Ein MORDs-Team - Der komplette Fall Marietta King

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Barrington Cove, Uferpromenade

Olivia legte den Kopf in den Nacken und ließ sich die immer röter werdende Abendsonne ins Gesicht scheinen. Der Wind war recht frisch, doch in Chris' Arm fühlte sie sich geborgen.

Er küsste sie auf die Schläfe. »Na, du Genießerin!«

Sein Lächeln war warm und ließ seine Augen leuchten.

In ihrem Magen kribbelte es. Sie erwiderte sein Lächeln. »So schön, dass du überraschend da bist.«

Sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich. »Nur schade, dass wir morgen schon wieder weiter müssen. Lucian muss am Samstag in L.A. sein und als seine rechte Hand bin ich natürlich dabei.« Er zog eine Grimasse.

Klar, sein despotischer Chef, der Superfotograf.

Olivia schlang die Arme um seine Taille und drückte ihre Stirn gegen seinen Brustkorb. Einen Augenblick standen sie so da, in ihrem kleinen Kokon, und vergaßen die anderen Leute auf der Uferpromenade.

»Sollen wir … irgendwohin, wo wir ungestört sind?« Bei Chris‘ vielsagendem Grinsen fingen die Schmetterlinge in ihrem Bauch wild an zu flattern. Sie drehten um und gingen in Richtung seines Autos – heute war er mit einem Miet-Jaguar seines Chefs gekommen. Ziemlich schickes Teil! Das würde sie zu gerne mal so richtig ausfahren, vielleicht ließ er sie hinters Steuer.

Plötzlich ertönte ein Schrei. Voraus rannten Menschen zu einem blauen Mazda auf der Straße.

»Was ist denn da passiert, das hört sich nicht gut an!« Olivia deutete auf die Menschenansammlung. Sie stoppte. »Sollen wir schauen?«

Chris schüttelte nachsichtig lächelnd den Kopf. »Seit wann bist du denn so sensationslustig, oder kommt da die Fotoreporterin in dir durch?«

Olivia hob die Achseln, in ihr rumorte ein ungutes Gefühl. »Vielleicht können wir helfen, das sieht nach einem Unfall aus. Ich hab eine Erste-Hilfe-Ausbildung.«

»Komm, da sind doch genug Leute, lass uns gehen, wir haben doch nicht so viel gemeinsame Zeit«, drängte Chris und schaute sie mit einem dieser vielsagenden Blicke an, die ihr immer ein wohliges Kribbeln im Magen verursachten.

Sie kämpfte mit sich, ließ sich kurz mitziehen, dann befreite sie sich. »Nein!«, sagte sie energisch. »Du weißt doch, wie das ist – alle gaffen nur und keiner hilft.«

Sie lief in Richtung des Menschenauflaufs. Rufe und Schreie ertönten.

»Ein Junge!«, brüllte jemand.

»Er atmet nicht!«, schrie ein anderer.

Olivia begann zu laufen. Immer schneller. Ihr Herz hämmerte. Sie drängte sich durch die Menschen.

Der gellende Schrei war wohl von einer Augenzeugin gekommen. Eine zitternde bleiche Person, die von zwei Männern an den Rand geführt wurde. »Das ging so schnell«, stammelte sie immer wieder. Dann griff sie plötzlich ihren Helfer panisch am Arm. »Ist er tot?«

Über den Köpfen wurde ein Skateboard weitergereicht. Gelb, mit roten Flammen. Olivia erstarrte. Nein! Das kann nicht sein!

Hatte sie gerade laut »Nein« geschrien? Eine ältere Frau starrte sie verwirrt an.

Olivia kämpfte sich rigoroser durch. Sie hatte das Gefühl, alles Blut wäre in ihre Beine gesackt. Das darf nicht sein!

Aus der Ferne ertönten Sirenen, sie kamen immer näher. Gespenstisch zuckten Rot- und Blaulicht gegen den Abendhimmel.

Wer war eigentlich der Fahrer des Wagens?, schoss es durch ihren Kopf, doch das war jetzt zweitrangig.

