Handbuch des Strafrechts

Text
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

j) Versuch und Vorbereitung

52

Der versuchte Mord ist strafbar, da Mord ein Verbrechen ist, §§ 23 Abs. 1, 12 Abs. 1 StGB. Strafbar ist auch die versuchte Beteiligung an einem Mord gemäß § 30 StGB, also die versuchte Anstiftung zum Mord einschließlich versuchter Kettenanstiftung (§ 30 Abs. 1 StGB), die Bereiterklärung zur Begehung eines Mordes oder Anstiftung dazu (§ 30 Abs. 2 Alt. 1 StGB), die Annahme des Erbietens eines anderen zur Begehung eines Mordes oder Anstiftung dazu (§ 30 Abs. 2 Alt. 2 StGB) und die Verabredung zur Begehung eines Mordes oder Anstiftung dazu (§ 30 Abs. 2 Alt. 3 StGB). Strafbar ist des Weiteren die Anstiftung und die Beihilfe zum versuchten Mord (§§ 211, 22 StGB i.V.m. §§ 26, 27 StGB). Die Nichtvollendung kann darauf beruhen, dass der Todeserfolg ausgeblieben ist oder zwar eingetreten ist, aber kein Mordmerkmal erfüllt wurde.[249] In letzterem Fall trifft versuchter Mord mit vollendetem Totschlag zusammen. Strafbar ist auch der untaugliche Mordversuch. Theoretisch lässt sich der „grobe Unverstand“, der gemäß § 23 Abs. 3 StGB einer Versuchsstrafbarkeit nicht entgegenstehen soll, außer auf den Todeserfolg auch auf die Mordmerkmale beziehen, so z.B. wenn der Täter einen harmlosen Gegenstand für ein „gemeingefährliches Mittel“ hält. Dass nach dem Gesetz in einem solchen Fall eine lebenslange Freiheitsstrafe nicht obligatorisch ausgeschlossen ist, unterstreicht die Irrationalität des § 23 Abs. 3 StGB.[250] Das unmittelbare Ansetzen zur Verwirklichung des Mordtatbestandes richtet sich nach den Regeln der allgemeinen Versuchsdogmatik. Da Mord ein Qualifikationstatbestand ist, sind die Besonderheiten des Versuchsbeginns bei qualifizierten Delikten zu beachten. Erforderlich ist unmittelbares Ansetzen zur Verwirklichung des Grundtatbestandes.[251] Bezugspunkt des unmittelbaren Ansetzens ist also die Tötung. Unmittelbares Ansetzen zur Verwirklichung eines Mordmerkmals im Vorfeld des Tötungsversuchs begründet keinen Mordversuch. Beginnt z.B. der Täter das Opfer durch Ankündigung der erst für einen späteren Zeitpunkt geplanten Tötung seelisch zu quälen, ist das zwar bereits eine Grausamkeit, aber noch kein Mordversuch. Denn die Verwirklichung des Mordmerkmals muss synchron zu einer Tötungshandlung sein, die bereits die Grenze zwischen Vorbereitung und Versuch überschritten hat.[252] Rücktritt vom Mordversuch ist unter den Voraussetzungen des § 24 StGB möglich. Da die Konstruktion eines „Teilrücktritts“ bei qualifizierten Delikten anerkannt ist[253] und nach zutreffender Ansicht Mord eine Qualifikation des Totschlags ist, kann der Täter vom Mordversuch zurücktreten, ohne den Todeserfolg zu verhindern.[254] Strafbar ist er dann wegen vollendeten Totschlags, nicht aber wegen vollendeten oder versuchten Mordes. Ein solcher Fall liegt vor, wenn der im Versuchsstadium noch heimtückisch vorgehende Täter die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers letztendlich doch nicht ausnutzt, sondern die Tötung auf andere Weise ausführt. Eine andere Teilrücktritts-Variante beim Mordversuch ist der Austausch des im Versuchsstadium benutzten gemeingefährlichen Tötungsmittels gegen ein „schlichtes“ Tötungsinstrument ohne Gemeingefährlichkeit.

