder Begriffe tatsächlich verwendet. Also: Wie verwendet er Ausdrücke wie mind, reason, matter, motion, spiritual being, biogen, The Great/Grand Architect, The Great Surveyor, superstructure, specifications usf.? Es könnte selbstverständlich sein, dass Still bestimmte Begriffe oder Bilder so verwendet, dass sie einen sonst in der englischen Sprache seiner Zeit nicht vorkommenden Sinn besäßen. Hat Still vielleicht eine Privatsprache gesprochen? M. E. ist dies nicht der Fall. Insofern orientiert sich die überarbeitete Übersetzung an dem Sachverhalt, dass Still für andere Menschen, darunter nicht zuletzt medizinische Laien geschrieben hat und von ihnen auch möglichst gut verstanden werden wollte. Wie in der Einleitung gleich kurz besprochene, teilweise zu Lebzeiten Stills geschriebene Interpretationen der Grundzüge seiner Position zeigen, ist ihm das nach meinem Eindruck auch durchaus gelungen. Hat man einen etwas breiteren Überblick über intellektuelle und andere gesellschaftliche Bewegungen im Nordamerika des 19. Jahrhunderts, können einen nur die konkrete unverwechselbare Gestalt der Osteopathie Stills und viele kreative Einzelideen überraschen. M. E. bewegt er sich insgesamt im Wesentlichen im allgemeinen Rahmen seiner Zeit – und so sahen es durchaus auch Zeitgenossen wie John Martin Littlejohn und Carl P. McConnell oder auch Helen de Lendrecie – worin sie sich auch immer von der Position Stills dann klar unterschieden haben, wie es besonders bei Littlejohn der Fall ist. Still selbst sieht es ebenfalls so, weil er in seinen Texten angibt, ein medizinischer Vertreter einer gesellschaftlichen Hauptbewegung seiner Zeit in den Vereinigten Staaten zu sein: Wie Thomas Alva Edison u. a. wollte er als kraftvoll schließender Anwender der Naturgesetze gesehen werden, die das Leben der Menschen erleichtern. Still interpretierte den Menschen als Maschine, wobei er glaubte, dass die praktisch relevanten Entdeckungen von Edison, Samuel F. B. Morse u. a. Kopien von Aspekten der einen vollkommenen Maschine Mensch seien. Mit seinem Kirksviller Freund, dem Büchsenmacher Robert Harris wollte er also nicht die Maschinenmetapher auf den Menschen übertragen. Für Still verhielt es sich umgekehrt: Die erfolgreichen lebenserleichternden Maschinen sind Kopien der auf dem ‚Reißbrett‘ (trestle-board) entworfenen und im Menschen vollkommen dargelegten mechanischen Prinzipien (den ‚Plänen‘ [plans, designs] und ‚Bauanleitungen‘ [specifications]) des ‚Großen Architekten‘. Dies wirft natürlich Fragen etwa zum Mechanismus auf, die in dieser Einleitung jedenfalls knapp erörtert werden. Für Still gehörte eine derartige Medizin zu den Errungenschaften der nordamerikanischen Revolution, für deren konkrete Verwirklichung er im Bürgerkrieg eingetreten war und aufgrund derer er auch die tatsächliche Gleichberechtigung der Frauen forderte und im osteopathischen Studium verwirklichte. Still gehört nach seiner Selbstinterpretation also in den hellen, praktischen, an den Menschenrechten ausgerichteten freiheitsliebenden, wissenschaftsorientierten, philosophisch vertieften Zug der nordamerikanischen Aufklärung.6

 

