Schiffbruch

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Samstag

Sabine Herrmann hatte sich auf sieben Uhr angemeldet, um zusammen mit ihrem Mann Robi und zwei Helfern die Sachen aufzuräumen. Lena hatte ihrerseits gestern bei ihrer Unterhaltung angeboten, dabei zu helfen – sie hätte ja Zeit und sei nicht ganz ungeschickt. Schliesslich sei sie momentan vor allem im Gastgewerbe tätig, hatte sie Sabine gestern erzählt.

Es ging schnell und leere Flaschen, Geschirr, Besteck und all die Tischwäsche waren weggeräumt. Bald blieben nur die Stehtische und ein paar Stühle, die in den Camion mussten. Nicht einmal der Gestank von kaltem Zigarettenrauch erinnerte an den gestrigen Abend – das war vor acht Jahren noch anders gewesen, erinnerte sich Lena. Zum Schluss, versicherte Sabine, werde alles sauber gemacht, die Putzequipe sollte um zehn Uhr hier sein.

Aline kam später dazu und schob Möbel und einige Gegenstände wieder dorthin, wo sie ihrer Meinung nach hingehörten. Alles hatte seinen Platz in ihrem Haus.

Die kleine Crew um Sabine verabschiedete sich, als Patrick in halboffenem Hemd und barfuss in der Küche auftauchte.

«Bist du sicher, dass nirgendwo Scherben herumliegen?», fragte Aline, während sie sich den zweiten Kaffee zubereitete.

Nach kurzer Zeit kam Patrick mit rotgestreiften Schlappen zurück, trank drei, vier Gläser Wasser und machte sich seinerseits einen Espresso. Lena hatte Sabine bis zum Gartentor begleitet und suchte jetzt im Speiseschrank nach etwas, was ihrem biologischen Anspruch genügte.

Aline ihrerseits fand ihr Bananenjoghurt und meinte:

«Was für eine Seltenheit … oh Mist …» Sie war mit dem weiten Ärmel ihres Morgenrocks am Griff des Kühlschranks hängen geblieben. Das Joghurt fiel ihr aus der Hand, zerplatzte am Boden und hinterliess eine Schweinerei.

«Passt irgendwie alles zusammen …», murrte Patrick schlecht gelaunt. Lena riss Küchenpapier von der Rolle.

«Nicht weiter schlimm», fand sie, «was meintest du mit ‹Seltenheit›?»

«Dass wir alle drei gleichzeitig in der Küche sind», sagte Aline und half Lena beim Aufputzen.

«Erstaunt mich auch…», sagte Patrick, dann zu Lena:

«Vor allem, dass du schon auf bist!»

Lena verdrehte die Augen. Aline überspielte die sich anbahnende Stichelei.

«Ich finde, wir müssten das mehr tun … zum Beispiel mal wieder zusammen essen. So wie das eine Familie üblicherweise tut. Wann haben wir – wir drei – zum letzten Mal zusammen um den Tisch gesessen?»

«War auch schwierig in letzter Zeit mit all den Wahlveranstaltungen», murrte Patrick.

«Die sind jetzt vorbei. Also: Warum machen wir das nicht jeweils am Mittwoch?», schlug Aline vor.

Lena goss Bio-Saft in ein grosses Glas:

«Was willst du jetzt noch etwas anfangen, was wir seit Jahren nicht hatten? In ein paar Wochen bin ich eh weg.» Lena schien nicht begeistert.

«Dann erst recht», fand Aline.

«Und wenn sie nicht will?» Patrick verband seine Aussage mit einem gespielt bedauernden Ausdruck.

Aline stand vor dem Küchenkalender, den Ernst jeweils pünktlich zum Jahreswechsel an seine guten Freunde verschickte. Er zeigte nebst den Wochentagen, gekonnt skizzierte Eindrücke von seinen Reisen.

«Es bleiben drei Mittwoche», zählte sie, «das wären mehr gemeinsame Nachtessen, als wir während der letzten sechs Monate hatten.»

«Versuchen wir’s. Wenn’s klappt ist gut, sonst halt nicht.» Lena spülte das leere Glas aus.

«Mit dieser Einstellung wird das nichts», fügte Patrick an.

«Was haben wir überhaupt zu reden miteinander? Wir reden ja nie – nie zu dritt.» Lena fuhr weiter: «Seit jeher haben wir nie zu dritt geredet. Immer nur du mit Mama, ich mit Mama, Mama mit dir, ich mit dir … Letzteres allerdings immer seltener.» Aline versuchte, den Moment zu retten.