k) Sanktionen

53

Der Mord ist in § 211 Abs. 1 StGB mit „absoluter“ lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht. Eine Sanktionierung mit zeitiger Freiheitsstrafe ist nur möglich, wenn § 49 Abs. 1 StGB anzuwenden ist. Dazu bedarf es einer Verweisung auf § 49 Abs. 1 StGB aus einer anderen Vorschrift (zur „Rechtsfolgenlösung“ sogleich unter Rn. 54 ff.).[255] Solche Vorschriften sind §§ 13 Abs. 2, 17 S. 2, 21, 23 Abs. 2, 27 Abs. 2 S. 2, 30 Abs. 1 S. 2, 35 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 S. 2, 46b Abs. 1 S. 1 StGB. Im Fall des § 23 Abs. 3 und § 30 Abs. 1 S. 3 StGB wird auf § 49 Abs. 2 StGB verwiesen und deshalb eine erheblichere Strafrahmensenkung möglich. Beihilfe zum Mord (§§ 211, 27 StGB) wird also aus einem Strafrahmen von drei bis 15 Jahren geahndet, § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB. In den anderen Fällen, wie z.B. versuchter Mord (§§ 211, 22 StGB) oder Mord durch Unterlassen (§§ 211, 13 StGB) steht die Anwendung dieses Strafrahmens im Ermessen des Gerichts. Mehrfachmilderung ist möglich, wenn mehrere Milderungsgründe zusammentreffen, z.B. Beihilfe zum versuchten Mord (§§ 211, 22, 27 StGB) oder versuchter Mord durch Unterlassen (§§ 211, 13, 22 StGB). Nicht anwendbar ist beim Mord die Milderungsvorschrift des § 213 StGB. Der Gesetzestext ist insoweit eindeutig: mit dem Wort „Totschläger“ wird allein an § 212 StGB angeknüpft.[256] Daran ändert auch nichts der Umstand, dass Mord ein Qualifikationstatbestand im Verhältnis zum Totschlag ist.

