Ein MORDs-Team - Der komplette Fall Marietta King

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Die Wohnung der Familie Young

Ein Donnerstag

Olivia stand vor ihrer Wohnungstür und rieb über das Touch-Display ihres neuen Smartphones. Eigentlich hatte sie kein neues gewollt, aber Randy hatte zig von den Teilen bei sich herumliegen, weil er ständig irgendwelche Apps schrieb und das aktuelle Modell vom Hersteller erhielt. Randy war der Meinung gewesen, dass Olivia ganz dringend ein Modell brauchte, das bessere Fotos schießen konnte. Es war zwar toll, eine Full-HD-Kamera im Kleinformat zu besitzen, aber Olivia hatte ständig den Drang, das Display sauber zu wischen. Ihr altes Nokia-Teil war bei weitem nicht so anfällig gewesen. Sie zog den zusammengeknüllten Zettel mit den Daten des Wettbewerbs aus der Hosentasche und wählte die angegebene Kontaktnummer. Nach dreimaligem Klingeln hob jemand ab.

»… spreche demnächst eine automatische Ansage drauf«, hörte Olivia jemanden sagen. Nicht Jemanden. Chris. Sie erkannte die Stimme sofort.

»Hi, wer auch immer da ist, der Wettbewerb ist abgesagt.«

»Das habe ich schon gehört. Heute Morgen live vor Ort. Zusammen mit dem Kaffee, der sich über deinem Hemd verteilt hat.«

Eine Pause.

»Hallo?«, hakte Olivia nach, weil sie nicht sicher war, ob er aufgelegt hatte. »Hier ist Olivia Young. Wir haben heute Morgen …«

»Ich erinnere mich. Der Fleck ist rausgegangen, du kannst dir die Reinigung sparen.«

»Deshalb rufe ich nicht an.«

»Sondern?«

»Ich … ähm …« Wie sollte sie das jetzt erklären, ohne dabei aufdringlich zu wirken? »Wir … meine Freunde und ich. Wir wollen dir gerne helfen, den Einbrecher zu finden.«

Chris lachte auf.

»Das ist mein Ernst.«

»Du bist ja niedlich.«

Niedlich? Hatte der Kerl eine Vollmeise? Niedlich waren Tierbabys oder Marias gepunktete Schlafanzughosen mit den Marienkäfern, die sie seit drei Jahren trug. Olivia schluckte den Zorn und den Drang hinunter, sofort wieder aufzulegen und redete weiter. »Ich könnte dich bei der Galerie treffen und wir …«

»Nein, danke. Die Polizei sagte bereits, dass wir uns keine großen Hoffnungen machen sollen. Wenn du mich also entschuldigst? Hier rufen ständig Leute wegen des Wettbewerbs an. Ich muss eine Pressemitteilung …«

»Musst du nicht«, unterbrach sie ihn diesmal.

»Bitte?«

»Der Wettbewerb wird stattfinden.«

Wieder eine Pause. »Ich leg jetzt auf.«

»Oh Mann, hör schon auf den Macker zu spielen und gib dir einen Ruck.« Olivia atmete aus. Zügle dein Temperament. »Mein Kumpel Randy und ich können dich morgen nach der Schule an der Galerie treffen. Du zeigst uns den Tatort und wir sehen, was wir herausfinden können.«

»Und du glaubst, ihr seid besser als die Polizei?«

»Dir ist genauso klar wie mir, dass dieser Fall bereits auf dem Weg in den Keller zur Archivierung ist. Wenn dir etwas an dem Wettbewerb liegt, dann sei morgen um zwei bei der Galerie.« Bevor Chris etwas erwidern konnte, legte sie auf. Jetzt hatte er erst einmal Stoff zum Nachdenken.

Sie grub nach ihren Wohnungsschlüsseln in ihrer Tasche und öffnete die Tür. Selbst wenn sie den Einbruch aufklärten, musste Olivia noch das Problem mit der Kamera lösen. Klar kam es beim Fotografieren nicht nur darauf an, die dickste Cam mit dem längsten Objektiv zu besitzen, aber für gewisse Situationen brauchte man nun mal High-Tech. Und das kostete.