Olivia trat auf Scherben der Scheinwerfer, unter ihren Chucks knirschte es. Die Motorhaube war eingedellt, die Windschutzscheibe in tausend Sprünge zerteilt.

Olivia hörte ihren eigenen keuchenden Atem, als sie sich zwischen den Leuten auf die Beifahrerseite drängelte. Ein Basketballstiefel schaute unter dem Auto hervor. Und ein Stück Jeans. Rotgefärbt. Ihr Puls hämmerte. Das schwarze Sweatshirt mit dem gelb-lila Emblem der Lakers. Und Blut. Überall Blut. Eine eiserne Hand legte sich um ihren Magen. Sie konnte den Kopf nicht sehen, zwei Männer waren darüber gebeugt.

»Mason«, schrie sie.

Die Männer zuckten hoch.

Sie sah sein Gesicht. Blutüberströmt.

Haltsuchend griff sie nach dem Wagen, verfehlte ihn, strauchelte und fiel. Sie merkte nicht, dass sie in Scherben griff, als sie sich aufrappelte. Ihr wurde schwindelig. Sie nahm kaum wahr, dass Chris hinter sie trat, um sie zu stützen.

Oh, mein Gott, Mason!

*

Bei Randy zu Hause

Randy brachte Vince noch zur Tür.

»Hey, war echt klasse«, sagte der und schlug mit einem breiten Grinsen in seine Hand ein. »Und danke noch mal für alles, echt spitze, wie fit du mit dem Computerkram bist!«

Randy erwiderte verlegen das Grinsen. So viel Lobrede war ihm unangenehm. »Ach was, passt schon!«

Er schaute Vince hinterher, wie er den plattenbelegten Weg nach vorne lief. Der Himmel hatte sich rotgefärbt, er tauchte die Welt in ein heimeliges Licht. Der Herbst war bislang schön gewesen, der Oleanderbusch trug noch Blüten, deren würzigen Duft der Wind jetzt zu ihm wehte. Randy holte tief Luft. Ein schöner Abend. Warum hatte er dann plötzlich so ein komisches Gefühl, beobachtet zu werden?

Auf der Straße drehte Vince sich noch mal um und hob grüßend die Hand, begleitet von einem breiten Grinsen.

Randy schalt sich selbst paranoid, winkte Vince fröhlich zurück und schloss dann die Tür. War echt nett gewesen, mal so mit einem Gleichgesinnten. Ganz anders als mit Mason, der sein bester Freund war, aber mit dem er eben andere Interessen teilte.

Aus der Küche kamen schon Essensdüfte, Tante Barbara hatte heute italienisch gekocht. Penne all'Arrabiata, schön scharf, wie er es gerne hatte, darüber einen Berg frisch geriebenen Parmesan gestreut. Es war toll, wenn sie Frühdienst hatte und sie abends zusammen essen konnten.

Danach setzte er sich an seinen Rechner. Er wollte unbedingt diese App fertig programmieren. Das vertraute Linuxgeräusch beim Start zog an seinen Ohren vorbei. Er lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und rieb sich den vollen Bauch.

Doch was war das? Eine Warnung! Wieder hatte jemand versucht, in seinen Rechner einzudringen, verdammte Scheiße! Randy runzelte die Stirn.

Er versuchte, die Spuren zu verfolgen, eine IP oder Mac-Adresse herauszufinden, doch derjenige, der es auf ihn abgesehen hatte, war durchaus kein Dummkopf. Wer so weit in seinen Rechner vordringen konnte, musste ziemlich fit sein. Und wusste seine Spuren zu verschleiern. Doch auf was hatte er es abgesehen?

Randy kaute auf seiner Unterlippe. Okay, er hatte sich kürzlich, als die Diskussion um das Fracking auf Angel Island wieder losging, ein paar Seiten der Regierungsbehörde angesehen, auf denen er nichts zu suchen hatte. Waren die ihm auf der Spur? Oder steckte dieser Widerling Thompkins dahinter? Oder überwachte der Graf alles und jeden in Barrington Cove?

