Schiffbruch

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Die Szenenfolge hatte etwas Beklemmendes, Trübes, und dies, obwohl die Sonne schien, obwohl nichts Aussergewöhnliches passiert war, ausser eben, dass ihr Vater überstürzt sein kaputtes Boot zu Piccinonno in die Werft gebracht hatte. Und dies, weil er auf fragwürdige Weise mit dem Bootshaus kollidiert war.

Was tat er eigentlich vorher – bevor er in die Mauer fuhr? Sie erinnerte sich, wie sie die Motorengeräusche aufgeschreckt hatten – das Hin- und Herrutschen auf dem sandigen Grund. Sicher, auch das musste er gewesen sein. Doch warum tat er das? War er derart betrunken gewesen? Aber warum macht das ein Betrunkener? Und jetzt diese Eile, sofort in die Werft, sofort aus dem Wasser und bitte das Schiff zudecken. Und er, als Regierungsrat, als öffentliche Person, wollte verhindern, dass davon irgendetwas an den Tag kam. Lena schien, dies alles hatte – in seiner Unsinnigkeit – eine denkwürdige Logik.

Sie kam in das leere «Haus am See» zurück und dachte kurz, dass es sie nicht überraschen würde, Ivans Stimme zu hören, wenn sie jetzt dann mit ihrem Hydrofon in die Wasserwelt abtauchte. Ihr schien, er gehörte dorthin in seiner starken und gleichzeitig sensiblen Art – in die Welt der ungehörten Töne. Dort hausten gute Geheimnisse und keine Unwahrheiten.


Sabine Herrmann war bleich und unkonzentriert. Dafür entschuldigte sie sich mehrmals bei Aline. Dennoch müsse sie sich keine Sorgen machen, alles würde wie gewohnt einwandfrei ablaufen. Sie hätte einen Ersatz für Grazia, die noch immer unter Schock stünde. Aline wollte wissen, wer Grazia sei. Das sei die junge Frau, deren Freund gestern Nacht bei einem Unfall auf dem See schwer verletzt wurde. «Wie furchtbar», sagte Aline. Und, dass deshalb Grazia nicht da sei, dafür hätte jedermann Verständnis – insbesondere ihr Mann, der ja selber ein halber Seemann sei.

Sabines Mann Robi stand bereits im Wohnzimmer. Er war wesentlich älter als sie, verwöhnte und unterstützte sie in rührender Art. In seinem früheren Arbeitsleben hatte er unermesslich viel Geld mit zu Parkbänken rezykliertem Plastik verdient.

Sie hätten Geschirr und Gläser wie üblich in der Garage deponiert und würden nun noch den Rest holen, sagte Robi, der mit seiner subalternen Funktion offensichtlich nicht das geringste Problem hatte.

Die Blumen sollten um 16 Uhr geliefert werden, relativ spät, wegen der Hitze, erklärte Sabine. Das Mobiliar sei bereits hier und um 14 Uhr kämen die Helfer, um Tische aufzustellen, die Sonnensegel zu spannen. Kurz gefasst, alles laufe nach Plan. Aline war beruhigt.

Patrick vertraute ihr blind. Er kam nicht wie ein Gastgeber zu seinen Partys, sondern so unbesorgt wie ein Gast.

Kurz nach fünf stand er da und wollte wissen, wo Lena sei. Vermutlich in ihrem Zimmer, oder unterwegs im Garten, sie wisse es nicht, sagte Aline und schob dabei eine schwere Blumenvase etwas aus dem Weg. «Warum fragst du und warum bist du so total verschwitzt?», wollte sie verwundert wissen.

«Frag’ deine grüne Tochter … die weiss, warum.»

Für Aline war dies wieder eine dieser Sticheleien, die sie satthatte.

Mehr wollte sie nicht wissen, viel eher sich jetzt umziehen. Manche Gäste kämen ja nicht selten zu früh, sagte sie und ging.

Es beschäftigte Aline, was Sabine ihr erzählt hatte. Fast noch mehr beschäftigte sie, wie spürbar betroffen Sabine war. Aline war nicht bewusst gewesen, dass sie so eng zu ihren Mitarbeiterinnen stand. Sie war stets davon ausgegangen, dass sie ihre hübschen Serviererinnen mehr oder weniger anonym über eine Agentur buchen würde. So war das anscheinend nicht. Jetzt fiel, wegen dieses tragischen Unglücks, nicht nur diese Grazia aus, Sabine hatte sogar zusätzlich deren Freundin, auch sie wäre für den heutigen Abend als Serviererin vorgesehen gewesen, freigegeben. Ausdrücklich, um ihrer Kollegin in diesem schwierigen Moment beizustehen. Wie feinfühlig.