l) „Rechtsfolgenlösung“

54

Unter den zahlreichen Vorschlägen zur Erfüllung des verfassungsrechtlichen und verfassungsgerichtlichen Auftrags zu gerechter und verhältnismäßiger Anwendung des § 211 StGB im Einzelfall nimmt die vom Großen Senat für Strafsachen entwickelte „Rechtsfolgenlösung“ eine herausragende Stellung ein. Das ist nicht etwa ein Urteil über die außerordentliche Qualität des Entscheides, sondern lässt sich z.B. mit Art und Umfang des Echos begründen, das der Große Senat mit seiner Kreation in der Literatur ausgelöst hat. Kaum eine höchstrichterliche Entscheidung in Strafsachen hat dermaßen heftige und kontroverse Reaktionen auf sich gezogen wie das Urteil vom 19. Mai 1981.[257] Vorgelegt hatte der 4. Strafsenat dem Großen Senat gemäß § 137 GVG die Rechtsfrage: „Ist im Hinblick auf die Entscheidung BVerfGE 45, 187 das Mordmerkmal der Heimtücke entgegen den Entscheidungen des Großen Senats für Strafsachen BGHSt 9, 385 und 11, 139 zu verneinen, wenn der Täter zur Tat dadurch veranlasst worden ist, dass das Opfer ihn oder einen nahen Angehörigen schwer beleidigt, misshandelt und mit dem Tod bedroht hat, und die Tatausführung über die bewusste Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers hinaus nicht besonders verwerflich (tückisch oder hinterhältig) ist?“[258] Gegenstand des Verfahrens vor dem 4. Strafsenat war eine Tötungstat, die in geradezu idealer Weise demonstriert, welche Vorgehensweise mit „Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit“ gemeint ist: der Angeklagte hatte seinen Onkel in einer Gastwirtschaft erschossen, während dieser mit anderen Männern beim Kartenspiel an einem Tisch saß und dem Täter dabei den Rücken zuwandte. Der Getötete hatte sich offenbar nicht zu seinem Neffen umgedreht, als dieser die Pistole zog und 14 bis 16 Schüsse auf seinen Onkel feuerte. Zuvor hatte der Angeklagte seinen Onkel gegrüßt und sich an die Theke gestellt. Der Onkel aber widmete seine ungeteilte Aufmerksamkeit dem Kartenspiel.[259] Es war daher nicht überraschend, dass das Schwurgericht den Angeklagten wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt hatte. Der 4. Strafsenat des BGH hatte indessen Bedenken, dieses Urteil zu bestätigen, weil er vor dem Hintergrund der Entscheidung des BVerfGE 45, 187 die Verhältnismäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe nicht gewahrt sah. Der Fall ähnelte nämlich in seinen Einzelheiten der Beschreibung, die das Bundesverfassungsgericht beispielhaft für eine Tötungstat gegeben hatte, bei der der Täter zwar die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers ausnutzt und dennoch Heimtücke verneint werden müsse: der Täter war ohne eigene Schuld durch eine ihm oder einem Angehörigen von dem später Getöteten zugefügte Misshandlung, schwere Beleidigung oder Todesdrohung zu der Tat veranlasst worden und die Art seiner Tatausführung war nicht Ausdruck von Verschlagenheit.[260] Der getötete Onkel hatte die Ehefrau des Täters in dessen Wohnung mit vorgehaltener Pistole bedroht und vergewaltigt. Die Ehe des Täters wurde durch dieses Ereignis schwer belastet, ohne dass der Ehemann den Grund für die Veränderung der Beziehung seiner Frau zu ihm kannte. Erst ein Dreivierteljahr später offenbarte die Ehefrau ihrem Mann, was geschehen war. In der Folgezeit unternahm die Ehefrau drei Suizidversuche. Über ein Jahr nach der Vergewaltigung traf der Ehemann seinen Onkel auf der Straße und forderte von diesem die Rückzahlung eines Restdarlehens. Der Angesprochene reagierte darauf aggressiv und höhnisch, beleidigte den Neffen aufs Schwerste und drohte ihm an ihn zu töten. Er riet dem Neffen, er solle nach Hause gegen, er lebe „noch zwei Wochen, zwei Tage oder zwei Stunden“. Daheim fasste der Angeklagte den Entschluss zur Tötung seines Onkels und begab sich sodann mit seiner Selbstladepistole zu dem Lokal, wo er seinen Onkel sodann erschoss.[261]

 

55

Der 4. Strafsenat kam zu der Auffassung, dass im Licht der vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätze die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe nicht zu rechtfertigen sei. Zwar fühlte er sich durch die entgegengesetzten Entscheidungen des Großen Senats für Strafsachen BGHSt 9, 385 und BGHSt 11, 139 nicht gebunden. Diese hätten infolge der zwischenzeitlichen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ihre Verbindlichkeit verloren. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Vorlegungsfrage sei zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung aber eine Entscheidung des Großen Senats geboten.[262] Der Große Senat für Strafsachen nimmt zu zwei Lösungsansätzen im Ergebnis ablehnend Stellung, die im Schrifttum zur Einschränkung des Anwendungsbereichs der lebenslangen Freiheitsstrafe bevorzugt würden und auf die auch das Bundesverfassungsgericht hingewiesen hatte: Zum einen die mordmerkmalsübergreifende „Typen- oder Tatbestandskorrektur“, bei der auf Grund einer umfassenden Gesamtwürdigung das Urteil gefunden wird, dass die Tat nicht besonders verwerflich erscheine. Zum anderen die allein das Mordmerkmal „Heimtücke“ betreffende Restriktion durch Hinzufügung des Kriteriums eines „verwerflichen Vertrauensbruchs“.[263] Der entscheidende Mangel der „Typenkorrektur“ sei das Fehlen fester Maßstäbe für die Gesamtwürdigung, von der die Feststellung, ob der Tatbestand des Mordes erfüllt ist oder nicht, abhängen soll. Die „besondere Verwerflichkeit“ sei ein Kriterium von generalklauselartiger Weite und Vagheit. Berechenbarkeit und Gleichmäßigkeit der Strafrechtsanwendung im Tatbestandsbereich ließen sich mit einem solchen Maßstab nicht gewährleisten. Welches Gewicht der Erfüllung eines Mordmerkmals zukomme, sei in der Gesamtwürdigung völlig ungewiss.[264] Nicht weniger unsicher gestalte sich die Prüfung der Tatbestandsmäßigkeit, wenn das Mordmerkmal „Heimtücke“ von einem „verwerflichen Vertrauensbruch“ abhängen würde. Zudem berge dieses Kriterium die Gefahr, dass der Mordtatbestand in Einzelfällen unangemessen eingeschränkt würde. Der Große Senat empfände es als unerträglich, „den Überfall auf einen Ahnungslosen allein deshalb nicht als heimtückisch anzusehen, weil Täter und Opfer bis dahin in keiner persönlichen Beziehung zueinander gestanden haben“.[265]