«Eben – genau darum machen wir jetzt diese Nachtessen.»

«Stumme Dreisamkeit, reizvoll.» Lena biss in einen Apfel.

«Mit andern fällt’s dir jedenfalls nicht schwer, zu quatschen …», sagte Patrick.

«Was heisst da quatschen?»

«Ja … von der Höchli konntest du offenbar nicht genug kriegen, gestern Abend.»

«Was soll denn das? Muss ich dich etwa fragen, mit wem ich reden darf? Du jedenfalls fielst nicht gerade als grosser Entertainer auf …»

Alines gute Laune war weg:

«Jetzt hört doch auf mit dieser dauernden ‹Anöderei›. Ihr vermiest einem den Tag, bevor er angefangen hat! Eben hatte ich noch alle Fenster offen und schon kann man die Luft mit dem Messer abschneiden.»

«Ein postpubertärer Ausbruch – dagegen kann man nichts tun», grinste Patrick.

«Wie kannst du so gemein sein», Lenas Gesicht war weiss vor Wut – «wie kann ein Vater überhaupt derart fies sein … und das seit Wochen, nein, seit Monaten. Beleidigen, lächerlich machen, erniedrigen … mehr kannst du nicht. Was verdammt nochmal habe ich dir zuleide getan?»

Aline lehnte bleich am Kühlschrank und zitterte. Patrick atmete schwer und hatte eine Gesichtsfarbe, als hätte er soeben einen halben Liter Weisswein in nüchternen Magen geschüttet.

«Eben, wenig bis nichts hast du getan. Höchste Zeit, dass du mit zweiundzwanzig Jahren etwas anfängst. Auch wenn’s Biologie ist … was soll’s. Allemal besser als bis elf Uhr im Bett liegen und nachts mit irgendwelchen Mikrofonen im See herumstochern.»

Lena war verschwunden.

Aline tat, was sie noch nie getan hatte, seit Patrick sie kannte.

Sie begann zu schreien. So laut, dass es in den Ohren weh tat.

Mit krebsrotem Hals und gelblich weissem Gesicht stand sie wie angegossen vor dem blauen Kühlschrank und schrie. Es schien, eine Minute lang.

Patrick wusste nicht, was tun, fasste sich an den Nacken und tappte wortlos auf die Veranda.

Nach ihrem Schreien sank Aline zusammen. Für eine, zwei Minuten weinte sie tonlos, angelehnt an den Kühlschrank. Schliesslich stand sie unsicher auf und suchte Lena. Sie fand sie in ihrem Zimmer. Lena lag auf ihrem Bett, schaute kurz auf, als ihre Mutter ins Zimmer trat. Für eine Weile sagten beide nichts. Aline blickte aus dem Fenster: Bäume, der Rasen, der fast nur aus Klee bestand, Schilf, das alte Bootshaus. Der See lag ruhig da, es bewegte sich nichts, ausser einer Katze, die merkwürdig unentschlossen über den Rasen ging.

Alines gerötete Augen schauten ins Leere: «Erinnerst du dich, wie nah ihr euch wart?»

Lena sagte nichts.

Aline: «Erinnerst du dich?»

Sie drehte sich vom Fenster weg und fragte Lena direkt.

«Weisst du, was dazwischen passiert ist?»

Lena: «Dazwischen?»

«Eben, zwischen dieser Zeit und jetzt?» Lena sass im Bett auf.

«Ich habe seine Erwartungen nicht erfüllt.»

Aline dachte nach.

«Und?»

«Und? Bin eine erwachsene Frau geworden.» Aline versuchte ein Lächeln.

«Da dran ist doch nichts falsch.»

Lena: «Das nicht, aber …»

«Aber?», fragte Aline.

«Aber seither sind meine Gefühle für ihn durcheinander.»

«Das hast du mir schon mal erzählt.»

«Und du hast es auch letztes Mal nicht verstanden.»

Sie möchte jetzt alleine sein, sagte Lena und legte sich wieder aufs Kissen.

Aus der Distanz hörte man einen Staubsauger aufheulen. Offenbar hatte Patrick die Putzequipe ins Haus gelassen.

4
Sonntag

Patrick wälzte sich so lange im Bett hin und her, bis ihn Aline in halbwachem Zustand bat, doch woanders zu schlafen. Er stieg wortlos aus dem Bett, suchte seine Kleider zusammen und tappte im Dunkeln in das Büro im Erdgeschoss. Dort richtete er sich behelfsmässig auf der Chaiselongue ein. Das Büro – es war auch Alines Arbeitszimmer – ging direkt auf den von hohen Bäumen umgebenen Kiesplatz vor dem Haus.