Ein Mann hätte das kaum getan, sagte sich Aline und entdeckte sich beim unpassenden Gedanken, heute Abend keinen BH anziehen zu wollen. «Kinderei» – sie tat die Idee ab, obwohl sie sie im Innersten als kleine Provokation witzig fand. Während sie ihre Haare bürstete, Lippenstift auftrug, ihre Nägel kontrollierte, beschäftigten sie Gedanken an Patrick, der ihr zurzeit eigenartig fremd vorkam. Zudem, hätte er sich als Vorgesetzter ähnliche Gedanken gemacht wie Sabine und sich derart gesorgt um eine Mitarbeiterin? Liess er solche Gefühle überhaupt zu? Noch zu?

Sie erinnerte sich – es lag zehn Jahre zurück – an die Szene auf der Insel Giglio, als Patrick spontan den letzten Platz auf der Fähre einem Ehepaar mit einem alten Hund abtrat. Das arme Tier litt unter einer Nierenkolik und musste notfallmässig nach Porto Santo Stefano zum «Veterinario». Dass Patrick somit seinen wichtigen Termin verpassen würde, weswegen sie die Rückreise zwei Tage vorgezogen hatten, war ihm jetzt, in Anbetracht des leidenden Hundes, unwichtig. Sie fand das seinerzeit berührend und war im Stillen stolz auf ihn. Würde er das heute noch tun?

Sein Leben als Anwalt und Politiker hatte ihn verändert. Er schien ihr oft kühl, nicht bösartig, doch in vieler Hinsicht unsensibel.

Hatte sich Ernst auch so verändert, oder hatte er sich bewahrt, was sie an Patrick vermisste? Jedenfalls, Ernst war heute Abend, an der Wahlfeier seines besten Freundes, nicht dabei. Wohl, weil ihm solche Anlässe nicht passten.

Aline hörte die Stimme von Sabine, die ersten Gäste standen bereits vor dem Haus.


Der Unfall in der Schwanenbucht war das grosse Thema beim Lokalsender «a.m./p.m.». Patrick hatte sich nur flüchtig informiert, auch in den Zeitungen nichts wirklich nachgelesen. Er wusste ja, was geschehen war.

Patrick ärgerte, wie sein Körper reagierte. Immer dann, wenn ihn etwas emotional umtrieb, innerlich aufwühlte, meldete sich sein Nacken: Er wurde heiss. Selbst jetzt, nachdem er kalt geduscht hatte. Es war eine innere Hitze, die sich hinten am Hals anstaute. Das war sehr unangenehm und hatte zur Folge, dass er optisch vieles wie durch einen Nebel wahrnahm. Sogar akustisch erschien ihm alles in der Distanz, verfilzt irgendwie, was insbesondere an einer Feier, wie der seiner Wiederwahl, störend war. Er fühlte sich abwesend, obwohl sich vieles, fast alles sogar, um ihn drehte. Man begrüsste ihn, gratulierte ihm: «Na Patrick, nochmals gut gegangen … Gratulation! Hatte keinen Moment daran gezweifelt …» usw.

Er war an diesem Abend auch nicht imstande, ein sinnvolles Gespräch zu führen, stolperte vielmehr von einem Gast zum andern, versuchte, ein paar passende Worte anzubringen und war schon bei der nächsten Runde, die sich um eines der Stehtischchen scharte. Vorwiegend waren es Männer mit Gläsern in der Hand, Sonnenbrillen vor oder über den Augen, biederen Kurzarmhemden, teils noch mit Krawatte, und Schuhen ohne Schnürsenkel. Patrick versuchte flüchtig das jeweilige Thema kurz aufzunehmen, das gerade beschwatzt wurde, äusserte sich salopp und überlegte gleichzeitig, ob sein Dauergrinsen nicht irritierend wirkte. Er beschloss, fortan eher ernst dreinzublicken. Der Autobahnzubringer, die sogenannte Na3b, war das Thema, das man jetzt, wie der Chef des Strassenamtes meinte, «schleunigst in Angriff nehmen müsse.» Patrick: «Wir sind mit Volldampf dran.» Auch das gute Abschneiden der Öko-Partei blieb nicht unerwähnt.