56

Der Große Senat konstatiert, dass es Fälle heimtückischer Tötung gebe, deren Schuldgehalt in einem Maße gemindert ist, das die lebenslange Freiheitsstrafe als unverhältnismäßige Sanktionierung erscheinen lasse. Auf der Tatbestandsebene könne dieses Übermaß nicht vermieden werden, auch nicht durch eine Verschärfung der Anforderungen an den „inneren Tatbestand“.[266] Deswegen sei der einzige Ausweg eine Lösung auf der Sanktionsebene: „Die absolute Strafdrohung für Mord (§ 211 Abs. 1 StGB) schließt Zumessungserwägungen aus. Die verfassungskonforme Rechtsanwendung gebietet ihre Ersetzung durch einen für solche Erwägungen offenen Strafrahmen, wenn die Tatmodalität der heimtückischen Begehungsweise mit Entlastungsmomenten zusammentrifft, die zwar nicht nach ausdrücklicher gesetzlicher Regelung zu einer milderen Strafdrohung führen, auf Grund welcher die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe aber als mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar erscheint. Allerdings kann nicht jeder Entlastungsfaktor, der nach § 213 StGB zur Annahme eines minder schweren Falles zu führen vermag, genügen. § 213 StGB ist dem Tatbestand des Totschlags zugeordnet. Deshalb und weil nach dieser Vorschrift eine Privilegierung verhältnismäßig leicht zu erreichen ist, kann ihr nicht der passende Maßstab entnommen werden. Vielmehr kann das Gewicht des Mordmerkmals der Heimtücke nur durch Entlastungsfaktoren, die den Charakter außergewöhnlicher Umstände haben, so verringert werden, dass jener ‚Grenzfall‘ (BVerfGE 45, 187, 266, 267) eintritt, in welchem die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe trotz der Schwere des tatbestandsmäßigen Unrechts wegen erheblich geminderter Schuld unverhältnismäßig wäre.“[267]