Es war noch nicht sechs Uhr, als ihn Stimmen aus dem oberflächlichen Schlaf holten. Ja, das waren Stimmen, versicherte er sich und wusste gleichzeitig, dass genau das, was er befürchtet hatte, jetzt, an diesem Sonntagmorgen, eintraf. Er schaute vorsichtig aus dem Fenster und sah drei, nein, vier uniformierte Menschen herumgehen, unter ihnen ein Mann um die dreissig in Jeans, Sakko und Krawatte.

Es regnete. Patrick wollte verhindern, dass gar einem einfallen würde, zu klingeln. Er zog sich hastig eine Trainerhose und ein T-Shirt über und entriegelte die Haustüre.

Sofort kam der zivil angezogene Mann auf ihn zu, der sich als Imfeld, Staatsanwalt, vorstellte.

«Herr Regierungsrat, es sieht fast so aus, als hätten Sie uns erwartet.» Er sprach in diskreter Lautstärke – zum Glück, dachte Patrick.

Geistesgegenwärtig reagierte er. Nicht, weil er nicht schlafen konnte, wäre er bereits auf den Beinen, sondern:

«Ich bin am Sonntag meist früh im Büro, um all den privaten Kram zu erledigen, für den ich unter der Woche keine Zeit finde …»

Imfeld zeigte Verständnis. Das hier seien die Kolleginnen und Kollegen von der Kantonspolizei, alle nickten ihm stumm zu. Das Ganze sei reine Routinesache und er bitte um Verständnis, aber vor dem Gesetz seien alle gleich. «Doch wem sage ich das, Sie sind ja Anwalt und Regierungsrat …»

«Selbstverständlich», versuchte Patrick jovial zu wirken – «ich habe absolutes Verständnis.» Ruhig bleiben, möglichst unauffällig, versuchte er sich zu überzeugen. Wobei, hat er sich nicht schon verraten? Der Staatsanwalt hatte ja noch nicht einmal einen Hinweis geäussert, worum es geht und er hat voreilig von «Verständnis» geschwafelt. Wofür? Das war aber auch dem jungen Anwalt, vermutlich vollkommen unerfahren, nicht aufgefallen.

 

Wichtig war jetzt: Das Geschwätz unter der Türe musste so schnell wie möglich aufhören, Aline hatte einen leichten Schlaf. So versuchte Patrick, das vierköpfige Polizei-Aufgebot von der Eingangstüre zur weiter weg liegenden Garage zu locken, was halbwegs gelang.

«Sie haben ein Holzboot – Herr Girard – und Sie wissen ja, wegen diesem Unfall befragen wir nun sämtliche Besitzer von Holzbooten auf unserem See … somit auch Sie. Ihr Boot liegt in einem privaten Bootshaus, richtig?»

Patrick erzählte nun seine Geschichte mit dem «Malheur», wie er es nannte, darum sei sein Boot zurzeit in der Werft. Imfeld stellte klar, dass seine Crew – unter ihnen Frau Petrlic, eine Forensikerin – dennoch kurz das Bootshaus anschauen möchte, «auch wenn Ihr Boot in der Werft ist. Seit wann, wenn ich fragen darf?», wollte Imfeld wissen.

«Seit vorgestern.»

«Das wäre also der Tag nach dem Unfall …»

«Ja, wegen meiner Blödheit … ist mir noch nie passiert, so was …», scherzte Patrick. Zwei uniformierte, bewaffnete Männer mit Funkgeräten und Kopfhörer im Ohr, sowie die ebenfalls offiziell gekleidete Forensikerin schritten, zusammen mit dem Staatsanwalt und angeführt von Regierungsrat Patrick Girard in Trainerhose, über den nassen Rasen zum Bootshaus. Er war heilfroh, dass diese Geschichte sich innerhalb des geschützten Gartens und um diese Uhrzeit an einem Sonntagmorgen abspielte. Wenn das weitere Prozedere ablaufen würde, wie er es sich wünschte, würden weder Aline noch Lena etwas von diesem Polizei-Überfall erfahren.

Im Bootshaus schauten sich alle genau um und Patrick musste minutiös schildern, wo und wie der Unfall passiert war. Er wiederholte, wie peinlich ihm das wäre, ihm, der hunderte Male das Boot in dieses Haus gefahren habe, «aber eben, die liebe Technik … Ist auch eine alte Dame, das Schiff», fügte er scheinbar gelöst an. Das verstehe er und habe er auch kapiert, reagierte Staatsanwalt Imfeld etwas gereizt.