Olivia trat ein. Carlos huschte an ihren Füßen vorbei ins Freie. »Bring bloß nicht noch mal eine Maus nach Hause«, rief Olivia dem Kater hinterher. Letzte Woche hatte er morgens ganz stolz mit einer dicken, fetten Maus im Maul auf dem Fußabtreter gesessen und gemaunzt, bis ihm jemand geöffnet hatte.

»Ja gut. Ich bin sofort da«, hörte sie ihre Mum auf Englisch sagen. Sie kam mit dem Telefon aus der Küche gelaufen und trug noch ihre Schürze, mit der sie immer kochte. »Mum ist die Beste«, stand in großen roten Lettern drauf.

»Was ist denn passiert?«, fragte Olivia. Ihre Mutter sah schrecklich aus. Die sonst so lebhaften Augen lagen blass und dunkel in den Höhlen, ihre graumelierten Haare standen in alle Richtungen ab und ihre Hände zitterten. Olivia hatte sofort einen Verdacht. »Ist etwas mit Dad?«

Mum nickte. »Er ist schon wieder auf der Arbeit zusammengebrochen und im Krankenhaus. Ich muss zu ihm.«

»Oh nein …« Das war schon das dritte Mal in den letzten zwei Wochen. »Wieder sein Magen?«

»Vermutlich«, sagte ihre Mum und holte ihre Handtasche aus dem Wandschrank neben der Haustür. Ihre Finger zitterten so stark, dass sie kaum den Reißverschluss öffnen konnte.

»Lass mich das machen«, sagte Olivia und half ihr.

Ihre Mum wischte sich eine Träne weg. »Gracias, cariño.« Sie fischte einen Umschlag aus ihrer Handtasche. »Tu mir einen Gefallen und bring den Umschlag zu Mister Cohen. Ich würde es selbst machen, aber ich …«

»Schon gut, ich übernehme das natürlich.«

»Gib ihm das persönlich, nicht seiner Assistentin, hörst du?«

Sie reichte Olivia den Umschlag.

»Die Miete?«

»Sí. Er soll dir den Erhalt diesmal quittieren. Ich lasse mich kein zweites Mal als Lügnerin hinstellen.«

»Geht klar, Mum.« Im letzten Monat hatte sie die Miete in den Briefkasten von Mister Cohen eingeworfen, er hatte daraufhin behauptet, sie nie erhalten zu haben.

»Ach ja, Maria ist oben in ihrem Zimmer. Sie weiß bereits, was los ist, aber sie wollte nicht runterkommen. Vielleicht kannst du später mal nach ihr sehen?«

»Mach ich.«

»Ich hab dich lieb.« Ihre Mum drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. In dem Moment hupte ein Auto draußen. »Das ist mein Taxi.«

»Du hättest mein Auto nehmen können.« Die Fahrt ins Krankenhaus kostete vierzig Dollar. Geld, das sie eigentlich nicht hatten.

»Nicht doch, Liebes. Ich nehme dir doch nicht deinen mobilen Untersatz weg.«

Olivia seufzte. Wieso konnten sie nicht mehr Geld haben? Sie wollte ja gar nicht so reich sein wie Danielle, aber ein klein wenig mehr, damit sie nicht jeden Cent zweimal umdrehen mussten, würde schon genügen. »Ich hab dich auch lieb, Mum. Und bitte sag Bescheid, wenn du weißt, was mit Dad ist.«

»Natürlich. Bis bald.«

Olivia blickte ihrer Mutter nach und strich über den Umschlag. Die Miete für diese Bruchbude betrug achthundert Dollar. Ihre Mum ging dafür im Stadtarchiv putzen, ihr Dad schob eine extra Schicht nach der nächsten und trotzdem reichte das Geld kaum. Sie drückte den Umschlag an ihre Brust. Wenn sie den Wettbewerb gewinnen würde, könnte sie vorübergehend einen Teil der Miete übernehmen. Dad müsste nicht so viele Überstunden machen und könnte mal zur Ruhe kommen. Oder sich einen richtigen Arzt leisten und sich nicht nur in der Notaufnahme versorgen lassen. Außerdem war da ja noch die Praktikantenstelle bei Lucian. Die würde Olivia definitiv die nötigen Kontakte und Chancen bringen, in der Fotobranche Fuß zu fassen. Sie könnte auch etwas zum Lebensunterhalt beitragen.