Glücklicherweise hatte er so gut wie keine Daten hier gespeichert – alles war auf externen Festplatten und Speichermedien deponiert, da war er paranoid. Nur das, woran er aktuell arbeitete, war auf seinem Rechner zu finden. Ein Teil der Datenbank um Marietta King und die Programmierung seiner App. Konnte es mit einem der beiden Punkte zusammenhängen? Wie konnte er die Spuren des Unbekannten finden?

Er ergriff sein Smartphone und wählte Masons Nummer. Vielleicht war sein Dad zu Hause und konnte ihm noch Tipps geben. Das Telefon läutete durch, sechs Mal, Mailbox. Randy legte auf, das gleiche Spiel wieder. Wo trieb Mason sich denn rum? Er sprach ihm auf die Mailbox.

Vielleicht konnte er einfach direkt Mr. Collister anrufen?

Nach zweimaligem Läuten meldete sich Mrs. Collister. »Randy?«

Sie klang komisch.

»Ja, hi, ich wollte Ihren Mann schnell was fragen«, erwiderte er.

Sie schluchzte auf. »Wir sind im Krankenhaus. Ein Unfall. Mason …«

Dann wurde es dumpf.

Randys Gliedmaßen wurden taub. Mit einem Schlag brach die Erinnerung über ihn herein. Seine Eltern. Der Autounfall. Mason? Was war mit Mason los? Am liebsten hätte er laut gebrüllt.

»Da kommt der Arzt. Ich melde mich gleich wieder bei dir«, hörte er noch ihre belegte Stimme, dann war die Leitung tot.

Betäubt ließ er sein Handy sinken.

*

Im Haus der Familie Collister

Ein Freitag

Randy schüttelte den Kopf und schaute Mason an, der ziemlich schlapp in seinem Bett lag. Seine Haare klebten an seinem Kopf und das Gesicht wirkte verquollen. Ein lila Fleck hob sich auf seiner Wange ab, auf seiner Stirn verbarg ein dickes Pflaster seine Platzwunde und sein Knöchel war bandagiert. »Was machst du bloß für Sachen, Alter?« Er wollte sich gar nicht ausmalen, was alles hätte passieren können. Was für ein Glück, dass Mason mit einigen Prellungen und Platzwunden davongekommen war.

»Das Auto war einfach stärker als ich«, versuchte Mason zu witzeln, doch man sah ihm an, dass er immer noch ziemlich schwach war, schließlich war er gerade erst vom Krankenhaus nach Hause gekommen.

»Geht's dir wirklich schon besser?«, warf Olivia ein.

Mason winkte ab. »Frag mich nächste Woche wieder!«

»Hast du gehört, dass das Auto geklaut war und der Fahrer getürmt ist?«

Mason nickte.

Sie presste die Lippen zusammen. »Mannomann, hätte ich bloß geschaut, wer hinter dem Steuer saß.« Anscheinend machte sie sich große Vorwürfe, dass sie nicht darauf geachtet hatte. Doch mit einem geklauten Auto einen Unfall bauen, da konnte man das fast nachvollziehen, dass sich jemand aus dem Staub machte.

 

»Vielleicht können sie ihn anhand der Fingerabdrücke stellen, wenn er schon aktenkundig war?« Randy sagte es mit mehr Überzeugung, als er verspürte. Irgendetwas sagte ihm, dass sie nichts finden würden.

Olivia nickte mit ebenso wenig Überzeugung. »Möglich.«

Mason gab einen zustimmenden Laut von sich, doch er wirkte sehr müde. Vielleicht sollten sie besser bald wieder gehen und ihn sich ausruhen lassen.

