Ein MORDs-Team - Der komplette Fall Marietta King

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Tarnowski-Haus, der geheime Raum

Ein Dienstag, nach der Schule

Olivia strich sich eine widerspenstige schwarze Strähne aus der Stirn und drückte den Rücken durch. Sie war ganz bestimmt kein ängstlicher Typ, aber alleine durch dieses ausgestorbene Tarnowski-Haus zu laufen, verursachte ihr immer eine Gänsehaut. Das einzige Geräusch war das Klingeln ihrer Silberreifen am Arm. Die Atmosphäre hier war düster, die skurrile Einrichtung, vom europäischen Antik-Stil der alten Königshäuser, wie man es immer im Fernsehen sah, bis zu modernen schrill-bunten Bildern, irgendwie gruselig. Immer wieder fragte sie sich, was dieser Billy wohl für ein Typ gewesen war und was ihn hatte so verschroben werden lassen. Masons Dad war doch mit ihm befreundet gewesen, zumindest hatte er der Beerdigung beigewohnt und auch dieses Haus geerbt. Ob der wohl wusste, warum Billy so kauzig gewesen war?

Sie eilte die Treppe hinauf in den ersten Stock. Die Sohlen ihrer Chucks verschwanden fast komplett in dem dicken Teppich im Obergeschoss. Sie betätigte den verborgenen Hebel, der in die Intarsien der Standuhr eingearbeitet war, die daraufhin langsam zur Seite schwang und den Geheimgang zum versteckten Keller preisgab. Muffige Kälte waberte ihr entgegen. Von den Glühbirnen, die die schmalen Steinstufen von links und rechts beleuchteten, hatte sich schon wieder eine verabschiedet, obwohl Mason sie kürzlich alle ausgetauscht hatte. Wahrscheinlich waren die Leitungen hier im Haus völlig am Ende. Wenigstens hatte Randy sein Computernetzwerk mit irgendeiner unterbrechungsfreien Stromversorgung gesichert, schoss es Olivia durch den Kopf.

Sie war froh, als sie gedämpft die Stimmen ihrer Freunde vernahm. Randy sagte gerade: »… wir haben keinerlei Hinweise, was aus Mariettas Schwangerschaft wurde, diese Frau vom Jahrmarkt …« Es klickte, wahrscheinlich suchte er gerade in seinem Rechner nach dem Namen.

»Loretta«, half Olivia aus. »Und: Hi zusammen.«

Drei Köpfe schossen zu ihr herum.

»Hey, schleich dich nicht so an«, beschwerte sich Mason lachend.

Danielle richtete sich auf ihrem Lieblingsohrensessel auf, in dem sie gefläzt hatte, und deutete auf den Kühlschrank. »Hi, du siehst aus, als könntest du eine Cola gebrauchen, ich hab dir Dr. Peppers kaltgestellt.«

»Hey, danke!« Olivia nickte dankbar. »Super, das ist jetzt genau das Richtige. Diese verdammte Mathearbeit heute hat mir wahrscheinlich das Genick gebrochen.« Sie rollte die Augen.

Mitleidiges Brummen der anderen folgte.

»Wärst du bei Johnson, wäre dir das erspart geblieben, der war heute krank. Wir hatten Hohlstunde.«

Doch gleich legte Danielle los. »Hast du schon gehört, dass die Jungs deshalb heute mit Thompkins zusammengerasselt sind?«

Als die Drei ihre Erzählung beendet hatten, hatte Olivia eine Gänsehaut. Der Gedanke an dieses Ekelpaket, seine grabschenden Hände, sein tabak- und alkoholgeschwängerter Atem …

»Mannomann, das ist ja eine schöne Scheiße! Da will ich gar nicht dran denken!« Sie erschauderte. Ihr Mund wurde trocken. Zischend öffnete sich die Dose, und die Cola rann eiskalt ihren Hals hinunter. Sie stöhnte auf, ließ sich aufs Sofa sinken, dann wandte sie sich an Randy. Sie musste das Thema wechseln. »Wo wart ihr stehengeblieben?«

Er lächelte ihr zu. »Noch nicht weit, wir haben auch erst angefangen mit dem, was du schon weißt, Mariettas Schwangerschaft.«

»Und es wusste wirklich keiner, was aus dem Kind wurde?«, fragte Danielle.