Doch all das führte zurück zu ihren beiden Problemen. Erstens: Der Wettbewerb musste stattfinden. Zweitens: Sie brauchte das perfekte Bild dafür. Und das war nur möglich, wenn sie das richtige Equipment besaß. Auf einmal fühlte sich der Umschlag in ihren Händen wärmer an. Alles was sie dazu brauchte, war das Geld darin zu Ed zu tragen, das 1.4er zu kaufen, Fotos zu schießen und das Objektiv morgen wieder zurückzugeben. Sie könnte ihm sagen, dass sie nicht damit klargekommen war, dass sie es sich anders überlegt hatte. Ed würde nie merken, wie viele Fotos sie damit geschossen hatte. In Kombination mit der Kamera aus der Redaktion konnten richtig gute Bilder dabei herauskommen.

Sie steckte den Umschlag mit dem Geld in ihre Handtasche. »Ich bin gleich wieder da, Maria.«

Alles was sie als Antwort erhielt, war ein aufgedrehter Bass irgendeines neuen Liedes, das Maria zurzeit rauf und runter hörte. Das war Marias Art, mit Dads schlechter Verfassung klar zu kommen. Sich einsperren und Musik hören. Olivia würde später nach ihr sehen. Jetzt musste sie erst einmal zu Mister Cohen und sich eine gute Ausrede zurechtlegen, warum er die Miete erst ein paar Tage später erhalten würde.

*

Eine Stunde später

Olivia saß in ihrem Wagen und strich über die Ummantelung des Objektivs. Es fühlte sich kühl und schön und wertvoll an.

Das Gespräch mit Mister Cohen war besser gelaufen als erwartet.

Als er mit seinem alten 911er die Straße einbog, zog Olivia ihr Kleid zurecht (Mister Cohen mochte Kleider, vor allem, wenn sie kurz und eng saßen) und lief ihm bereits auf der Auffahrt entgegen. Sie hatte sich extra vorher etwas Wasser ins Gesicht und aufs Dekolletee gesprüht, damit es aussah, als wäre sie gerannt. Während Mister Cohen also in ihren Ausschnitt glotzte und sich überlegte, ob ihre Brüste bei der Atemgeschwindigkeit nicht aus dem Kleid hüpfen mussten, erzählte sie ihm ihre Story. Ihr Dad wäre mal wieder im Krankenhaus – was stimmte – und sie wäre den ganzen Weg hierher zurückgerannt – Lüge –, um ihm persönlich zu sagen, dass er die Miete leider erst übermorgen haben könnte. Zwischen den Sätzen machte sie immer wieder theatralische Pausen, in denen sie Mister Cohen mit ihren Kulleraugen anblickte und sich die Tränen wegwischte. Dank ihrer spanischen Wurzeln beherrschte Olivia den Unschuldsblick aus dem Effeff. Es war von Vorteil, große dunkle Augen zu haben, die von einem olivfarbenen Teint und schwarzen Haaren umrahmt wurden. Solange Mister Cohen ihr nicht zu nahe kommen würde, würde ihm auch nicht der Zwiebelgeruch auffallen. Irgendwie hatte sie sich ja zum Weinen bringen müssen.

 

Ihr Plan ging auf. Mister Cohen gewährte zwei Tage Aufschub, machte allerdings – mit einem weiteren Blick auf ihren Busen – deutlich, dass ab da die Sache mit ihrem Vater nicht mehr ziehen würde. Olivia griff nach seinen Händen und bedankte sich überschwänglich. Dann stürmte sie davon, trug die Miete direkt zu Ed und kaufte das 1.4er-Objektiv.