Vor allem scheint es ratsam, beim Verständnis der Texte Stills ebenfalls seine Regel für Osteopathen anwenden: Reden bzw. schreiben sollte man dann über derartiges nur, wenn man es zumindest zu wissen und an Textbeispielen praktisch beweisen zu können glaubt. Jedenfalls lassen sich diese Einleitung und auch die Übersetzung der Texte Stills hiervon leiten. Damit ist gerade nicht behauptet, dass der ‚ganze Still‘ aus seinen spät geschriebenen Texten zu erschließen wäre. Dies ist eine weitere Aufgabe, die historische Informationen und den bislang unveröffentlichten Nachlass Stills in Kirksville berücksichtigen muss. Wie bei vielen bedeutenden Denkern und Praktikern seit Platon könnte sich daher eine Debatte darüber entwickeln, ob es neben den veröffentlichten (und von Still autorisierten) Texten eine andere, ‚tiefere‘, nur Eingeweihten zugängliche Osteopathie gibt. Diese Möglichkeit wird hier nicht bestritten. Wohl aber wird hier behauptet, dass Stills Texte einen nachvollziehbaren Sinn besitzen, der sich in Regeln erfassen lässt. Für die Lösung der Aufgabe, wer Still wirklich war und was er tatsächlich gemeint hat, ergibt sich im Übrigen ein einfacher Weg. Da er gelegentlich ankündigt, noch oft nach seinem Tod in Kirksville vorbeizusehen, um wahrzunehmen, wie es mit der Osteopathie weitergegangen sei, sollte man den alten Spiritisten dort zu einer Seance bitten. Vielleicht gelingt dies – und der ‚Alte Doktor‘ als Medium beantwortet gewiss alle offenen Fragen.

2. DAS GRUNDKONZEPT ANDREW TAYLOR STILLS (MAN IS TRIUNE)

Die Beschäftigung mit den Texten und der Geschichte der Osteopathie erbrachte allmählich ein deutlicheres Bild des von Andrew Taylor Still Geschriebenen. Die historische und philosophische Erforschung der Werke Stills kann heute mit einer gewissen Sicherheit an klassische Versuche anknüpfen. Zu nennen sind vor allem der Professor an der Chicagoer Osteopathieschule Carl P. McConnell, der noch zu Lebzeiten Stills die Texte Stills im Kontext zeitgenössischer philosophischer Diskussionen verortete.7 Hinzu treten die Versuche von Wilborn Deason den medizinisch-philosophischen Hintergrund Stills aufzuhellen.8 Darauf beruhen auch die gehaltvollen Versuche von Carol Trowbrigde9 und James/Rene McGovern.10 Auch Walter Llewellyn McKone entwickelt diese Arbeiten weiter.11 Wichtige Facetten zu diesem Bild hat jüngst Jane Stark hinzugefügt.12 Dabei ist aus historischer Sicht vor allem ihr Nachweis zu würdigen, dass Still Freimaurer war – was sich einem aufmerksamen Leser seiner Texte aufgrund der Architekten- und Baumetaphorik als nahe liegende Lektürehypothese geradezu aufdrängt. Jane Stark hat darüber hinaus zu dieser Übersetzung eine Reihe von wichtigen Interpretationsvorschlägen beigesteuert, sodass der Lektor und Übersetzer ihr zu großem Dank verpflichtet ist.

Trotz mancher Fragen, die man stellen kann, bleibt es wohl doch bei den grundsätzlichen Überlegungen, die schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt worden sind. Still war in der Pionierzeit des heutigen Mittleren Westens der Vereinigten Staaten bis hin nach Kalifornien (American Frontier) durch die durchaus harte Welt der ihn umgebenden Natur fasziniert. Er beobachtete genau, er las – wie es in seinen Schriften heißt – das ‚Buch der Natur‘, in das sich für die aufmerksame menschliche Erfahrung zugänglich ‚Gott‘ eingeschrieben hatte. Wann er begann, dies kritisch-theoretisch zu reflektieren, bleibt historisch im Dunkeln. Dass er es getan hat, steht allerdings außer Zweifel. Er setzte sich mit theoretischen Bemühungen auseinander, die im Kontext des ‚Amerikanischen Transzendentalismus‘ entstanden waren.13 Es handelt sich hierbei um die Romantik der ‚Vereinigten Staaten‘, die auf viele Intellektuelle und Praktiker großen Einfluss hatte. Hier wurden auch Themen akademisch diskutiert, die auf dem ‚alten‘ Kontinent keine große akademische Relevanz mehr hatten: Emmanuel Swedenborg, Mesmerismus, Spiritismus u. a. m. Von diesen Entwicklungen war Still offenkundig beeinflusst, wie schon Carol Trowbrigde überzeugend dargelegt hat. Eine Bestätigung findet dies in der Arbeit von Jane Stark. Bei Ralph Waldo Emerson kommen die Grundzüge dieser Betrachtungsweise schön zum Ausdruck:

„Unser Zeitalter ist retrospektiv. Es baut die Grabdenkmäler seiner Väter. Es schreibt Biografien, Geschichtsbücher und Kritiken. Frühere Generationen schauten Gott und Natur von Angesicht zu Angesicht; wir jedoch sehen nur mit ihren Augen. Warum sollten nicht auch wir uns einer ursprünglichen Beziehung zum Universum erfreuen? Warum sollten wir nicht eine Dichtung und Philosophie der Einsicht statt der bloßen Tradition haben und eine Religion zu uns sprechender Offenbarungen anstelle einer Geschichte unserer Vorväter?“ 14

Diese Grundgedanken variiert Still in seinen Texten unaufhörlich. Er teilt mit dieser Strömung die Ablehnung von Tradition, nur vermittelter Erfahrung und Wahrheit. Wir müssen stattdessen direkt, ursprünglich Zugang zu ‚Gott und der Natur‘ finden, uns den Offenbarungen des Universums zuwenden. So entsteht eine Dichtung und Philosophie der Einsicht, wobei sich Still vorwiegend der Philosophie zugewandt hatte, obgleich seine Sprache auch an manchen Stellen eine poetische Kraft gewinnt. Philosophisch ist es wichtig, Gott und die Natur zu erfassen, also in diesem Sinne das Ganze zu verstehen, auch wenn man nur einen eher schmalen, freilich wichtigen Teilbereich wie die Medizin praktisch bearbeitet.

Für Stills Position war grundlegend, dass er das zentrale Wirklichkeitsmodell der poetisch-philosophischen Versuche der Transzendentalisten für sich eigentümlich entwickelte. Wie in der deutschen Frühromantik versuchte man in der Romantik der Vereinigten Staaten vor allem den Natur-Kultur-Dual zu überwinden, also: Wo Natur ist, gibt es keine Kultur – und umgekehrt. Das gleiche gilt natürlich auf den Menschen bezogen, also anthropologisch auf das Verhältnis von Natur und Geist. Beides kann nicht streng gegeneinander definiert werden. Im Unterschied zur deutschen Frühromantik entwickelten aber zumindest einige ‚Amerikanische Transzendentalisten‘ das Modell einer dreifach differenzierten Einheit, welche die Gegensätze von Natur und Geist und von Natur und Kultur überbrücken sollten.15 Es liegt auf der Hand, dass Stills dreigliedrige Unterscheidung von mind, matter, motion bzw. mind, body, spirit oder being of mind, material body und spiritual being genau dies leisten sollte. Gemeint sind in deutscher Wiedergabe Verstand, Körper und Seele. Konsequent sprach Still daher auch davon, dass der Mensch eine dreifach differenzierte Einheit sei: Man is triune.16 Dabei ist beides gleich wichtig: der Mensch stellt eine Einheit dar und diese Einheit ist dreifach differenziert – was für das Gotteskonzept die christliche Trinitätslehre hatte leisten sollen.17

Die drei Elemente der Einheit stehen in ständiger Kommunikation miteinander. Dies ist allerdings ein Punkt, den Still eher voraussetzt als einer genauen Untersuchung unterzieht.18 Hier bleiben insbesondere für die Konzeption des spiritual being weiter offene Fragen. Sicher ist nur, dass für Still darin das personale Zentrum eines Individuums lag, ob dies nun als Prinzip oder als Substanz zu denken sei. Beide Auffassungen finden sich in Stills Werk. Diesem spiritual being schreibt Still eine postmortale Existenz zu. Im irdischen Leben bewegt es den Körper (material body).