Olivia schüttelte bedauernd den Kopf.

Mason, der wie immer nicht stillsitzen konnte, tigerte durch den Raum. Dann klopfte er sich nachdenklich mit dem Finger gegen die Vorderzähne. »Können wir denn nicht irgendwo herausfinden, ob das Kind auf die Welt kam oder ob sie es vielleicht … abgetrieben hat?«

»Hm, gute Frage! Keine Ahnung.« Bedauernd zuckte Olivia die Achseln.

Auch Randy raufte sich verzweifelt die Haare. »Wir können nicht mal in den Datenbanken suchen, damals gab es sowas nicht.«

Sie räusperte sich. »Okay, lasst uns nachdenken. Die Jahrmarktjungs sagen, es existierte ein ungeborenes Baby. Zum einen müssen wir herausfinden, was mit dem Kind passiert ist. Wo steckt es? Und vor allem: Wer ist der Vater?«

Sie wandte sich an Randy. »Haben wir schon herausgefunden, mit wem Marietta sonst zusammen war?«

Randy schien auch froh über den Themenwechsel zu sein. »Nein, leider nicht, außer …« Vielsagend blickte er auf Mason, der gerade seinen Kopf in den Kühlschrank gesteckt hatte, um nach etwas Essbarem zu suchen. Glücklicherweise schien Mason es nicht mitbekommen zu haben. Das hätte noch gefehlt, dass er mit der Nase darauf gestoßen wurde, dass sein Dad, als Ex-Freund von Marietta, durchaus als potentieller Vaterschaftskandidat infrage kam.

»Haben wir noch irgendwo Lakritze?«, lenkte Randy ab und zerknüllte die leere Tüte.

Danielle sprang auf und griff in ihre Tasche. »Ich hab dir welche mitgebracht.«

»Danke.«

»Ach«, sie winkte schnell ab. »Ich war sowieso einkaufen.«

Olivia lehnte sich zurück. Schau an. Vielleicht war Danielle doch nicht so schlimm, wie sie gedacht hatte. Vielleicht.

Randy riss die Tüte auf und begann zu kauen.

Mason war endlich mit einer Mini-Salami fündig geworden. »Okay, wo waren wir stehengeblieben?«

»Wir wissen nicht, ob das Kind auf die Welt kam«, assistierte Olivia. Da kam ihr ein Gedanke. Sie wandte sich an Danielle. »Deine Mutter und Marietta King waren doch gut befreundet – kannst du über die nichts herausfinden?«

Danielle versteifte sich, fast konnte man meinen, sie wurde blass unter ihrer Sommerbräune. »Nein! Auf gar keinen Fall!« Vehement schüttelte sie den Kopf. Sie klang verbittert, als sie hervorstieß: »Meine Mutter kann ich überhaupt nichts fragen.«

Olivia holte tief Luft, doch sie verkniff sich eine Bemerkung dazu.

Auch Mason sah aus, als hätte ihm eine andere Antwort besser gefallen. Er ließ sich neben ihr aufs Sofa fallen. Gedankenverloren folgte sie ihm mit ihren Blicken.

Moment!

Olivia hob überrascht den Kopf. Schon beim Hereinlaufen war ihr die frische Farbe aufgefallen, doch sie war abgelenkt gewesen. »Haben wir neue Sofabezüge?« Das blau-gelbe Muster ließ den Raum gleich viel freundlicher erscheinen.

Die Jungs blickten ziemlich erstaunt über den Themenwechsel.