»Ach, bevor ich es vergesse, wir sollen dir ganz liebe Grüße von Danielle ausrichten. Sie schafft es heute leider nicht, aber sie denkt an dich.«

»Danke!« Als fiel ihm das gerade ein, wandte sich Mason an Olivia. »Hab ich dir eigentlich gestern dein Date versaut?«

Olivia schnaubte empört. »Red doch keinen Quatsch! Chris kommt bald wieder.« Dann grinste sie schief. »Aber das war trotzdem das letzte Mal, jag mir nie wieder solch einen Schrecken ein, Collister!«

»Ich geb alles!« Mason grinste müde.

»War das wirklich nur ein Unfall?«, rutschte Randy das heraus, was ihm die ganze Zeit im Kopf herumspukte.

An Olivias Blicken konnte er erkennen, dass ihr dieser Gedanken auch schon gekommen war.

Mason nickte. »Ach was, natürlich. Ich war unaufmerksam. Sonst hätte mich doch auch jemand verfolgen müssen, um mich genau da zu erwischen.«

Und was, wenn dich jemand verfolgt hat? Aber Randy sprach es nicht laut aus.

Doch der Gedanke stand im Raum. Was, wenn dies kein Unfall gewesen war?

*

Zwischenspiel

Ein Samstag

Jamie Collister nahm den Fuß vom Gas und zwang sich, langsamer zu fahren. Es brachte nichts, wenn er sich noch in den Tod raste, nachdem Mason diesem durch einen glücklichen Zufall gerade so von der Schippe gesprungen war. Eine eiserne Hand schien sein Herz zu umklammern, bei dem Gedanken daran, was hätte passieren können. Nur eine Platzwunde am Kopf, ein verstauchter Knöchel und ein paar leichte Schürfwunden und Prellungen – das hätte auch anders ausgehen können.

Es konnte doch kein Zufall sein, dass es ein gestohlenes Auto gewesen und der Fahrer im Tumult verschwunden war.

War das eine erneute Warnung vom Grafen gewesen? Was hatte er denn getan? War Masons Unfall das Resultat davon, dass er dieses anonyme Schreiben, das plötzlich auf dem Nachhauseweg von der Arbeit in seinem Sakko gesteckt hatte, einfach so ignoriert hatte? Was hatte – wahrscheinlich – der Graf damit gemeint, er solle endlich damit aufhören, Detektiv zu spielen?

Der Schatten des Grafen schwebte über ihm wie ein Damoklesschwert. Er hatte beschlossen, zum Wohle seiner Familie aufzuhören, nach dem Wer und Warum zum Mord an Marietta zu fragen, und sich einfach auf ein normales Familienleben zu besinnen. Dennoch holte ihn diese Sache ständig ein. Was hatte er vermeintlich verbrochen? Er hatte doch nicht mehr nachgeforscht!

Jamie schaltete herunter und bog in den Waldweg ab. Und was wollte Shannon nun schon wieder von ihm? Irgendwie holte ihn seine Vergangenheit gerade ständig ein. Martha hatte sich gewundert, dass er sich schon wieder alleine auf den Weg machte – an einem Samstagnachmittag, dem Tag der Familie. Dem Tag, den sie immer gemeinsam mit Mason und einem ausgiebigen Frühstück mit French Toast begannen. Und am Nachmittag zu zweit etwas unternahmen. Er musste nachher noch beim Baumarkt vorbeifahren und alibihalber irgendetwas kaufen, machte er sich eine gedankliche Notiz.

Was würde Martha sagen, wenn sie wüsste, dass er sich mit seiner Exfreundin traf? Normalerweise hatte er keine Geheimnisse vor seiner Frau. Er liebte sie abgöttisch – keinesfalls wollte er sie verlieren. Doch er konnte ihr weder von diesem geheimen Treffen erzählen, das sie nur in den falschen Hals bekommen würde, noch davon, dass der Graf ihn immer noch auf dem Kieker hatte. Oder dass er vielleicht sogar die Schuld an Masons Unfall trug, diese Bürde oblag ihm alleine. Sie würde verrückt werden vor Sorge. Automatisch schweifte sein Blick zum Rückspiegel, doch niemand folgte ihm.