In der Sekunde, als sie sie in der Hand hielt, wusste sie, dass sie das Richtige getan hatte. Was für eine Linse! Sie war nicht aus diesem Billig-Plastik, sondern hatte diese schöne und kühle Metallummantelung. Dazu lag sie schön schwer in der Hand, und allein der Haptik wegen könnte sie sie den ganzen Tag herumtragen. 1.4er-Blende bei 85 Millimetern. Damit könnte sie bei Offenblende die schönsten Nachtaufnahmen knipsen, selbst mit der alten D2er-Cam aus der Redaktion.

»Ich brauche nur noch eine coole Location«, sagte Olivia und bettete das Objektiv zurück in die Fototasche. Es musste ein außergewöhnlicher Ort sein, wo niemand sonst hinkommen würde. Vielleicht unten am Strand, aber da hatte sie schon Bilder für den letzten Wettbewerb geschossen. Auf alle Fälle wollte sie keinen Platz, der schon zigmal fotografiert worden war. Sie brauchte etwas Einmaliges. Das Klingeln ihres Smartphones riss sie aus den Grübeleien. Sie sah aufs Display. Randys Foto lachte ihr entgegen. Olivia nahm ab. »Hi, Randy.«

»Hi. Ich wollte nur fragen, ob das morgen mit der Galerie klappt.«

»Ich denke schon.«

»Gut.«

»Ja.« Olivia tippte auf dem Lenkrad herum. »Du kennst nicht zufällig eine außergewöhnliche Location zum Knipsen, oder? Ich muss ein paar schicke Nachtaufnahmen machen.«

»Nicht aus dem Stegreif, aber warte mal.« Sie hörte Randy irgendetwas tippen. Saß er eigentlich auch mal nicht vor der Kiste? »Ah, hier. Wie wäre es mit der alten Highschool aus den 80ern? Das Gebäude steht noch, aber … warte, hier ist ein Eintrag von einem anderen Fotografen … ne, kannste vergessen. Ist alles abgeschlossen. Da kommen wir nicht rein, es sei denn, wir schlagen ein Fenster ein. Ich suche weiter … Oh, das wäre vielleicht was. Der alte Jahrmarkt draußen auf Angel Island.«

»Das ist dort, wo dieser Geschäftsmann nach Öl gebohrt hat und das Fracking läuft, oder?« Randy hatte davon während der Fahrt zum Hafen vor ein paar Tagen erzählt.

»Ja, genau. Auf der Insel war früher ein Jahrmarkt aufgebaut. Ein Teil der Fahrgeschäfte steht noch, genau wie das Riesenrad. Da könntest du fündig werden.«

»Perfekt. Ich hole dich in fünfzehn Minuten ab.«

»Äh, wozu?«

»Du wirst mich begleiten. Du hast doch am Hafen schon öfter mit Mason protestiert.«

»Schon, aber ich wollte mich gerade bei WoW einloggen.«

»Vergiss es. Fünfzehn Minuten. Halte dich bereit.«

»Bei deinem Fahrstil rechne ich eher mit zehn.«

Olivia grinste, legte auf und gab Gas. Auf zur Fotojagd.

*

Im Haus der Familie Collister

Zur selben Zeit

»Verdammtes Ding.« Mason band zum x-ten Mal die Krawatte neu. Er hasste diese Teile und hatte noch nie ein Händchen dafür gehabt, den perfekten Knoten zu binden. Warum lasse ich mich nur auf diese Sache ein?, fragte er sich zum ebenso vielten Mal wie er die Krawatte neu band. Er hätte zu Hause bleiben sollen, ein paar Bälle in der Auffahrt werfen oder mit Randy abhängen. Alles wäre besser gewesen als auf eine Gedenkfeier zu gehen, bei der ihn erstens alle anstarren würden und er zweitens einen Anzug mit Schlips tragen musste.