»Stimmt!« Mason nickte verblüfft.

Danielles Miene hellte sich auf und sie drehte verlegen eine Haarsträhne über ihren Finger.

»Sieht klasse aus, hab ich gestern Abend schon gesehen, als ich, nachdem ich bei Mason war, kurz hier vorbeikam, um ein paar Akten zurückzubringen.« Anerkennend lächelte Randy Danielle zu.

Die Röte auf den Wangen übertönte ihre Bräune.

»Danke«, erwiderte sie verlegen.

Olivia riss sich zusammen, Lobreden waren nicht so ihr Ding. »Ja, echt toll!«

»Habe ich selbst genäht.« Sie sah stolz aus.

Mason lachte auf. »Du kannst nähen?«

Danielles Lächeln erstarb. »Was soll das denn heißen?«, fragte sie fast tonlos.

Mason schien es nicht zu schnallen. »Na, hör mal – wann solltest du denn mal was nähen müssen?«

Danielle sprang auf, ihre blauen Augen sprühten Eiskristalle. »Glaubst du vielleicht, nur weil meine Eltern Kohle haben, bin ich komplett verblödet und dazu auch noch ungeschickt und kriege nichts hin?« Ihre Stimme überschlug sich. Sie schien sich in Rage geredet zu haben. »Wofür haltet ihr mich eigentlich? Muss ich mich jetzt den Rest meines Lebens für das Geld meiner Eltern entschuldigen? Ich habe die genäht, während ich Hausarrest hatte, weil meine Mum gesehen hat …« Sie stach mit dem Finger in Richtung Mason, »wie ich dich …« Sie verstummte mit roten Wangen.

Olivia hob erstaunt den Kopf. Das waren ja ganz neue Infos – was war da los gewesen?

Doch Danielle war nicht zu bremsen, sie brüllte fast, als sie fortfuhr. »Mir reicht es wirklich so langsam, dass jeder hier denkt, ich wäre zu nichts nutze, nur weil meine Eltern zufällig reich sind.« Sie schnappte nach Luft, dann sank sie in sich zusammen. »Ach, macht doch, was ihr wollt.« Mit den Worten stürmte sie nach draußen.

Die Drei schauten sich verblüfft an – keiner sagte etwas.

Mason saß da wie vor den Kopf geschlagen. »Hey, ich habe das echt nicht so gemeint …«

Olivia nickte ihm beruhigend zu. Das war Mason, das Herz am rechten Fleck, aber den Fuß in jedem Fettnäpfchen.

Randy war schon in Richtung Tür gelaufen, doch Olivia rief ihn zurück. »Lass gut sein, ich werde mit ihr reden.«

Das war wirklich nicht ihr Ding, aber die Jungs würden es sowieso nur noch schlimmer machen. Immerhin gab Danielle sich wirklich Mühe. Olivia musste sich eingestehen, dass das reiche Mädchen tatsächlich nichts für ihre wohlhabenden Eltern konnte.

Überhaupt fühlte sie sich plötzlich richtig elend.

*

In der Kantine von Jamie Collisters Firma TEMA Enterprises

Ein Mittwoch

Jamie Collister balancierte sein Tablett mit dem Mittagessen auf einer Hand, während er sich, mit dem Smartphone am Ohr, zwischen den Stuhlreihen durchquetschte und gegenüber von Oppenheimer Platz nahm.

Jamie beendete das Gespräch und lächelte seinen Chef an. »Bender hat das Server-Problem im Griff, jetzt sollte alles wieder nach Plan laufen. Gegen zwei Uhr können wir nochmals einen Probelauf starten.«

Carl Oppenheimers angespannte Miene lockerte sich etwas. »Gut, Sie wissen, wir können uns keine Verzögerungen leisten.«

 

Jamie schob sich eine Gabel grüner Bohnen in den Mund, um etwas Zeit zu gewinnen. Er hatte sich zuversichtlicher gegeben, als er war. »Ich denke nicht, dass wir noch einen Bug finden werden. Sobald wir grünes Licht von Bender haben, mache ich mich daran«, versprach er.