Es wurden Fotos geschossen, man brach einige Partikel von der beschädigten Wand ab und steckte sie in eine Plastiktüte. Einer mass den Wasserstand im Bootshaus.

«So weit gut für uns. Wir lassen Sie das Wochenende geniessen, Herr Girard. Zwei Fragen noch.»

Patrick hatte sich zu früh entspannt.

«Um welche Uhrzeit ist dieses – wie Sie es nennen – ‹Malheur› passiert?»

«Genau das habe ich mir nicht überlegt», schoss es Patrick durch den Kopf.

«Ja, wann war das?», sagte er halblaut, um Zeit zu schinden. Nun, präzise könne er das nicht sagen – auf dem Wasser schaue er normalerweise nicht auf die Uhr. «Muss ich ja sonst andauernd», lachte er unpassend.

«Ungefähr.» Imfeld blieb staubtrocken.

«Ich denke, es war nach elf Uhr … Ja, viertel nach. Glaube ich.»

«Aha, 23.15 Uhr». Die Forensikerin tippte auch das in ihr Tablet. «Und bei welchem Bootsbauer liegt Ihr Schiff jetzt?»

Patrick erklärte halbwegs erleichtert, dass der Schiffbauer, Ivan Piccinonno, seit Freitag in den Ferien sei. Und er müsse benachrichtigt werden, das Schiff liege in einer abgeschlossenen Halle.

Sie würden sich gleich mit ihm in Verbindung setzen und sobald sie ihn erreicht hätten, würden sie ihn – «also Sie, Herr Girard» – informieren. Bei der Inspektion des Schiffs müsse er allerdings nicht mit dabei sein.

Imfeld nahm sein Handy hervor. Es steckte in einer bunten, geradezu kindischen Hülle, auf der «keep going» stand.

«Sie haben sicher seine Handynummer, oder?»

Patrick gab ihm die Nummer. Während Imfeld sie emsig in sein Handy tippte, sagte Patrick: «Wie gesagt, Piccinonno ist in den Ferien und er wäre wohl dankbar, wenn man ihn nicht schon um diese Zeit …»

«Das machen wir schon richtig, Herr Regierungsrat, seien Sie unbesorgt», belehrte ihn Imfeld. «Übrigens, wo haben Sie sich verletzt?»

«Sie meinen den Kratzer an der Stirne? Gleich hier, beim Steg, es war dunkel und das Schilf, ja, ich müsste es längst etwas zurückstutzen. Aber da hat man ja heutzutage seine Hemmungen … Naturschutz, Sie verstehen.»

Die Delegation machte sich davon. Patrick musste sich setzen. «War ich gut?», fragte er sich, – «war ich glaubhaft?»

Es regnete weiter an diesem «Tag des Denkmals». Patrick wäre heute zu nichts verpflichtet gewesen, auch wenn das Amt für Denkmalschutz und Archäologie seinem Departement unterstand. Sigi Balmer, seit drei Monaten Verantwortlicher für die Denkmalpflege, hatte ihm eine Mail geschrieben, dass er natürlich mehr als willkommen sei – egal wo. Am meisten würde er ihm allerdings die Führung durch den frisch renovierten ‹Rosenhof› empfehlen.

Patrick hätte in seiner rastlosen Verfassung selbst an der Führung durch das eigene Büro teilgenommen. Vollkommen unvorstellbar war für ihn lediglich, den heutigen Tag in Musse zu Hause zu verbringen, weil er dazu schlicht unfähig war. Er hatte zwar Aline gegenüber oft gejammert, wie sehr er die klassischen Sonntage mit Frühstücksei und gemütlichem Zeitungslesen vermisse wegen all dieser «Hundsverlocheten», an denen seine Anwesenheit erwünscht war.

Und jetzt hätte er Zeit dafür. Doch was tun? Seine innere Unruhe nagte an ihm. Es war noch nicht acht Uhr und er hatte bereits den zweiten Kaffee getrunken. Aline schlief noch immer, Lena sowieso.

«Lange hat es nicht geregnet», überlegte Patrick, um sich abzulenken. Er öffnete die Verandatüre und atmete die feuchte, nach nassem Gras duftende Luft ein. Er könnte fischen gehen. Genau, das würde er tun. Jetzt halt vom Steg aus. Das Wetter war ideal. Doch dann kam ihm in den Sinn, dass die Fischerrute und all das Zeugs auf dem Boot waren.