»Mann!« Mason zerrte die Krawatte vom Hals und schleuderte sie ins Waschbecken. Dann würde er eben ohne gehen. Vermutlich würde das eh keiner bemerken, sie wären viel zu sehr damit beschäftigt, sich die Mäuler zu zerreißen. »Schaut mal, da kommt der Drogenjunge. Der Versager, der Nichtsnutz, … war ja klar, wo das mit ihm enden wird.«

Mason kannte die Sprüche, die Blicke, die Gesten. Seit der Drogengeschichte war es noch viel schlimmer geworden. Brian Bruker hatte sich zum neuen Star an der Schule hochgearbeitet und erzählte jedem der es hören wollte – oder auch nicht –, was für ein Versager Mason Collister war.

»Er hat ja recht.« Mason nahm sich etwas Wachs und bändigte seine welligen blonden Haare. Er hatte die leichten Locken seiner Mutter geerbt und musste meist nicht viel machen, damit sie richtig saßen. Im Gegensatz zu Randy. Der brauchte vermutlich ne Dose Haarspray pro Woche, bis die Wuschelhaare nicht mehr wuschelten.

Unten schellte die Haustür. Das war bestimmt Danielle. Ob sie wieder mit Chauffeur da war? Wie hatte er geheißen? Irgendetwas mit G… Mason war zu verblüfft gewesen, dass Danielle überhaupt einen Chauffeur besaß, als dass er sich dessen Namen hätte merken können.

»Mason?«, rief seine Mum von unten. »Du hast Besuch.«

»Komme gleich.« Mason blickte noch einmal sein Spiegelbild an und nickte sich selbst aufmunternd zu. »Dann mal auf in den Kampf.« Er verließ das Badezimmer und rannte die Treppe hinunter, immer zwei Stufen auf einmal nehmend.

Im Flur unten sah seine Mum zu ihm hoch und schüttelte den Kopf. »Ich hab dir schon tausend Mal gesagt, du sollst ordentlich die Treppe runter gehen. Du wirst dir noch das Genick brechen!«

»Mir kann auch auf dem Weg nach draußen ein Satellitenteil auf die Birne fallen«, erwiderte Mason. »Oder ’ne Toilettenschüssel von der ISS.«

»Die Wahrscheinlichkeit, dass dir so etwas passiert, ist allerdings dreimal geringer als ein Sechser im Lotto«, gab seine Mum zurück. »Solange wir also nicht dreifache Millionäre sind, wirst du gesittet durch dieses Haus gehen. Verstanden?«

»Ist ja gut«, sagte Mason und lächelte Danielle zu, die im Türrahmen stand. »Hi.« Sie lächelte zurück. Mason erkannte sie kaum wieder in ihrem schwarzen knöchellangen Kleid und mit den hochgesteckten Haaren.

Masons Mum kam auf ihn zu und richtete sein Hemd. »Keine Krawatte?«

»Nein. Es schnürt mir die Luft ab.«

Seine Mum nestelte weiter an seinem Kragen herum. Wenn sie jetzt ein Taschentuch herausholt und mir einen Fleck von der Wange reibt, kann sie was erleben. »Ich denke, es sitzt jetzt. Danke.«

Danielle hüstelte dezent. Mason blickte auf. Lachte sie ihn etwa aus? Na, die konnte was erleben.

Endlich ließ seine Mum ihn los. »Na gut. Dann passt auf euch auf, ja?«

»Klaro.«

»Können wir?«, fragte Danielle und verzog die Mundwinkel.

Sie lachte. Eindeutig. »Ja.«

»Richte der Familie mein Beileid aus«, sagte Mum. »Und das von deinem Dad natürlich auch. Immerhin sind wir damals unter dem Direktor zur Schule gegangen und hatten auch das ein oder andere Mal mit ihm zu tun.«

»Machen wir.« Bildete er es sich ein, oder war seine Mutter etwas enttäuscht. »Bis später. Wir bleiben sicher nicht allzu lange.«

Seine Mum nickte und schloss die Tür hinter ihnen. Danielle und Mason traten ins Freie. Natürlich wartete der Chauffeur – verflixt, wie hieß der denn? Gregor? Gustav? – am Straßenrand.