Carl nickte und schnitt sich ein großes Stück Steak herunter. Für ihn war diese Angelegenheit damit erledigt. Jamie hatte Ergebnisse zu liefern, das wusste er. Und das Vertrauen seines Chefs würde er nicht enttäuschen. Das Problem würde er in den Griff bekommen, und wenn es die ganze Nacht dauerte.

Eine Weile herrschte nachdenkliches Schweigen zwischen ihnen, nur das Geräusch von Geschirrklappern und das Summen der umliegenden Gespräche schwirrte durch die Luft.

Jamie öffnete seine Sprite-Dose und nahm einen großen Schluck. Dann wandte er sich wieder an Carl. »Der Freund meines Sohnes ist dabei, eine Messenger-App zu entwickeln. Ich finde es sehr interessant; sie sendet die Nachrichten verschlüsselt.«

Carl hob die buschigen grauen Augenbrauen. Auch wenn ihre Firma auf Großrechneranlagen spezialisiert war, interessierten ihn die Entwicklungen von Randy sehr, das Tüfteln war ein Hobby von ihm. Vielleicht hatte er noch eine Idee, wie Randy sein Problem lösen konnte. »Sie meinen, dieser Randy Steinbeck, der kürzlich auch diese App entwickelt hat, mit der alte unleserliche Dokumente abfotografiert und aufbereitet werden können?«

»Genau der. Doch dieses Mal könnte die Entwicklung auch für uns von großem Vorteil sein. Er will die Software für private Zwecke schreiben, eine kommerzielle Nutzung kommt nicht infrage«, stellte Jamie sofort klar. Er wollte hier nicht über Randys Kopf hinweg etwas entscheiden. Aber Carl war in Ordnung und bewies beim Umgang mit den Ideen anderer Fingerspitzengefühl und ein hohes Moralverständnis. »Trotzdem könnten wir über eine ähnliche Architektur bei unseren neuen Anwendungen für die interne Bürokommunikation nachdenken.« Jamie erklärte ihm in kurzen Zügen den Aufbau, den Randy sich vorgestellt hatte.

Carl nickte anerkennend. »Ein gut durchdachtes Schichtenmodell, saubere Interfaces und wie ich ihn kenne: auch astreiner Quellcode. Zu schade, dass er kein Praktikum bei uns machen will. Und was will er im Gegensatz zu den bereits existierenden Messengern auf dem Markt anders machen?«

»Die Verschlüsselung des Chats erfolgt mit 256 Bit langen asymmetrischen Schlüsseln, die mittels Elliptic Curve Cryptography erzeugt werden. Das ist vergleichbar mit 3072 Bit langen RSA-Schlüsseln. Die App arbeitet mit drei Sicherheitsstufen. Schlüsselübertragung durch Server, Identifikation durch Telefonnummer und E-Mail-Adresse oder ein Austausch des öffentlichen Schlüssels über den Scan des jeweils durch die App generierten QR-Codes. In Deutschland, der Schweiz und einigen hiesigen Firmen gibt es schon Apps, die erfolgreich laufen und ähnlich aufgebaut sind. Allerdings hat er eine Neuerung, die ich sehr spannend finde und die die App auch für mich so interessant gestaltet. Er will den Quelltext …«

Jamie hielt inne, als hinter ihm ein Stuhl quietschte. Es kribbelte in seinem Nacken. Er drehte sich um. Bruce Carpenter! Ausgerechnet! Seine pomadigen schwarzen Haare klebten fast an seinem Kopf, so weit lehnte der sich zurück. Der hatte ihm gerade noch gefehlt!