Später fragte sich Patrick, ob er überhaupt etwas von den kleinen Tellern, die die jungen Damen unentwegt herumreichten, gegessen hatte. Dass die Frauen alle zumindest hübsch waren, wusste er von anderen Anlässen. Auch, dass zwei fehlten, war ihm erklärt worden. Sogar warum – «enorm tragisch», kommentierte er das.

Patrick nässte eine Serviette in einem der Eiskübel und kühlte seinen heissen Nacken. Er bemerkte Lena, die in Jeans und T-Shirt, ein Glas Weisswein in der Hand, mit der Justiz- und Polizeidirektorin Dominique Höchli diskutierte.

Aline, die sich für den Abend die Haare hochgesteckt hatte, tauschte sich mit Frau Herrmann aus, ging dann weiter zu Karloff, dem alten Charmeur und angepassten Künstler, der wohl nur gekommen war, weil er hoffte, jetzt dann endlich die renovierte Stadthalle ausmalen zu können.

Patrick interessierte das alles nicht. Es interessierte ihn überhaupt nichts an diesem Abend, ausser, was Lena jetzt gerade mit der Polizeichefin Höchli beredete. So setzte er wieder sein Lächeln auf und ging zu den zwei Frauen. Höchli unterbrach das Gespräch mit Lena und meinte begeistert – für Patrick viel zu begeistert – was für eine tolle Tochter er habe, mit dieser faszinierenden Passion. «Ungehörte Töne» – grossartig fände sie das.

Patrick bemerkte, dass Lena verwundert auf seine Hand schaute, in der er noch immer die nasse Serviette hielt. Mittlerweile war der rechte Hemdsärmel zur Hälfte dunkelblau vor Nässe. Alles nur, weil Aline Kurzarmhemden verabscheute, dachte er.


Aline liebte Blumen und sie hatte die natürliche Fähigkeit, sie in ungewohnter, überraschender Art zusammenzustellen. Und doch, wie sie dann so ungezähmt in ihren Vasen – den exakt richtigen – im Wasser standen, glaubte man, die Rosen, Wiesenblumen, Nelken, Sonnenblumen, Gräser und dergleichen hätten sich von alleine zusammengefunden. Aline war egal, dass kaum jemand diese Schönheit beachtete. «Den Blumen wohl auch», dachte sie. Lieber nicht beachten als beleidigen, wie das die Priska Staub einmal getan hatte: «Schön, die Blumenbouquets!» Blumenbouquets! Ein Reizwort für Aline. Blumenbouquets waren etwas für Hochzeitsautos, Trauungen und Beerdigungen.

 

«Was mach’ ich mir auch für Gedanken», fragte sie sich mit einem Schmunzeln.

Sie beobachtete Sabine Herrmann, wie sie ohne gehetzt zu wirken die Gäste mit kleinen, kunstvollen Gaumenfreuden verwöhnte. Sie fand mit stupender Sicherheit jederzeit die Balance zwischen Gastgeberin und Wirtin, verkörperte das Gegenteil einer servilen Person und spielte sich dennoch nicht in den Vordergrund.

Hunderte von Tellern, Gabeln, Servietten, unzählige, liebevoll zubereitete Köstlichkeiten, literweise Wein und Wasser – all der Aufwand, weil ihr Mann auch für die nächsten vier Jahre als Regierungsrat seine Politik machen würde. Viel eher war es die Politik, die die wollten, die hier herumstanden und schwatzten. Die Politik und die Interessen, die er, ihr Mann Patrick, zu vertreten und bitte sehr umzusetzen hatte.