57

Die „Ergänzung der Rechtsfolgenseite des Mordparagraphen“ verdiene gegenüber anderen Lösungen den Vorzug, weil sie den Tatbestand der Heimtücke nicht weiter einenge und daher Bestimmtheit und Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung nicht in Frage stelle. Die tatbestandliche Abgrenzung von Mord und Totschlag werde somit allein von gesetzlichen Merkmalen bestimmt. Mit „Ergänzung der Rechtsfolgenseite“ meint der Große Senat die Anwendung des Strafrahmens des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Dass der Zugang zu diesem Strafrahmen durch generalklauselartige Kriterien eröffnet werde, sei unbedenklich. Das werde durch § 212 Abs. 2 und § 213 Alt. 2 StGB bestätigt.[268] Die Legitimation zur Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB ankere in den gesetzlichen Milderungsvorschriften, die auf § 49 Abs. 1 StGB verweisen. „In Fällen, in denen auf Grund besonderer gesetzlicher Milderungsgründe Strafmilderung vorgeschrieben oder zugelassen ist, tritt an die Stelle lebenslanger Freiheitsstrafe eine Freiheitsstrafe von drei bis fünfzehn Jahren (§ 49 Abs. 1 Nr. 1, § 38 Abs. 2 StGB). Vom Gesetz nicht in die Regelung des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB einbezogenen außergewöhnlichen Umständen, auf Grund welcher die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe als unverhältnismäßig erscheint, kann keine geringere Wirkung als den gesetzlichen Milderungsgründen beigemessen werden, die sich (wie etwa in Fällen des § 13 Abs. 2, des § 17 S. 2 oder des § 21 StGB) aus der Berücksichtigung bestimmter schuldmindernder Umstände ergeben. Sie führen infolgedessen ebenfalls zur Anwendung des Strafrahmens des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB, und zwar zwingend, weil das verfassungsrechtliche Übermaßverbot keine Ausnahmen kennt. Dieser Strafrahmen gestattet es, dem Bewertungsgegensatz, der sich daraus ergibt, dass einerseits das Mordmerkmal der Heimtücke vorliegt, andererseits schuldmindernde Umstände von Gewicht gegeben sind, in jeder Ausprägung, die er im Einzelfall erfährt, Rechnung zu tragen.“[269]

58

Methodologisch handelt es sich bei der Inaugurierung der Rechtsfolgenlösung um eine nach Ansicht des Großen Senats zulässige richterliche Rechtsfortbildung: „Auf Grund der Wertvorstellungen der Verfassung und des sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit hat das Bundesverfassungsgericht eine Regelungslücke festgestellt, die zwar nicht als ursprüngliche ‚planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes‘ angesehen werden kann, die aber einer solchen Unvollständigkeit auf Grund eines Wandels der Rechtsordnung gleichzuachten ist. Die Behebung dieser Lücke hat das Bundesverfassungsgericht dem Bundesgerichtshof überlassen. Dem Großen Senat für Strafsachen ist es nicht verwehrt, sie dadurch zu schließen, dass er in Heimtückefällen auf der Rechtsfolgenseite des Mordes (§ 211 Abs. 1 StGB) an die Stelle der lebenslangen Freiheitsstrafe den Strafrahmen des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB treten lässt, wenn außergewöhnliche Umstände vorliegen, die das Ausmaß der Täterschuld erheblich mindern.“[270]

59

Die Entscheidung des Großen Senats löste heftige Reaktionen aus.[271] Der Befreiungsschlag aus der starren Sanktionsregelung des § 211 Abs. 1 StGB wurde zwar als ein Schritt in die richtige Richtung begrüßt.[272] Kritisiert wurde aber die Anmaßung legislativer Kompetenz durch die Judikative.[273] Obwohl diese Lösung auch Befürworter gewonnen hat,[274] ist sie eine auf Dauer inakzeptable Notlösung.[275] Die Gesetzgebung ist aufgerufen, die vielversprechenden Ansätze aus der Reformdebatte der Jahre 2014 bis 2016 zum Abschluss zu bringen.[276]

m) Mordähnlicher besonders schwerer Fall des Totschlags (§ 212 Abs. 2 StGB)