Er parkte den Chrysler hinter der Hütte – Shannon war wie immer noch nicht da. Pünktlichkeit war nie ihre Stärke gewesen. Tief sog er die Luft in seine Lungen – den Geruch nach Moos, feuchtem Waldboden und Tannennadeln. Der Duft einer unbeschwerten Jugend. Langsam ging er durchs hohe nasse Gras um die Hütte herum. Die Holzbohlen der Terrasse waren morsch und glitschig, vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Der Himmel war heute bewölkt, ließ den See schwarz wirken, tief und unergründlich. Am seitlichen Ufer hing ein Strick, völlig zerfranst. Ob sich die Jugend heutzutage nicht mehr mit Seilen ins Wasser schwang? Gingen sie alle nur ins Freibad mit den zementierten Sprungtürmen und der riesigen Rutschbahn, die erst im letzten Sommer renoviert worden war? Wo blieb heute der Abenteuergeist?

Das Geräusch eines heranfahrenden Autos lenkte ihn ab. Shannon kam in einem schwarzen Mercedes CLS herangerollt. Langsam. Wahrscheinlich brächte ihr despotischer Mann sie um, würde sie einen Kratzer in einen der Wagen seines nicht unerheblichen Fuhrparks machen. Verächtlich schnaubte Jamie auf, dann zwang er sich zu einem Lächeln, als Shannon ausstieg. Sie sah wie immer aus der Entfernung umwerfend aus – auch in der relativ schlichten Kleidung mit schwarzer Röhrenjeans und pinkfarbener Bluse. Heute hatte sie sogar flachere Schuhe angezogen, zweifellos genauso teuer wie ihre hochhackigen von neulich. Doch ihre Laune schien ebenso im Keller wie das Mal zuvor.

»Jamie Collister, ich habe dich gewarnt«, keifte sie.

Jamie hob die Augenbrauen. »Ich wünsche dir auch einen wunderbaren Tag, meine Liebe.«

Sie hob den Finger. »Das ist nicht lustig, hör auf, hier wieder den Klassenclown zu spielen! Die Zeiten sind vorbei.«

Er seufzte. »Okay, was ist los?«

»Dein Sohn Mason hat meine Tochter Danielle geküsst!« Sie betonte jedes Wort.

»Ach?« Und deswegen bestellte sie ihn hierher? Er hatte sich nach den letzten Ereignissen schon weiß Gott was überlegt, was sie von ihm wollte.

Shannon fing an, sich in Rage zu reden. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«

»Die sind sechzehn, siebzehn, Herrgott noch mal. Vom Küssen kriegt man noch keine Kinder«, flachste er.

Doch irgendwie schien er damit in einen Fettnapf getreten zu sein, denn sie wurde zuerst blass, dann rot. »Wie kannst du darüber Scherze machen?«, hauchte sie.

»Hm? Was meinst du?« Verblüfft schaute er sie an.

Über Shannons Gesicht liefen widersprüchliche Empfindungen, doch sie ging nicht darauf ein, sondern schien sich wieder auf den Grund ihres Treffens zu besinnen. »Ich habe dir gesagt, er soll die Finger von ihr lassen. Er ist kein Umgang für sie.« Ihre Stimme überschlug sich fast.

Jamie merkte, wie er langsam wütend wurde. Er packte Shannon am Arm und zog sie ganz dicht vor sich. In ihren sorgfältig geschminkten Augen konnte er kleine rote Äderchen sehen. Auch den scharfen Geruch nach Alkohol, vermischt mit Pfefferminz, nahm er wahr. Keine Falte verunzierte ihre gelifteten Augen – alles war eine starre Maske.

Sie versuchte, sich von ihm loszureißen und schimpfte in einem fort, doch er zog sie nur näher an sich heran, dass ihre Körper sich fast berührten. Einen kurzen Augenblick schoss die Erinnerung an sie durch ihn. Wie sie sich an ihn geschmiegt hatte. Was war nur aus der Shannon von früher geworden?