Aline dachte zurück an die Einladung vor acht Jahren, damals war Patrick neu in den Regierungsrat gewählt worden. Es war kein rauschendes Fest gewesen, aber ein freudiger, geradezu begeisternder Anlass. Aline kam bei diesem Gedanken – sie wusste nicht, warum – eines dieser farbenfrohen Landschaftsbilder von Derain in den Sinn. Es schien ihr, dass seine Bilder genau das ausdrückten, was an dem heutigen Abend fehlte. Licht und Farben. Die Heiterkeit, die fehlte – das war es. Und dies, obwohl doch alles war wie vorgesehen. Vor allem waren sie alle erschienen, die «wichtigen Leute» aus Politik und Wirtschaft. Selbst der stets etwas zu parfümierte Kubli, der Kulturchef, hatte sich kurz gezeigt. Und Karloff, der alternde Womanizer, gehörte wie der Stern auf den Weihnachtsbaum, zu jedem halbwegs wichtigen Anlass. Blöd fand Aline diesen Viktor Zumbach, der sich, obwohl jede und jeder ihn vom Fernsehen her kannte, stets mit ganzem Namen vorstellte. Er stand seit mehr als einer Stunde neben Cecile Rub, Redaktorin bei der Internetzeitung, die jetzt der grosse Hype war. An lokalen Promis fehlte es nicht, sie waren da und bestätigten mit ihrer Anwesenheit die Wichtigkeit des Gastgebers.

Silvia Nussbaumer, die Leiterin der Musikschule, riss Aline aus ihren Gedanken. Im aufkommenden Gespräch ging es um die Schule und die Bibliothek, eine mögliche nähere Zusammenarbeit der beiden Institutionen und um Marius, der im Herbst als Gesangslehrer hätte anfangen sollen. Sie kenne keinen Marius, erklärte Aline, ob der eine bessere Stelle gefunden habe? Nein, Marius sei der junge Mann, der gestern Nacht bei diesem Bootsunfall schwer verletzt wurde.

«Der Freund von Grazia», kombinierte Aline betroffen, sie habe erst heute Nachmittag von diesem Unfall erfahren. Ob sie wisse, wie es dem Mann gehe, erkundigte sich Aline.

«Besorgniserregend …», sagte Frau Nussbaumer, «jedenfalls kann er, wie man befürchte, die Stelle in zwei Wochen nicht antreten.»

Lenas Gespräch mit Dominique Höchli fand keine Fortsetzung, nachdem ihr Vater zu ihnen gestossen war. Und weil er der eleganten Dominique – wie er charmierte – unbedingt den neuen Direktor der Wasserwerke vorstellen wollte, stand Lena jetzt alleine herum. Man hätte sie für eine der Serviererinnen gehalten, hätte sie ebenfalls eine weisse Bluse getragen. In Jeans und T-Shirt gehörte sie jedoch nicht zu denen, und auch nicht zu all den andern, den Bedeutenden, den Engagierten und Informierten. Viel lieber als herumzustehen hätte sie was getan, die Tische abgeräumt, die Gläser gefüllt. Noch lieber wäre sie gegangen, doch sie hatte ihrer Mutter versprochen, zu bleiben.

Die helle Stimme von Sabine Herrmann holte sie aus ihren Gedanken.

«Lena – komm, lass uns anstossen.»

Sie gab Lena eines der zwei Gläser, die sie mitgebracht hatte und meinte:

«Ich denke, bevor ich dir Frau Girard sage, sagst du mir Sabine … Ist endlich an der Zeit.» Tatsächlich war sie für Lena noch immer die «Frau Herrmann». Da sie Sabine, wie sie ihr jetzt sagen durfte, seit Kindheit kannte und äusserst sympathisch fand, freute sie ihre Geste umso mehr. Sabine erkundigte sich interessiert nach ihrem bevorstehenden Studium. Und obwohl sie aufmerksam zuhörte, sah sie gleichzeitig, dass da einer ein leeres Glas hatte, oder dort ein schmutziger Teller herumstand. Ihre Anweisungen waren klar und dezent – keine Spur von aufgeregt.

«Hast du die zwei herbestellt?», fragte Sabine lachend und deutete mit dem Kopf auf eine junge Frau und einen nicht viel älteren Mann.

Die zwei standen plötzlich inmitten der eingeladenen Menschen und doch erkannte man sie als «ganz sicher nicht Eingeladene». Sie hatten zu tun, das vor allem unterschied sie von allen anderen. Lena ging auf die junge Frau zu, die sie noch von der Mittelschule her kannte. Sie hielt ein Clipboard und ein Mikrofon in der Hand und sah aus, als müsste sie gleich vor eine Kamera treten. Und das war auch ihre Aufgabe. Der Mann mit der Kamera erinnerte Lena an Fotos, die sie von ihrem Vater kannte. Dreissig oder mehr Jahre früher, als er mit langen Haaren gegen AKWs demonstrierte.