»Deine Mum wirkte irgendwie komisch, als sie vom alten Direx sprach«, sagte Danielle.

»Ich glaube, sie ist etwas angefressen, weil sie nicht eingeladen wurden.«

»Mum meinte, dass nur die engen Freunde dabei sind, und da Dad mit Snyder nach seiner Schulzeit öfter geschäftlich zu tun gehabt hat, sind wir dabei.«

»Was für eine Art Geschäfte?«

»Keine Ahnung. Irgendwelche Firmenübernahmen. Dad spricht zuhause nicht über seine Arbeit, wahrscheinlich denkt er, wir verstehen das sowieso nicht.« Danielle nickte dem Chauffeur zu, der ausgestiegen war und ihr die Tür aufhielt. »Danke, George.«

George! Natürlich. Das war’s. Mason bedankte sich ebenfalls und stieg ein. Er ließ sich mit Danielle in die weichen Polster sinken. Es roch nach Leder und Holzpolitur.

»Wo sind eigentlich deine Eltern?«, fragte er.

»Sie sind direkt von der Stadt aus hingefahren. Ich sagte, wir würden uns dort treffen.«

Kaum saßen sie im Wagen, klingelte ihr Smartphone. Danielle zog es aus ihrer kleinen Handtasche. »Meine Mum will wissen, wo ich bleibe. Ich antworte ihr rasch.«

»Haben wir einen Plan für heute Abend?«, fragte Mason, während Danielle tippte. »Wo sollen wir nach dem Super-8-Film suchen?«

»Ich habe keine Ahnung. Das Haus von Snyder ist riesig. Ich habe die Adresse gegoogelt, die mir Mum gegeben hat. Drumherum ist ein Wäldchen. Es gibt also tausend Verstecke.«

»Also, wenn ich er wäre, würde ich etwas so Wertvolles nicht irgendwo draußen deponieren. Ich würde es bei mir haben wollen.«

»Vielleicht sollten wir in seinem Büro anfangen.«

»Wäre das nicht zu offensichtlich?«

Danielle zuckte die Schultern. »Irgendeinen Anhaltspunkt brauchen wir, und warum nicht etwas dort verstecken, wo es niemand suchen würde, gerade weil es zu offensichtlich ist.«

»Stimmt auch wieder«, sagte Mason und beobachtete, wie die Gegend an ihm draußen vorüberzog.

»Hier im Wagen müsste noch eine Ersatzkrawatte liegen«, sagte Danielle. »Dad hat immer welche dabei, falls er mal eine braucht.«

»Du denkst, ich sollte eine tragen.«

»Es wäre schicker. Ich kann sie dir auch binden.«

Mason seufzte. »Meinetwegen.«

*

Angel Island

Olivia bremste so heftig, dass eine Staubwolke den Wagen einhüllte. Sie stellte den Motor ab und sprang aus dem Auto. »Das ist ja der Wahnsinn! Schau dir die Kulisse an! Oh Randy, ich könnte dich knutschen.«

Randy stieg ebenfalls aus. Ihm war ein wenig schwindelig von Olivias Fahrstil, aber insgeheim wünschte er sich, auch so fahren zu können wie sie: unerschrocken und selbstbewusst.

Sie waren über eine Brücke auf die Insel gelangt und hatten direkt vor dem alten Rummel geparkt. Das Riesenrad stach Randy als erstes ins Auge. Es hingen sogar noch einige Gondeln dran, manche schwankten leicht durch den Wind hin und her, der vom Meer her wehte. Über dem Riesenrad stand der Mond satt und groß am Nachthimmel und hüllte alles in ein wunderschönes silbernes Licht. Das Meer glitzerte, als würden tausende Diamanten auf der Oberfläche treiben. Olivia hatte recht: Es war mystisch und faszinierend.