»Ah, Collister!«, grüßte Bruce mit seiner Fistelstimme. »Mahlzeit!«

Jamie nickte ihm kühl zu, dann warf er demonstrativ einen Blick auf seine Armbanduhr und tat erschrocken, bevor er nach seinem Tablett griff. »Carl, entschuldigen Sie, ich muss los, wir reden ein andermal weiter. Ich will schauen, was Bender treibt.« Er stand auf. »Carpenter, wir sehen uns«, sagte er nur knapp. Dieser Sprücheklopfer, auf dessen Klugscheißerei hatte er wirklich keine Lust. Ob er wohl etwas von ihrem Gespräch mitbekommen hatte? Er verdrehte die Augen bei dem Gedanken an die arroganten Kalenderblatt-Weisheiten des Kollegen; er konnte sie nicht mehr hören.

»Halten Sie mich auf dem Laufenden«, rief Carl ihm hinterher, doch Jamie konnte nicht genau sagen, ob er die App oder das Server-Problem meinte. Er nickte nur. Im Weglaufen hörte er noch, wie Bruce Carpenter sich zu seinem Chef an den Tisch setzte.

Armer Carl!

*

Bei Randy zu Hause

Ein Donnerstag

»Und dieser verdammte Prinz hat mich doch dauernd auf dem Kieker«, empörte sich Mason. Er merkte, wie die Wut in ihm hochkochte, das Blut pulsierte in seinem Kopf. Der Direx hatte es echt auf ihn abgesehen. Er versuchte, den näselnden englischen Akzent nachzumachen. »Mason Collister, Sie nehmen jetzt diese Spachtel …«

Randy legte ihm die Hand auf die Schulter und schaute ihn mitleidig an. »Hey, ich verstehe, dass du angepisst bist …«

Wütend schüttelte Mason die Hand ab. »Angepisst? Das ist kein Ausdruck! Ich könnte kotzen vor Wut! Ich hab den scheiß Kaugummi nicht auf das Periodensystem geklebt, der verfluchte Prinz jubelt mir doch alles unter, was irgendwer in der Schule verbockt.«

Doch bevor er weiterfluchen konnte, klopfte es an der Tür. Randy dimmte die Lautstärke seiner Anlage.

Seine Tante Barbara steckte den Kopf zur Tür herein. Sie strich ihre langen dunklen Locken nach hinten und lächelte. »Hey, Jungs, ich hab gerade Zitronenlimo gemacht, wollt ihr welche?«

Mason riss sich zusammen und nickte freundlich. »Danke, das ist super.« Die Zitronenlimo aus dem Sirup, den sie selbst einkochte, war wirklich lecker, und außerdem gab es bestimmt auch ihre selbstgebackenen Kekse dazu, auch wenn das seinen Ärger kein bisschen milderte. Warum hatte er diesen ekligen Kaugummi von irgendjemand abkratzen müssen? Man hätte die DNA überprüfen lassen sollen. Bestimmt war es Brian Bruker gewesen, der Sohn des Sheriffs und Masons ganz persönlicher Erzfeind. Zornig rührte er mit dem Strohhalm in der Limo herum, dass die Eiswürfel nur so gegen das Glas klirrten.

Randys Tante schaute ihn besorgt an. Wahrscheinlich waren seine Wangen vor Ärger ganz rot. »Ist alles okay?«

Bevor er antworten konnte, fiel Randy ein. »Mason musste heute einen Kaugummi von der Periodentafel kratzen, den irgendjemand dahin geklebt hatte, weil der Direx glaubt, er war's.«

Sie runzelte verärgert die Stirn. »Und wie kommt euer Direktor darauf?«

Randy zuckte die Schultern. »Du weißt doch …«

Natürlich! Jetzt kam diese Drogenjunge-Geschichte wieder auf. Wenn bei jemandem Drogen im Spind gefunden wurden, war der an allem schuld, was in der Schule passierte, egal ob er verantwortlich war oder nicht. Mason presste die Lippen zusammen.