Er schaute auf die Gartenmöbel, die ungeordnet auf dem Rasen herumstanden. Sie glänzten klitschnass und tropften vor sich hin. Die müsste er längst einölen, aber nicht, wenn das Holz so feucht war wie jetzt. Aline hatte ihn mehrmals darum gebeten. Ihm fiel auf, dass er sich all diese unwichtigen Gedanken nur machte, um Zeit zu vertreiben, um seine Unruhe erträglich zu machen. Er würde sich gescheiter am Computer das politische Streitgespräch anschauen, das von gestern Abend … ja, und spätestens um halb elf würde er mit dem Fahrrad zum «Rosenhof» fahren. Wie spät war es jetzt? Er schaute auf sein Handy. Bald halb neun. Er könnte auch das Frühstück für Aline vorbereiten. Vielleicht würde sie ihn sogar zum «Rosenhof» begleiten. Er ertappte sich beim Gedanken, dass ein Foto mit ihm und Aline, das bestimmt morgen in der Zeitung erschiene, jetzt die genau richtige Wirkung hätte.

Er würde sie fragen.

Tatsächlich fuhren sie später mit Velos gemeinsam zum «Rosenhof» – trotz Regen. Und tatsächlich war dort nicht nur ein begeisterter Sigi Balmer, sondern auch der Fotograf des Lokalblatts. Aline hasste diese Bilder, die jeweils mit der Beschriftung «Regierungsrat Patrick Girard mit seiner Frau Aline» publiziert wurden.

Die Führung durch das schöne Patrizierhaus mit seinen Nebengebäuden war informativ und «Balmer machte das recht unterhaltsam», fand Aline. Patrick lud alle, auch die asiatische Freundin von Balmer, zu einem Glas Weisswein in der «Remise» ein. Etsuko – sie kam ursprünglich aus Osaka – war wegen des Unfalls auf dem See noch immer aufgewühlt. Dies wurde verständlich, als sie die tragische Geschichte ihrer Schwester erzählte, der vor drei Jahren das Gleiche zugestossen war. Als Folge davon sitze sie heute im Rollstuhl, erklärte Etsuko in gutem Englisch. Aline zeigte sich ihrerseits betroffen und erwähnte, dass sie lediglich wisse, dass der junge Mann schwer verletzt im Spital liege und seine Freundin traumatisiert sei. Balmer wollte wissen, ob man mittlerweile den Bootsführer kenne. Da er dabei Patrick anschaute, wohl weil Balmer glaubte, Patrick müsse als Politiker besser informiert sein, zuckte der mit den Schultern und meinte knapp: Ihm sei nichts bekannt.

Man werde ihn sicher finden, fügte Balmer an. «Das macht den armen Kerl auch nicht wieder gesund», sagte Aline. Ihr täte auch seine Freundin furchtbar leid – «ein junges Paar … schrecklich».

Es war später als fünfzehn Uhr, als sie sich auf den Weg machten. Der Regen hatte aufgehört und so bot sich ein Umweg über den Pfaffenberg an. Patrick war alles recht, was diesen Sonntag verkürzte.

Lena meldete sich für den Abend ab, sie gehe ins Kino. Patrick erhielt wenig später eine Mitteilung, man habe den Werftbesitzer erreicht. Das trug nicht zu einem entspannten Abend bei.

«Ich mache noch eine Runde», sagte er zu Aline, die am Tisch die monatlichen Zahlungen bearbeitete. Sie war erstaunt, jetzt seien sie doch den ganzen Tag schon unterwegs gewesen.

«Bald kommt der ‹Tatort› – jetzt bleib doch hier, was bist du auch so nervös heute!»

5
Montag

Als Erstes wollte Patrick zur Werft fahren, überlegte es sich jedoch anders. Schliesslich wusste er, wie ein polizeilich versiegeltes Gebäude aussah und möglicherweise wurde die Halle bewacht. Peinlich, wenn er – Regierungsrat und Verdächtigter – dort auftauchen würde wie ein Gaffer, überzeugte er sich selbst. So bog er in die Strasse ab, die ihn zu seinem Büro führte.