»Das ist perfekt«, sagte sie. »Dieses Licht ist der Hammer! Ich könnte das Meer und den Mond als Hintergrund nehmen und einige Stände fotografieren. Das Motto des Wettbewerbs ist »Catch the Night«. Wenn ich hier nicht die Nacht einfangen kann, dann weiß ich auch nicht.«

»Schön, wenn es dir gefällt.«

»Großartig. Einfach großartig.«

»Es gibt auch ein sehr altes Karussell mit Holzpferden und so«, sagte Randy. »Vielleicht funktioniert es noch. Wir könnten es anwerfen und du machst ein paar Bilder, wie sich die Figuren drehen.«

Olivia drehte sich zu ihm. Ihre hellen Zähne blitzten in der Dunkelheit. Hätte sie keine Ohren, würde sie im Kreis grinsen. »Wie gesagt, ich könnte dich knutschen.«

Randy wurde heiß. Olivia kam auf ihn zu, er wich zurück, überlegte sich bereits, wie er sie davon abhalten sollte, doch sie klopfte ihm auf die Schulter und lief weiter zum Kofferraum, um ihre Fototasche herauszuholen. Das mit dem Knutschen war offenkundig nur rhetorisch gemeint, und Randy ließ erleichtert die Luft aus den Lungen. Olivia war ein nettes Mädel, aber er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, mit ihr herumzumachen.

Sie schulterte ihre Tasche. »Bereit?«

»Na klar. Nach dir.«

Das Gelände war mit einem alten Maschendrahtzaun eingezäunt. Er diente wohl eher zur Abschreckung als zur Sicherheit, denn es war nicht weiter schwer, ein Loch zu finden, durch das sie sich zwängen konnten.

Sobald sie drinnen waren, holte Olivia ihre Kamera heraus und knipste los. Immer wieder sagte sie »Wahnsinn!« oder »Der Hammer«, »Dieses Licht«, »Ich dreh durch«. Randy lief grinsend neben ihr her.

Sie kamen an einem alten Zuckerwattestand vorbei. Leider roch es nicht mehr nach Leckereien, sondern nach fauligem Holz und Schimmel. Randy war gerne auf Rummelplätzen. Die Atmosphäre hatte etwas von Kindheit. Von Unbeschwertheit. Von einer Zeit, in der seine Eltern noch gelebt hatten … Randy biss sich auf die Lippe. Der Unfall war jetzt sieben Jahre her, und trotzdem schmerzte es wie am ersten Tag. Die Zeit heilt alle Wunden, sagte man. Randy hatte manchmal seine Zweifel, ob das auch zutreffend war.

 

»Randy!«, rief Olivia und riss ihn zurück in die Gegenwart. »Sieh mal!«

Sie war in der kleinen Kassenkabine, in der die Schalter für das Karussell waren. Im Halbdunkel sah Randy, wie Olivia ein paar Knöpfe drückte und das Karussell erhellte sich ein paar Sekunden später. Dass es hier draußen noch Strom gab, war wirklich ein Wunder.

Olivia jauchzte vor Freude. Sie drückte weitere Knöpfe und es setzte sich tatsächlich in Bewegung. Einige der Birnen waren durchgebrannt und der Antrieb quietschte bei jeder Viertel Umdrehung, aber es lief. Randy lachte und sprang auf das Karussell auf. Olivia verließ das Kassenhäuschen und gesellte sich zu ihm. Randy setzte sich auf eines der alten Holzpferde. Die weiße Farbe war abgeblättert und ein Ohr fehlte, aber es sah noch stabil aus. Er streckte die Arme aus, schloss die Augen und genoss den leichten Fahrtwind in seinem Gesicht.

»Bleib genau so«, rief Olivia. Randy öffnete ein Auge. Sie kniete zwei Meter vor ihm mit der Kamera im Anschlag. Es klickte im Dauerfeuer. Olivia wechselte ein paar Mal die Position, während Randy einfach da saß und sich treiben ließ.

»Perfekt«, sagte Olivia. »Damit stecke ich die anderen aber so was von in die Tasche.«

Nach einigen Minuten kam das Karussell zum Stehen. Die Fahrt war vorüber.

»Alle aussteigen, bitte«, sagte Randy.