Randys Tante blickte verärgert drein. »Wenn euer Direktor anfängt, euch zu drangsalieren, dann sagt Bescheid. Das grenzt ja langsam schon an Mobbing. Das müssen wir nicht tolerieren!«

Mason warf ihr einen dankbaren Blick zu. Wie sie ohne jeden Zweifel an seine Unschuld glaubte. Und wie sie Randy in das »wir« einbezog, als hinge er mit drin. Mason sog an seinem Strohhalm. Die Limo kühlte angenehm seinen Hals. »Danke, Ms. Gladstone«, brachte er schließlich heraus.

Sie zwinkerte ihm zu, legte kurz die Hand auf seine Schulter und drehte sich dann zur Tür. »Meldet euch, wenn ihr was braucht. Ich lasse euch mal wieder in Ruhe quatschen.«

Mason biss in einen Erdnusskeks. »Lecker!«, sagte er und mampfte.

»Glaubst du, das war eine Aktion von Thompkins, wegen der Sache heute Morgen?«, fragte Randy nachdenklich, als sie draußen war, und nahm sich auch einen Keks.

Seufzend winkte er ab. »Ich glaube nicht, dass der dahintersteckt. Lass gut sein. Erzähl mir lieber von der App, wie weit bist du?«

Randy blühte auf, als es um sein Lieblingsthema ging. »Die Verschlüsselung funktioniert schon so weit, aber ich fürchte, die Sicherheitslücken könnten momentan noch geknackt werden. Und das möchte ich auf jeden Fall noch in den Griff bekommen, bevor wir in die Testphase gehen.« Dann verdüsterte sich seine Miene wieder und er biss sich auf die Unterlippe. »Allerdings habe ich momentan ein echtes Problem mit meiner Firewall. Ständig meldet sie unbefugtes Eindringen.«

In dem Moment wurde er vom Piepen seines Smartphones unterbrochen. »Olivia«, sagte er erstaunt, nach einem Blick auf das Display seines neuen 3D-Phones, auf dem sich ein dreidimensionaler Würfel mit dem Namen der jeweiligen Anrufer drehte.

Interessiert hörte Mason zu, doch er konnte nur entnehmen, dass sie vorbeikommen und noch jemanden mitbringen wollte, der ein Problem mit seinem Laptop hatte.

»Ein Kumpel von Olivia«, erklärte Randy, als er das Gespräch beendet hatte. Er zuckte die Schultern. »Ich schau mir den Laptop mal an, er steigt immer wieder aus.«

Mason räusperte sich. »Was ist eigentlich mit Danielle? Ich hab seit Dienstag nichts mehr von ihr gehört.« Das schlechte Gewissen nagte immer noch an ihm.

Randy warf ihm einen vielsagenden Blick zu. »Alles okay so weit. Ich hab sie gestern nach der Schule vor dem Gamba getroffen. Sie war dort mit ihren Freundinnen Eis essen.«

»Und?«

»Sie geht am Samstag wie geplant mit.«

Erleichtert ließ Mason die Schultern sinken und merkte erst jetzt, dass er sie angespannt hatte. »Im Eiscafé? Ich dachte, das hätte schon zu?«

Randy hob die Augenbraue. »Sie schließen erst nächste Woche und mit dem Herbstwetter haben wir ja noch Glück. Aber lenk nicht ab.«

Mason räusperte sich. »Na ja, es war schon ziemlich doof von mir, was ich gesagt habe.«

Randy grinste. »Stimmt! Manchmal kannst du ein richtiges kleines Arschloch sein.«

Mason stürzte sich auf seinen Freund und nahm ihn in den Schwitzkasten. »Das nimmst du sofort zurück!« Er wuschelte ihm durch die Haare.