Die kantonale Verwaltung war in einem modernen Gebäude, in der mittelgrossen Stadt wurde es als Hochhaus bezeichnet, untergebracht. Patricks grosszügiges Büro war ein Eckzimmer im elften Stock: strapazierfähiger grauer Spannteppich, die üblichen Möbel von USM, ein grosser Arbeitstisch mit Chefsessel, vorne beim Eingang eine Besprechungsecke für vier Personen. Die Bilder an den Wänden hatte seinerzeit Aline im kantonalen Kunstarchiv ausgesucht. Ein kleiner Amiet, dann eine Figur von Grüter auf dem Fenstersims und ein Bild, mit dem er persönlich nicht viel anfangen konnte, von einer Künstlerin, die Palla hiess. Aline hätte das Bild am liebsten mit nach Hause genommen.

In einem Stehrahmen – darin ein Foto von Aline, Lena und ihm, alle braungebrannt und in Badehosen auf der «Aurora» – spiegelte sich der graue Himmel.

Patrick überlegte sich ein mögliches Szenario: Das Boot war aus dem Wasser, jetzt konfisziert. Die Polizei würde sich gewundert haben, dass der Rumpf bereits abgeschliffen war. Piccinonno würde gesagt haben, dass er von dem nichts wisse. Somit würde die Frage «Waren Sie das?» in Kürze auf ihn zukommen. Er müsste zugeben, dass er schon mal angefangen habe, was ja quasi sein Hobby sei, und um die Sache zu beschleunigen. Schliesslich wolle er so schnell wie möglich wieder auf den See. Das würde plausibel tönen. Einzig die mögliche Frage dieses Imfelds: «Warum haben Sie uns das nicht gesagt?» könnte beunruhigend sein.

In der Schwanenbucht hatte ihn niemand gesehen an jenem Abend. Ernst hätte ihn beobachten können – hätte, wenn es hell gewesen wäre. Aber es war stockdunkel. Somit wäre er, falls es so weit überhaupt kommen würde, als Zeuge wirkungslos, unglaubwürdig. Und Ernst war ohnehin das Gegenteil eines Verräters. Nie würde er etwas tun, was seinen Freund in Schwierigkeiten brächte.

Lügen allerdings – überlegte sich Patrick – nein, lügen würde Ernst nicht, auch nicht, um ihn in einer schwierigen Situation zu entlasten. Egal, Ernst hatte nichts gesehen und war somit per se für die Polizei als Zeuge irrelevant. Sonst gab es niemanden. Die junge Freundin des Opfers hatte «nur gehört» – wie sie in einem Interview sagte. Und nach ein paar Tagen würden auch mögliche Spuren am Schiff keine nachweisbaren Schlüsse mehr zulassen. Somit, versuchte sich Patrick zu überzeugen, blieb wohl für immer ein Rätsel, wer der Fahrer des Motorboots gewesen war.

Er sollte sich stattdessen gescheiter und wirkungsvoller um den jungen Mann kümmern. Dass er beim Unfall schwere Verletzungen erlitten hatte, beschäftigte Patrick andauernd und tat ihm sehr leid. Ja, er würde ihn besuchen. Er, in seiner Funktion als Regierungsrat, aber auch als See-Anrainer, als Bootsbesitzer, gar als einer, dem auch mal ein «Malheur» passieren konnte. Genau, das würde er tun. Morgen würde er sich im Spital nach dem jungen Mann erkundigen.

Was war mit Lena? Was wusste sie? Auch sie hatte lediglich gehört, dass er in die Mauer im Bootshaus fuhr. Schon gar nicht konnte sie wissen, dass er das mit Absicht getan hatte. Und, dass es am gleichen Abend geschah wie der Unfall, nun, das war Zufall. «Koinzidenz», sagte er halblaut.

Nochmals zu Ernst. Nein, der sass bestimmt längst auf seiner Elektro-Vespa, als es passierte. Zudem hatte er seinen Helm auf und hörte nichts.

War er laut? Dieser Zusammenprall auf dem Wasser – war er laut? Der Schrei war laut, an den konnte sich Patrick erinnern. Hatte er selber auch geschrien? Er wusste es nicht – und wenn auch.

 

Zum Glück hatte er überlebt, der junge Mann, Gott sei Dank war nichts Schlimmeres passiert. Diesen Satz wiederholte Patrick immer und immer wieder. Morgen würde er ihn besuchen, den verletzten Mann, überzeugte er sich noch einmal. Patrick musste nur noch Susanne Renner seine persönliche Mitarbeiterin, darum bitten, die Sache für ihn zu organisieren. Also schickte er ihr eine Mail.