Dieser ist als dynamisches Fließgleichgewicht von Nervenimpulsen und Körperflüssigkeiten zu verstehen, der nerve fluids oder auch nerve action sowie der body fluids, arterielles und venöses Blut, Lymphe, Darmlymphe und Zerebrospinale Flüssigkeit verstanden. Fluid umfasst hier durchaus auch gasförmige Zustände. Es geht dabei um eine fortwährende Prozessualität, es besteht keine Statik. Auch der von Still unterstellte Normal-zustand besteht in einem dynamischen Fließgleichgewicht (equilibrium), das stets neu aufgebaut werden und verbrauchte Elemente ausscheiden muss. Beide Elemente, nerve fluids und body fluids, hängen wechselseitig voneinander ab. Genau auf diesem Modell gründet Stills Krankheitsverständnis:

Vor dem Hintergrund dieses Gedankens fragte ich mich: Was ist Fieber? Ist es eine Wirkung oder eine eigentliche Krankheit – wie es allgemein von medizinischen Autoren beschrieben wird? Ich erschloss, es sei einfach eine Wirkung, überprüfte diese Hypothese experimentell und wunderbarer Weise bestätigte die Natur ihre Wahrheit. Nach 25 Jahren genauer Beobachtung und Experimente schloss ich, dass es keine Krankheiten wie Fieber, Erkältung, Diphtherie, Typhus, Paratyphus, Lungenfieber oder alle anderen Krankheiten, die man unter dem allgemeinen Begriff Fieber, wie Rheumatismus, Gicht, Ischias, Koliken, Leberkrankheiten, Nesselausschlag oder Pseudokrupp bis hin zum Ende dieser Liste zusammenfasst, gibt. Es gibt sie als Krankheiten einfach nicht. Es handelt sich bei diesen nur um einzelne oder kombinierte Wirkungen. Die Ursache kann gefunden werden und sie besteht in der verringerten oder verstärkten Nervenaktion, welche die Flüssigkeiten in Teilen oder im Ganzen des Körpers steuert. Es erscheint völlig schlüssig für jeden, der mit mehr als den Fähigkeiten eines Narren geboren wurde und der sich mit der Anatomie und der Funktion des Lebensmechanismus vertraut gemacht hat, dass alle diese Krankheiten nur Wirkungen sind, deren Ursache im teilweisen oder ganzen Versagen der Nerven liegt, die Lebensflüssigkeiten vernünftig zu leiten. (Autobiografie)

 

Die verringerte oder verstärkte Nervenaktion steht im Vordergrund der Wahrnehmung Stills. Aber natürlich sind die Nerven so abhängig von der arteriellen Ernährung und der venösen Drainage wie umgekehrt. Doch die osteopathische Manipulation geht tatsächlich primär von der Hemmung oder Verstärkung von Nervenimpulsen aus (vgl. das Kapitel XX in Die Philosophie der Osteopathie, das von William Smith stammt).

Der Verstand, der mind soll dies alles leiten (manage). Wie das genau für den einzelnen Menschen aussieht, bleibt ebenfalls eine offene Frage. Es ist z. B. so, dass die Blutkörperchen in ihrer Aktion vom mind bestimmt sind. Möglicherweise war Still hier auf dem Wege zu Einsichten, die in der ‚Psychosomatischen Medizin‘ diskutiert werden. Dann müssen freilich die vielen metaphorischen Äußerungen, nach denen der mind anordnet, befiehlt usf., die Blutkörperchen gehorchen und die Befehle ausführen usf. ernst genommen werden. Still scheint sich vorgestellt zu haben, dass durch die Nervenimpulse Informationen weitergegeben werden, die verstanden werden können und müssen, aber auch abgelehnt oder angenommen werden können. Und Krankheit entsteht dann, wenn dieser Informationsfluss gestört ist. Daher der Ansatz bei der Manipulation der Nerven, insbesondere in der Halswirbelsäule und entlang der Wirbelsäule.

Still folgt darin wohl (bewusst oder unbewusst) den Alten. Schon diese hatten die medizinische Kunst mit den Zeichen in Verbindung gebracht. Auch Still kennt den Ausdruck Semiotik (Zeichenlehre, Zeichentheorie) und verwendet ihn ganz traditionell: Die Zeichen stehen für die Symptome, von denen man auf die Ursachen schließen kann. Die Zeichen sind der Ausdruck der Krankheiten. Der Vorwurf Stills an die Medizin seiner Zeit, aber auch darüber hinaus besteht nun darin, dass man eben Zeichen und Ursachen verwechselt, also die Zeichen für die Krankheiten hält – und praktisch dann den Rauch (Zeichen, Symptome) anstelle des Feuers (Ursache) bekämpft. Doch die tatsächlichen Ursachen liegen in Hemmungen oder übermäßigen Beschleunigungen der Nervenimpulse, die durch Fehlstellungen insbesondere des Skeletts zustande gekommen sein sollen.