Bevor sie gingen, schaltete Randy das Karussell wieder ab. Sie liefen noch eine Weile durch die Gassen. Olivia knipste gefühlte tausend Fotos von allen möglichen Dingen, die ihr in die Quere kamen. Irgendwann blieb sie stehen, betrachtete das Display ihrer Kamera und seufzte zufrieden. »Also, ich habe mehr, als ich brauche. Wir können gerne wieder zurück. Außerdem glaube ich, dass ein Gewitter aufzieht. Ich möchte nicht, dass mein Equipment noch nass wird.«

»Super.« Mittlerweile war Randy auch etwas kalt. Der Wind war hier viel frischer als in der Stadt.

Sie verließen den Jahrmarkt wieder durch das gleiche Loch im Zaun. Den ganzen Rückweg über hatte Olivia die Bilder auf ihrer Kamera angesehen und zufrieden vor sich hin gelächelt.

Randy passierte als erster das Loch – und erstarrte. Neben Olivias Auto parkten zwei weitere. Ein goldener Chevrolet und ein dunkelblauer BMW. An Olivias Auto lehnte Pratt Thompkins – und er war nicht allein. Drei seiner Jungs hatten sich um den Wagen verteilt. Einer saß auf der Motorhaube, der andere stand neben Thompkins, und der Dritte lief gerade ums Auto und trat gegen die Reifen, als wolle er checken, ob die Karre was taugte. Dabei trat er versehentlich ein Stück höher und hinterließ eine fette Beule in der Tür.

»Mann, ich habe den Wagen gerade reparieren lassen!«, fluchte Olivia und kam neben Randy zum Stehen. »Was machen die denn hier?«

Thompkins lächelte und zündete sich eine Zigarette an. »Sieh mal an. Da will man für den Boss ein paar neue Locations checken und stößt dabei auf Harry und Sally.«

»Das ist doch das Huhn von neulich«, sagte der Typ rechts von Thompkins. Es war der Rothaarige mit der Wampe, der Danielle am Strand als Bitch bezeichnet hatte. »Die, die Bilder von dir geschossen hat?«

»Exakt. Wie sagt man so schön? Man trifft sich immer zweimal im Leben. Ach, nein. Stopp. Den Kleinen da sehe ich ja schon das dritte Mal.« Er blickte zu Randy. »Siehst wieder richtig fesch aus, Bübchen. Hast ja nicht mal ’ne Narbe behalten.«

»Was machen wir jetzt?«, fragte Randy leise, ohne den Blick von Olivia zu nehmen.

»Hast du dein Handy griffbereit?«

»Ja.«

Randys Hand glitt in seine Gesäßtasche. Er bewegte sich langsam, ließ es wie eine zufällige Bewegung aussehen. Thompkins bemerkte es dennoch. »Lass es besser, Bübchen. Hier ist zwar kein Fenster, aus dem ich dich werfen kann, aber mir fallen sicher ein paar andere nette Sachen ein.«

Olivia holte Luft und machte einen Schritt nach vorne. »Lass uns gehen.«

»Oder was?«

»Oder die Bilder, die ich von dir und deiner Bande am Crest Point geschossen haben, wandern …«

»In die Presse«, vervollständigte Thompkins Olivias Satz. »Ich denke eher nicht. Viel eher glaube ich, dass das damals ein Bluff war. So schnell hättest du nie im Leben die Bilder in ’ne Cloud laden können.«

Der Rothaarige lachte und entblößte dabei eine Zahnlücke. »Das war echt schlau von dir, aber zum Glück hat uns der Boss darauf hingewiesen.«

Thompkins rollte mit den Augen. »Halt die Klappe, du Idiot.« Er wendete sich wieder Olivia zu. »Wie hast du damals so schön zu mir gesagt? Eher friert die Hölle zu, bevor du die Fotos rausrückst.«

Olivia schnappte neben Randy nach Luft.

Thompkins zog an seiner Kippe und warf sie weg. Er kam auf sie zu, rotierte den Nacken, bis es krachte und rieb die Hände aneinander. »Schätze, soeben ist die Eiszeit angebrochen.«

»Scheiße«, sagte Olivia.

*