Verärgert über die plötzlichen Gefühle, die ihn übermannten, war seine Stimme lauter als beabsichtigt, er brüllte fast. »Jetzt tu nicht so, als sei mein Sohn irgendein … Asozialer! Sag mir endlich, was eigentlich los ist! Dauernd diese obskuren Andeutungen, seit Jahren schon.«

Shannon zuckte zusammen und starrte ihn erschrocken an. Einen kurzen Augenblick zitterte ihre Unterlippe, sie blinzelte, dann hatte sie sich wieder im Griff.

»Lass mich sofort los!«, kreischte sie. Sie schlug nach ihm und er packte auch noch ihre freie Hand.

»Nein, erst sagst du mir, was hier eigentlich gespielt wird.« Er schnaubte. »Du lieber Himmel, unsere beiden fast erwachsenen Kinder küssen sich. Na und? Deswegen flippst du gleich aus?«

»Ich will ganz bestimmt nicht, dass es ihr so ergeht wie mir!«, fauchte Shannon.

Jamie zuckte kurz zurück. Meinte sie ihre Beziehung? Das hatte gesessen. Er schluckte.

»Was hab ich dir denn getan? Du hast mich damals verlassen, hast du das schon vergessen? Ohne mir einen Grund zu nennen!«

Sie schüttelte nur den Kopf.

Um Himmel willen, was war bloß passiert? Gut, er war damals vielleicht ein bisschen … wild gewesen, ja, und vielleicht auch nicht übermäßig sensibel, doch er hatte sie niemals betrogen oder schlecht behandelt. Oder hatte es nicht direkt mit ihm zu tun? Damals hatte sie sich auf einmal um 180 Grad gedreht. Warum war sie so … ja, richtiggehend panisch?

Shannon presste die Lippen zusammen und blickte auf den Boden, drückte mit der Sohle Muster in das vermooste Holz.

Seine Wut verrauchte und er lockerte seinen Griff. Auch Shannon schien in sich zusammengesunken zu sein. Unwillkürlich erwachte in ihm der Drang, sie in seine Arme zu ziehen, sie wirkte für einen Augenblick überhaupt nicht mehr wie die arrogante, neureiche Mrs. Holt, sondern wie die Shannon von damals. Er versuchte die Erinnerung abzuschütteln und trat einen Schritt zurück.

»Ich meine es ganz ernst«, sagte sie leise. »Sag deinem Sohn, dass er meine Tochter in Ruhe lassen soll!«

»Warum wendest du dich nicht an deine Danielle?«

»Ich habe ihr schon drei Wochen Hausarrest gegeben, aber ich kann sie doch nicht dauernd wegsperren! Ich hätte sie ja sowieso in ein Internat gebracht, aber ihre Granny …« Sie presste die Lippen zusammen und verstummte.

»Shannon, sei doch vernünftig. Was glaubst du, was passiert, wenn wir unseren Kindern verbieten, sich zu treffen? Ganz wegsperren kannst du niemanden. Das Verbotene macht doch doppelt Spaß. Und wenn sie etwas füreinander empfinden, dann kann man nichts dagegen machen.«

»Was spielt denn das für eine Rolle?«, stieß sie verbittert hervor.

Jamie packte sie wieder. »Jetzt sag mir endlich, verdammt noch mal, was eigentlich mit dir nicht stimmt!« Am liebsten hätte er sie geschüttelt.

Die nackte Angst in ihren Augen traf ihn wie ein Faustschlag in den Magen.

Sie zitterte. »Du hast doch keine Ahnung, Jamie Collister«, flüsterte sie fast tonlos, dann riss sie sich los und floh zu ihrem Wagen.

Jamie war so verblüfft, dass er erst reagierte, als sie mit aufheulendem Motor und schlammspritzenden Reifen davonschoss. Langsam ließ er den Kopf in den Nacken sinken. Die grauen Wolken am Himmel ballten sich immer dichter zusammen, doch Jamie hatte den Eindruck, dass das nicht das einzige war, was sich hier zusammenbraute. Und dieses Andere war wesentlich düsterer und äußerst bedrohlich.

*

Bei Randy zu Hause