Sieht man dies, wird deutlicher, was der mind für die Osteopathie als Wissenschaft bzw. die osteopathische Philosophie bedeutet. Wie seit der Antike üblich, aber zeitgenössisch durch so unterschiedliche Autoren wie Sir Arthur Conan Doyle mit seiner Figur Sherlock Holmes und Charles Peirce mit seiner ausgeführten Semiotik ausführlich dargestellt, versteht Still die Tätigkeit des mind als Schlussfolgerungsprozess (reasoning bzw. reason), der conclusions (Schlussfolgerungen als Resultat) erzielt.19

„Es gibt nur eine Methode des Schließens. Diese Methode liegt in den Gesetzen des Gegenstands begründet, den wir erschließen. Schließen ist die Aktion des Verstandes, während er auf der Suche nach der Wahrheit ist.“ (Die Philosophie der Osteopathie)

Das ist nach beiden Seiten zu bedenken. Betrachtet man dieses Zitat im Blick auf das Verhältnis von mind und Blutkörperchen, dann wird man wohl unterstellen dürfen, dass Still auch hier den mind auf der Suche nach der (praktischen) Wahrheit sieht, also auch diese Aktionen des mind über das Nervensystem und seine verschiedenen Aspekte als Schließen versteht. Dann stände er den heute sehr ausgearbeiteten Versuchen in der Psychosomatischen Medizin nahe, die unter Rückgriff auf Charles Peirce und mit einem genaueren naturwissenschaftlichen Wissen das Verhältnis von Körper, Verstand und Seele als derartige schließende Zeichenprozesse verstehen.20

Still geht darüber noch hinaus. Ihm zufolge ist der Mensch eine Repräsentation, eine Darstellung, ein Zeichen des Kosmos, insbesondere der mechanischen Beziehungen des Sonnensystems.21 Nach Still ist also der gesamte Kosmos semiotisch organisiert, weil der Mensch als Mann und Frau eine Darstellung des Kosmos ist. Still vertrat mithin wie indische und chinesische Medizinentwürfe eine Mikrokosmos-Makrokosmos-Vorstellung. So kann er einzelne Organe wie das Herz oder Gliedmaßen wie den kleinen Zeh mit Planeten des Sonnensystems vergleichen. Anders als die indischen und chinesischen medizinischen Schwestern verwendete er die Mikrokosmos-Makrokosmos-Vorstellung aber nicht dazu z. B. (teilweise energetisch interpretierte) Ernährungsempfehlungen zu geben oder entsprechende Medikamente zu verordnen. Es geht bei Still um die einander im Makrokosmos und dem Menschen als Mikrokosmos entsprechenden mechanischen Beziehungen von Elementen eines Systems. Jedenfalls versuchte er u. a. so, das transzendentalistische philosophische Postulat zu erfüllen, man müsse Gott und Natur jenseits der Traditionen und Gewohnheiten als ursprünglicher Denker direkt begegnen.

Diese osteopathischen Schlussfolgerungen sind insgesamt auf die Evidenzbasis der fünf Sinne angewiesen. Da es sich dabei um aus verschiedenen ähnlichen oder gleich erscheinenden Erfahrungen gewonnene Regeln handelt, ist der zentrale osteopathische Schlussfolgerungsprozess wie überwiegend im Abendland die Induktion.

Damit ist gemeint, dass wir verschiedene ähnliche Fälle wahrnehmen, die wir als Fälle einer Regel verstehen können. Wenn in vielen Fällen ein bestimmtes Symptommuster vorliegt, dann können wir induktiv schließen, dass folgende Krankheit besteht… Wir schließen induktiv von der Ähnlichkeit der Zeichen bzw. der Symptome auf die gleiche Krankheit als Ursache.