«Hast du uns angerufen?», fragte die Frau mit dem Mikrofon. «Petra», stellte sie sich vor, «Ah, wir kennen uns ja von der Schule», haspelte sie, «ich arbeite zurzeit für ‹Schnell und aktuell›.»

Sie hätten nicht viel Zeit, schien ihr wichtig zu erwähnen. Um zehn müssten sie auf dem «Raten» sein, wegen dem «Jazz-Singer of the Year».

«Welcher ist dein Vater?»

Eigentlich wusste sie es, denn Petra steuerte ohne Lenas Antwort abzuwarten auf Patrick zu und deutete dem Kameramann, mitzukommen.

Für Patrick fühlte es sich an, als hätte ein Blitz die Taucherglocke zerstört, die ihn während der letzten Stunden sicher geschützt hatte. Fast schrill hörte sich an, was die junge Frau ihm entgegenrief:

«Herr Regierungsrat – als Erstes herzliche Gratulation zu Ihrer Wiederwahl! Wie fühlen Sie sich?»

Achtlos liess Patrick die nasse Serviette fallen, mit der er eben noch seinen Nacken gekühlt hatte.

«Grossartig», sagte er viel zu laut.

«Obwohl oder weil Sie fast gescheitert wären?»

«Es kann nur einer gewinnen.» Dazu lachte er jovial.

«Und Sie wollen nun primär dafür sorgen, dass die Stadt, oder vielmehr die Industrie ihren Autobahnanschluss hat?»

«Das hat oberste Priorität – richtig. Allerdings nicht primär wegen der Industrie, viel mehr wegen unseren Bürgerinnen und Bürgern.» Patrick war gelandet, wo er sich sicher fühlte.

«Ah ja, nun, dann wünschen wir Ihnen viel Glück. Eine ganz andere Frage: Wie Sie wissen, sucht die Polizei fieberhaft nach dem Fahrer des Motorboots, welcher den Unfall gestern Abend verursacht hat. Nun wird der Ruf stark, die 0.5 Promille auch auf dem See einzuführen. Was halten Sie davon?»

«Ich würde das befürworten. Egal ob Strasse oder Wasser, man hat die gleiche Verantwortung. Und wer alkoholisiert ein Auto oder ein Schiff fährt, wird dieser Verantwortung nicht gerecht.»

«Vielen Dank, Herr Regierungsrat und noch viel Spass bei Ihrer Wahlparty.»

Patrick sackte auf einen Betonsockel, der eigentlich das Gehäuse der Lampe war, die die einzelne Stufe zwischen Veranda und Terrasse beleuchtete. Die breite Stufe, über die vor vier Jahren Frau Dr. Grob, die Direktorin des Kunstmuseums, gestolpert war, was sie Patrick kürzlich wieder vorgehalten hatte. «Die Schulter spüre ich heute noch», beklagte sie sich. Dabei war sie an diesem Abend zumindest angeheitert gewesen. Jedenfalls, als Folge dieses Treppensturzes hatte Ernst eine zum Haus passende Lampe entworfen und installieren lassen.

An all das erinnerte sich Patrick jetzt nicht. In seinem Kopf hörte er, als wäre es eine Endlosschlaufe: «Die Polizei sucht fieberhaft nach dem Fahrer des Motorboots.»

Da war er wieder – sein heisser Nacken. Zudem fühlte sich Patrick nicht mehr geschützt, viel eher eingesperrt, als sässe er in einer transparenten Ballonhülle, die ihn geradezu zur Schau stellte und die jeder leichtsinnig aufstechen konnte. Sein Blick war vernebelt, akustisch schien alles gefiltert. Lediglich das unkontrollierte, viel zu laute Niesen des dicken Herrn Lautenschlager mit seinem roten Gesicht drang wie ein Brüllen zu ihm vor.

«Gutes Interview. Gutes Interview – Patrick??» Das war Bernauer, der Präsident des Yachtclubs. «Gutes Interview», sagte er zum dritten Mal.

Patrick hatte ihn endlich gehört, stand auf und sah Guido Bernauer vor sich. Er trug ein weisses T-Shirt, einen marineblauen Blazer, dazu in gleicher Farbe zu enge, halblange Hosen und blaue Espadrilles.

«Wirklich?», fragte Patrick.

«Ja – war gut. Wobei ich da mit den 0.5 Promille auf dem Wasser meine Mühe habe …»

«Ah ja …»

«Nur weil irgendein Idiot einen halb zu Tode fährt … und wer sagt eigentlich, dass der alkoholisiert war?» Die Polizei habe ihn bereits nach Besitzern von Holzbooten ausgefragt, fügte er an.