Punkt halb neun traf sich Patrick mit seinem Team im grossen Sitzungszimmer zur Vorbereitung der am Donnerstag stattfindenden Kantonsratssitzung. Es ging um den Autobahnzubringer «Na3b», der in seinem Wahlkampf eine zentrale Rolle gespielt hatte und äusserst umstritten war. Übermorgen würde das Vorhaben im Rat diskutiert – das könnte matchentscheidend sein, so hatte es Urs Kummer, der Chef des Bauamts, eingeschätzt.

Dass für Patrick jedoch die Organisation seines Spitalbesuchs viel wichtiger war, wusste niemand. Nicht einmal er selber hätte sich das eingestanden.


Aline hatte sich überlegt, ob sie sich krank melden sollte in der Bibliothek. Die Szene in der Küche hatte sie sehr mitgenommen und hätte dies erlaubt, diagnostizierte sie selber. Sie überredete sich dann, trotzdem zu gehen, fand das gleichzeitig geradezu calvinistisch stur und tauchte – ohne Streuselkuchen, zur Enttäuschung der Mitarbeitenden – kurz nach neun Uhr in der modern eingerichteten Bibliothek an der Kasernenstrasse auf. Vor zwei Jahren war alles von oben bis unten umgebaut worden.

Knüsel, von dem alle glaubten, er wäre der klassische Junggeselle, war froh, dass man ihn drei Jahre zu früh als Direktor der Stadt-Bibliothek in den Ruhestand geschickt hatte. Diese Digitalisierung mache er nicht mehr mit, man könne ihn jederzeit für Analoges holen, wie beispielsweise Bücher abstauben. Das mache er gerne und freiwillig, witzelte er. Seine Tochter – er war also weder schwul, was Gewisse munkelten, noch Junggeselle – habe sich an seiner totalen Unfähigkeit für alles, was irgendwie mit «digital» zu tun hat, bereits die Zähne ausgebissen.

So war Aline, wegen der digitalen Verweigerung Knüsels, zur Leiterin der Bibliothek aufgestiegen, sie vermied die Bezeichnung «Direktorin». Allerdings erwartete man – und das war in diesem Fall der Gemeinderat –, dass sie die teuer modernisierte Bibliothek auch «bespielte», so nannte man das heute. Das hiess: Lesungen organisieren, Literatur auf dem Sofa, Texte getanzt etc. – im Grunde Aktivitäten, die sie für ebenso sinnlos hielt wie Gottesdienste mit Rockmusik.

Aline war Bibliothekarin geworden, weil sie gerne las. Und sie las gerne, weil sie Geschriebenes meist besser fand, als Gesprochenes.

Seit Monaten las sie Bücher über das Verhältnis von Vater und Tochter. Ihr fiel auf, dass es sehr viele solcher Bücher gab. Meist wurden sie der Thematik ihrer Meinung nach nicht gerecht. Wie sollten sie auch?

Aline konnte die hässliche Szene vorgestern in der Küche nicht ausblenden. Vor allem, was Lena anschliessend in ihrem Zimmer gesagt hatte, beschäftigte sie bis in ihr Innerstes.

Als sie auch das Buch «Vater und Tochter: Sorge um eine verletzte Beziehung» nicht weiterlesen wollte, überlegte sie sich, ob sie was tun könnte, damit dieses gestörte Verhältnis innerhalb der Familie zumindest eine Besserung erführe. Vorgestern war sie mit ihrer Bemühung eines gemeinsamen Nachtessens schmerzhaft gescheitert.

Sie dachte an Freitagabend zurück. Mehr als «alleine anwesend» waren sie alle an diesem Abend nicht – Patrick, Lena, auch sie selber. Sie schienen alle drei nichts miteinander zu tun zu haben, standen im eigenen Haus verloren herum, einsamer als ihre Gäste. Diese Einsicht – und das war es für sie – war plötzlich da und sie fragte sich, warum das gerade an diesem Abend so zum Ausdruck kam. Sie waren schlicht beklemmend gewesen, diese Stunden: drei Einzelmasken an der Wahlfeier. Nicht mal der Wunsch, zusammen anzustossen, geschweige denn der Gedanke eines gemeinsamen Fotos, kam auf. Als würden alle drei instinktiv spüren, dass da keine Familie war.