Unsere Erfahrung ist induktiv aufgebaut. Aufgrund vieler ähnlicher Wahrnehmungen haben sich Erfahrungsmuster aufgebaut, die uns schon selbstverständlich erscheinen, sodass wir den Schlussfolgerungsprozess kaum einmal bewusst erleben. Darin liegt eine latente Unsicherheit, weil zukünftige Erfahrungen unsere Regeln nicht zwingend bestätigen müssen, die wir gegenwärtig für richtig halten, sondern uns zum Neuentwurf oder zur Korrektur einer Regel anregen. Eben deswegen regte Still die Überprüfung seiner Ergebnisse in der zukünftigen osteopathischen Erfahrung an und lehnte jede Form der Heldenverehrung ab.

Wenn unsere induktiv gewonnenen Einsichten für uns unverrückbar geworden zu sein scheinen, dann erlauben wir uns manchmal auch deduktiv zu schließen. Aus einer als feststehend betrachteten Einsicht, ziehen wir logisch zwingend Schlüsse. So bezweifeln nur ganz wenige, dass aus ‚Martin Pöttner ist ein Mensch‘ folgt, dass Martin Pöttner sterblich ist. Denn wir unterstellen überwiegend, dass alle Menschen sterblich sind. Daraus folgt, dass Martin Pöttner sterblich ist. Still tendiert in seinen Texten dazu, die von ihm entdeckten grundlegenden Prinzipien als solche unverrückbaren Einsichten, als unerring natural laws (‚irrtumsfreie Naturgesetze‘) zu betrachten. Gleichwohl muss dies wohl auch nach Still immer noch die Zukunft zeigen, obgleich er nicht daran zweifelte, dass es so sein werde.

Wie kommt man nun überhaupt zu Einsichten? Natürlich werden wir erst einmal in elementaren Erfahrungssituationen als Kleinkinder von unseren primären Bezugspersonen erzogen und mit grundlegenden Einsichten, die sie haben, vertraut gemacht: ‚Fasse nicht auf die Herdplatte, Du tust Dir sehr weh!‘ Kommt man aber ins Fragen, ob dies denn alles so stimmt, was einem die Erwachsenen erzählt und beigebracht haben, dann kann man sich zunächst bei anderen Autoritäten informieren und von ihnen Einsichten zu erwerben versuchen. Doch schließlich kommen viele Menschen in die Situation, in der Still spätestens nach dem Tod von mehreren Familienmitgliedern durch Zerebrospinale Meningitis war: Er erkannte, dass sein religiöser und medizinischer Hintergrund, mit dem er aufgewachsen war, nicht trug. Mit ihm ließ sich die schreckliche Situation nicht hinreichend deuten. Was nun? Man muss raten, wie es anders ist. Man begegnet Fremden und versucht sich neu zu orientieren. Man muss raten. Da Still aber kritisch war, riet er tapfer, wusste, dass er geraten hatte, und versuchte die erfolgreichen Rateergebnisse durch verschiedene ähnliche Erfahrungen zu bestätigen. Er schloss also aufgrund einer Erfahrung von Fremdheit ratend, unterstellte, dass sein Handeln wie das Reiben der Wirbelsäule eines an Durchfall erkrankten Kindes offenbar mit regelmäßigen Gründen erfolgreich gewesen war. Die fremde Erfahrung musste also der Fall einer Regel sein. Nur wie sah die Regel aus? Still bestätigte für sich zunächst, dass diese Methode mehrere Fälle von Durchfall kontrollieren konnte. Doch er wusste noch immer nicht, wie die Regel aussah. Irgendwann aber kam er auf die Regel des Verhältnisses von nerve fluids und body fluids. Den Rateprozess, den Still durchlaufen hatte, nennt man (wohl seit der Antike) Abduktion bzw. Hypothese (insbesondere im antiken medizinischen Kontext). Er ist noch erheblich zerbrechlicher als die Induktion. Aber ohne ihn könnte man niemals zu neuen Erkenntnissen kommen, also ‚Gott und die Natur‘ direkt oder ursprünglich und jenseits der traditionellen Auffassungen erfassen. Still wendet diesen Punkt kritisch gegen seine medizinischen Zeitgenossen. Sie haben gerade in der Symptomatologie und Semiotik nur geraten, aber nicht weiter induktiv überprüft. Darin besteht der nachvollziehbare Kern seiner Kritik.