Randy zappelte, doch er hatte ihn gut im Griff, so dass er nicht freikam. Dennoch ließ Randy sich nicht einschüchtern. »Ich denk nicht daran«, keuchte er. »Was wahr ist, darf man sagen.«

Sie balgten herum und stießen dabei gegen den Schreibtisch, so dass Randys Limoglas verdächtig ins Schwanken geriet. Randys Schrei war so panisch, dass Mason erschrocken zurückzuckte.

»Verdammte Scheiße!«, keuchte Randy, als er das Glas gerettet hatte. »Wenn die Limo über meine Elektronik gekippt wäre …« Seine Augen waren immer noch erschrocken aufgerissen.

Mason blickte sich auf Randys Schreibtisch um, der sich vor Elektronik-Bauteilen beinahe nach unten durchbog. Um den Flachbildschirm der neuesten Generation drapierten sich zerlegte Laptops, alte Handys, Smartphones, Notebooks, Festplatten und allerlei anderer technischer Schnickschnack, den Mason nicht mal mit Namen betiteln konnte. Doch nicht nur auf dem Schreibtisch, sondern in Randys komplettem Zimmer türmten sich die Gerätschaften auf. Es sah im Grunde eher wie eine Elektronik-Werkstatt aus als ein Jungenzimmer. Ständig war der »Neek« am Schrauben und Basteln und immer wieder schaffte er es, aus mehreren Teilen funktionsfähige Geräte zu bauen.

Randy zog den Strohhalm aus seinem Glas und trank es in einem Zug leer, als fürchtete er immer noch, die Limo könnte Schaden an seinem Heiligtum anrichten.

Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Mannomann, das war echt knapp!«

»Sorry, das wollte ich nicht«, entschuldigte sich Mason zerknirscht.

Randy winkte ab. »Ist ja nichts passiert. Spar dir dein schlechtes Gewissen für Danielle auf und mach ihr vor allem klar, dass wir ihr den Abgang nicht übel nehmen.«

Mason nickte. Er hatte nicht vergessen, wie weit Danielle sich für ihn aus dem Fenster gelehnt hatte, als sie ihn mit auf die Gedenkfeier von Henry Snyder genommen hatte. Nach dem vermeintlichen Kuss war ihre Mum vollkommen durchgedreht.

Die Türglocke enthob ihn seiner Gedanken und Olivia wirbelte ins Zimmer, mit ihrem Kumpel Vincent im Schlepptau, den sie als »Vince« vorstellte. Sie brachte einen Schwall Kälte mit – obwohl es sonnig war, wurde es gegen Abend manchmal schon recht kühl. Wie immer musste sie wie der Henker gefahren sein, wenn sie in der kurzen Zeit von den Favelas, dem ärmeren Teil von Barrington Cove, wo sie wohnte, hierher gedüst war.

Nach der Begrüßungsrunde fuchtelte Olivia Randy mit Vincents Laptop vor der Nase herum. »Das Teil wird immer heiß und stürzt ab.«

Randy nahm ihr den Laptop aus der Hand und warf ihr einen strafenden Blick zu. Wahrscheinlich konnte er wieder überhaupt nicht verstehen, wie respektlos sie mit diesem technischen Heiligtum umging. »Stürzt ab heißt? Schwarzer Bildschirm? Musst du neu starten? Kommt eine Fehlermeldung beim Neustart? Hörst du, ob der Lüfter läuft?«

 

Olivia zuckte die Schultern und schaute Vince fragend an. »Was fragst du mich? Ich bin nur der Überbringer.«

Mason konnte es nicht glauben. Randy war schon manchmal etwas nerdig – den Spitznamen hatte Danielle ihm nicht zu Unrecht gegeben, auch wenn sie ihn liebevoll meinte.

Olivia war mit Vince wohl ziemlich vertraut – sie hakte sich bei ihm unter und alberte mit ihm herum. Gut sah er ja wohl aus – der typische Mädchenschwarm mit dunklen, etwas längeren Haaren und braunen Augen. Dabei war Olivia doch mit Chris Archer zusammen, oder nicht? Mason zuckte die Schultern. Na ja, das musste sie selbst wissen.