Früher, erinnerte sich Aline, hatten sie diesen bürgerlichen Humbug gemacht. Nein, das war kein Humbug! Sie hatten zusammen Museen besucht, eine Wanderung unternommen, gepicknickt, zusammen gelesen, jeder in einem anderen Buch. Solche Dinge sollten sie wieder tun, auch wenn das Lena als «Nostalgie-Kitsch» abtat. Aline überzeugte sich mehr und mehr, dass es dringend nötig wäre, in die Familie zu investieren, weit wichtiger, als sich für die Bibliothek aufzuopfern. Egal, ob Lena bald wegzog, im Gegenteil. Gerade weil sie wegzog, musste Aline etwas tun. So wie sie gestern Lena in ihrem Zimmer erlebt hatte, machte sie ihr Angst.


Lena hatte Zeit, weil sie sich bewusst von Vielem fernhielt. Sie hätte sich mit einer Kollegin treffen können, gerne auch mit Gabriel, mit dem sie während zwei Wochen Sizilien befahren hatte. Sie war sich nicht sicher, ob es Liebe war, was sie für ihn empfand. Zu sagen, sie mochte ihn, fand sie blöd. «Mögen» tat sie viele ihrer Bekannten. Gabriel war mehr, er war ein Freund, so wie Sandra eine Freundin war, ihre Freundin. Ja, das war es möglicherweise: Gabriel war ein Freund, aber nicht «ihr Freund».

Jedenfalls wünschte sich Lena, diese letzten Wochen, bevor sie in das Studentenleben eintauchte, möglichst für sich haben. Doch jetzt stand dieses – sie nannte es für sich so – Geschehnis dazwischen. Seit drei Tagen war es in den lokalen Medien das grosse Thema, selbst national wurde der Unfall thematisiert. Lena las all die im Internet veröffentlichten Artikel in ihrem Zimmer:

«Der junge Mann, Marius H., liegt seit vier Nächten auf der Intensivstation, seine Freundin Grazia B. steht nach wie vor unter Schock und wird psychologisch betreut. Sie ist ausser M. und dem anonymen Bootsfahrer die Einzige, die den Unfall akustisch erlebt, aber nicht wirklich gesehen hat – dazu war es zu dunkel. Das Motorboot hat sie gehört, wie es langsam zum Steg tuckerte, wo offenbar jemand ausstieg. Sie hat gehört, wie sich zwei Männer verabschiedeten, eine Verabschiedung unter Freunden, schien es ihr. Sie und ihr Freund hatten geplant gehabt, in der Bucht zu übernachten. Sie hatten einen Schlafsack im Auto. Warum M. nochmals in das Kajak stieg, ist auch Grazia nicht klar. Er habe einfach Lust gehabt und noch einen Joint geraucht, hat sie zu Protokoll gegeben. Dann – so konnte man in den Medien nachlesen – sei das Motorboot vom Steg weggefahren und plötzlich losgebraust, was Grazia aufgrund des Lärms und des Geräusches von aufschäumendem Wasser feststellen konnte. Sie selber habe zu der Zeit im Dunkeln ein paar Dinge zusammengepackt – Grill, Decken, all das Picknick-Zeugs –, als sie einen heftig krachenden Aufprall hörte, einen abgewürgten Motor, gleichzeitig diesen furchtbaren Schrei von M., Schläge im Wasser, und offenbar war es der Bootsführer, der wiederholt ‹Scheisse … Scheisse› rief. Dann der Versuch, den Motor wieder zu starten, was dem Bootsführer nach mehreren Versuchen gelang. Das Schiff raste davon. Sie schrie: ‹Marius, was ist passiert?› und hörte seine überschnappende Stimme: ‹Schnell – hol’ Hilfe, Arzt, Polizei.›

Grazia sah nichts – keinen Mond, es war elend dunkel! Wo war ihr Handy? Im Auto – sie suchte es verzweifelt, fand es am Boden. Sie wählte hastig die Notnummer der Polizei, drehte die Scheinwerfer an, um endlich etwas zu sehen. Und was sie sah, könne sie in ihrem Leben nie vergessen: das grelle Licht, das in die Bucht blendete. Verstreut im schwarzen Wasser rote Bruchstücke des förmlich zerhackten Kajaks. An einem sich festklammernd, ihr Freund, Marius. Sein blutüberströmtes Gesicht, sein hilfesuchender Blick. Sie, die jetzt hysterisch ins Telefon schrie, ihr Freund sei schwer verletzt, brauche Hilfe – sofort!

Endlich die ruhige Stimme des Polizisten, der nach der Unfallstelle fragte. Grazia, das Bild ihres ertrinkenden Freundes vor sich, brach in Weinen aus und versuchte umständlich und schluchzend zu erklären, wo sie sich überhaupt befand, wo dieses entsetzliche Unglück passiert war.»