Patrick war alarmiert. Was die wissen wollten, fragte er möglichst beiläufig.

«Sie wollten wissen, welche Namen hinter den registrierten Holzbooten stecken», sagte Bernauer. «Du weisst ja – da gab’s genau an diesem Abend wegen dem ‹Barrique-Treffen› mehr als zwanzig, allein im oberen Seebecken.» «Mindestens…», fügte Patrick an.

Vor Mitternacht waren alle Gäste gegangen. Aline verabschiedete sich von Patrick, sie sei todmüde, vor allem, wenn sie daran denke, dass morgen bereits um sieben Uhr Frau Herrmann auftauchen würde. Patrick dankte Aline für den grossartig organisierten Abend – «sehr geschmackvoll, wie immer».

Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss und verschwand.


Jetzt war er alleine in den offenen Räumen mit den grossen, schwarzen Fensterflächen. Wohnzimmer und Veranda wirkten fahl, allerorten standen leere und halbleere Gläser herum, Essensreste lagen unappetitlich auf Tellern, am Boden zwei, drei zerknüllte Servietten. Patrick nahm irgendein halbvolles Glas und setzte sich in einen Stuhl auf der Veranda.

Er war in einem merkwürdigen Zustand, elend müde und gleichzeitig furchtbar nervös. Den Abend hatte er kaum wahrgenommen, mit Ausnahme des Interviews und der beiläufig daher geplauderten Aussage von Bernauer: «Die Polizei war schon bei mir.»

Das hiess, in wenigen Stunden könnten die Fahnder dastehen … Er musste sofort handeln, sofort. Er war als Bootsbesitzer registriert und unzählige gab es nicht, die in der Gegend ein Holzboot von dieser Grösse hatten. Dass zufällig das Oldtimer-Treffen stattgefunden hatte, konnte die Recherchearbeit verzögern, war also ein Glücksfall. Und sein Boot lag nicht im Wasser, sondern bei Piccinonno in der Halle. Das allerdings und die Tatsache, dass Piccinonno auf Sardinien am Strand lag, würde die Polizei bei ihren Ermittlungen nicht bremsen. Sie würden sich Zutritt verschaffen, egal wie und sofort mit der Spurensuche anfangen. Der zerkratzte Rumpf allein sprach Bände, obwohl er mit seinem Manöver im Schilf einiges verwischen konnte. Doch da gab es Hinweise am und auf das andere Schiff, das kleine, das ihm im Weg gestanden hatte – er wusste nicht mal was es war? Ein Faltboot, ein Ruderschiff, ob Plastik oder Holz, welche Farbe? Was hatte Piccinonno gesagt, ein Kajak? Jedenfalls kein Gummiboot, da war er sicher, so wie der Aufprall getönt hatte.

Er durfte nicht zuwarten.

Aline war bestimmt schon eingeschlafen, so müde, wie die aussah. Und Lena schlief auch – jedenfalls kümmerte es sie nicht, wo er war.

Er musste jetzt gehen, sofort. Und so schlich er sich aus dem Haus. Als Erstes in die Garage, wo sich allerhand Gerümpel ansammelte, wo er aber auch sämtliches Werkzeug aufbewahrte. Hier fand er, was er brauchte. Seinen alten Overall, die Schleifmaschine, eine Taschenlampe und vor der Garage Lenas Velo.

Eine halbe Stunde später stand er im Overall unter der «Aurora» in der sonst leeren Halle im Niemandsland. Er hatte eine farbbekleckerte Baustellenlampe gefunden und sie, um die Halle weitgehend dunkel zu halten, nahe unter das Schiff gestellt. Er begann den Rumpf abzuschleifen. Sorgfältig, so wie es Piccinonno auch getan hätte.

Letztlich spritzte er mit einem Industrieschlauch das Boot und den Boden sauber. Arg durchnässt stieg er auf das Velo und es wurde schon hell, als er den feuchten Overall zu Hause in der Garage an den Haken hängte. Patrick schlich zurück ins Haus und bemühte sich, möglichst schlank zu Aline ins Bett zu schlüpfen. Sie wachte trotzdem kurz auf – «wo warst du?» Ohne seine Antwort abzuwarten, schlief sie weiter.