Randy fachsimpelte derweil etwas über einen defekten Lüfter, den er allerdings besorgen musste, weil er für dieses Modell keine Ersatzteile in seinem sonst unerschöpflichen Fundus hatte.

»Echt super, dass du dich darum kümmerst, danke!«, sagte Vince begeistert.

Randy winkte verlegen ab. Allzu oft bekam er keine Komplimente. »Hast du einen Ersatz für deinen Laptop oder soll ich dir eine alte Ersatzmaschine mitgeben, damit du nicht ganz ohne dastehst?« Er vergrub den Kopf in seinem Schrank.

Vince grinste. »Nein, kein Problem, ich geh solange über mein Smartphone oder meine PS4 on, wenn ich was brauche.«

Randy schaute interessiert auf.

Als die beiden anfingen, sich über die neuesten Playstation-Spiele zu unterhalten, wandte Mason sich Olivia zu, doch just in dem Moment läutete ihr Smartphone. Aufgeregt drückte sie darauf herum, so richtig kam sie mit ihrem neuen Fotohandy, das Randy ihr geschenkt hatte, wohl noch nicht klar. Endlich klappte es und sie hob ab.

»Leute, ich muss los, Chris ist gerade überraschend in der Stadt!«, rief sie und strahlte dabei über das ganze Gesicht. »Wir treffen uns gleich am Strand.«

Vince schien sich ehrlich für sie zu freuen, wahrscheinlich waren die beiden tatsächlich nur gute Freunde.

Wie ein Wirbelwind war sie davon und ließ sie zu dritt zurück.

Randy hatte schon seinen riesigen Plasmafernseher angeschaltet und die Playstation gestartet. Er schien zu glühen vor Begeisterung, einen Gleichgesinnten gefunden zu haben. Als er fragte, ob Mason das neue GTA mitspielen wollte, winkte er ab.

Nachdenklich ließ er sich auf den zerschlissenen Sessel sinken und beobachtete die beiden, die abwechselnd den Joystick übernahmen und ganz im Fieber das Spiel kommentierten. Die Grafik war schon faszinierend – täuschend echt wirkten die Autos, wie sie über die Straße rasten. Die Spielfigur zog gerade einen Fahrer aus einem Taxi, stieß ihn beiseite, stieg selbst ein und preschte davon. Er musste irgendeine Aufgabe erfüllen – Mason blickte noch nicht so richtig durch, aber er wollte nicht fragen.

Vielleicht sollte er auch mal anfangen zu zocken? Bislang war sein Leben von Sport geprägt gewesen – war nach dem epileptischen Anfall jetzt alles aus und er musste sich komplett umstellen? Verbittert presste er die Lippen zusammen und stand auf. Er musste sich bewegen. Randy wirkte schuldbewusst, als Mason sich verabschiedete, doch er winkte ab.

Vor dem Haus sog Mason die kalte Abendluft ein und schloss die Augen. Das tat gut. Er machte sich auf den Weg.

Scharf biss ihn der Fahrtwind ins Gesicht, als er sein Skateboard immer schneller antrieb. Aus einer anliegenden Pommesbude zog der Duft nach heißem Fett durch die Luft. Er wollte schnell heim – essen und seine Ruhe genießen. Sein Fuß bewegte sich noch schneller, er legte seine ganze Kraft in die Bewegung des Antriebs. Auf der Uferpromenade tummelten sich zahlreiche Menschen unter dem sich rot färbenden Abendhimmel. Mason wich auf die Straße aus, flitzte wie ein Blitz dahin. Das entgegenkommende Auto sah er viel zu spät – fast im gleichen Augenblick folgte der dumpfe Aufprall, Glas klirrte, gefolgt von einem stechenden Schmerz. Und dann wurde es schwarz um ihn herum.

*