60

Die aktuelle Fassung des § 211 StGB verstößt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht gegen das Grundgesetz. Seit diesem Urteil sind vier Jahrzehnte vergangen und die „Rechtsfolgenlösung“ ist nicht das einzige Indiz dafür, dass das Bundesverfassungsgericht sich geirrt und die Fähigkeit der Rechtsprechung zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebots bei der Behandlung vorsätzlicher Tötungen überschätzt hat. Aber die begründeten Bedenken, denen § 211 StGB ausgesetzt ist, sind Petitessen verglichen mit der krassen Abweichung des § 212 Abs. 2 StGB von der Verfassung.[277] Der Rechtsprechung zu erlauben, einen Totschlag mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu ahnden, weil er ein „besonders schwerer Fall“ ist und sich jeglicher gesetzlicher Konkretisierung der „besonderen Schwere“ zu enthalten, ist schwerstes gesetzgeberisches Versagen.[278] Die mindeste Schadensbegrenzung, die von der Gesetzgebung zu verlangen ist, wäre die Flexibilisierung der Rechtsfolgenseite: „… ist auf lebenslange Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren zu erkennen“. Der ganz schwere Mangel – die „Unbenanntheit“ des besonders schweren Falles – könnte zwar durch einen Regelbeispielskatalog gemildert werden. Jedoch käme dann sogleich die berechtigte Frage auf, mit welcher sachlichen Berechtigung zwischen Merkmalen, die zwingend zur lebenslangen Freiheitsstrafe führen (§ 211 Abs. 2 StGB), und Merkmalen, die nur eine durch Gesamtwürdigung entkräftbare Indizwirkung haben, unterschieden wird. Die Literatur verschließt die Augen, weil das Bundesverfassungsgericht der Norm sein Attest gegeben hat: „Die Vorschrift ist mit dem Grundgesetz vereinbar“.[279] Wer diesen Standpunkt einnimmt, sollte sich der Aufgabe widmen, der Rechtsprechung das zu geben, was der Gesetzgeber ihr nicht gegeben hat, nämlich einen Katalog subsumtionsfähiger Beispiele der besonderen Schwere.[280]

3. Aussetzung

a) Geschichte

61

 

Die Strafvorschrift § 221 StGB ist seit 1871 Bestandteil des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs.[281] Die einschneidendste Umgestaltung erfuhr die Norm durch das 6. Strafrechtsreformgesetz von 1998. Im Grundtatbestand § 221 Abs. 1 StGB wurde der einstmals geschlossene Kreis geschützter potentieller Opfer („eine wegen jugendlichen Alters, Gebrechlichkeit oder Krankheit hilflose Person“) geöffnet. Die zweite Handlungsalternative „in hilfloser Lage verlässt“ wurde ersetzt durch „in einer hilflosen Lage im Stich lässt“. Dadurch beendete der Gesetzgeber einen jahrzehntelangen Streit um die Auslegung des Merkmals „verlässt“.[282] Dazu hatte der 1. Strafsenat des BGH im Jahr 1991 entschieden, dass „Verlassen in hilfloser Lage“ eine „örtliche Änderung der Beziehung zwischen dem Obhutspflichtigen und der hilflosen Person“ voraussetze[283], nachdem das Landgericht Ingolstadt als Vorinstanz sich der im Schrifttum vertretenen Ansicht angeschlossen hatte, wonach es für ein Verlassen im Sinne des § 221 Abs. 1 StGB nicht eines räumlichen Sich-Entfernens bedürfe, sondern ein sonstiges Im-Stich-lassen der hilflosen Person genüge.[284] Erheblich verändert wurden die Aussetzungsqualifikationen § 221 Abs. 2, Abs. 3 StGB sowohl auf der Tatbestands- als auch auf der Rechtsfolgenseite. Unverändert straflos blieb der Versuch der grundtatbestandsmäßigen Aussetzung. Der Streit um die Möglichkeit eines strafbaren erfolgsqualifizierten Aussetzungsversuchs wurde dadurch perpetuiert.[285]

b) Systematik

62

Die Aussetzung ist ein Delikt, das auf der Ebene des Grundtatbestandes als konkretes Gefährdungsdelikt[286] in zwei Alternativen in Erscheinung tritt: Versetzen des Opfers in eine hilflose Lage (§ 221 Abs. 1 Nr. 1 StGB) und Imstichlassen des Opfers in hilfloser Lage (§ 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB). Der Versuch ist nicht mit Strafe bedroht, vgl. §§ 23 Abs. 1, 12 Abs. 2 StGB. In Absatz 2 normiert § 221 StGB zwei Qualifikationstatbestände mit Verbrechensqualität (§ 12 Abs. 1 StGB): Tatbegehung durch Vater oder Mutter gegen das eigene Kind bzw. durch einen für Erziehung oder Betreuung zuständigen Beschützergaranten gegen den eigenen Schützling (Nr. 1) sowie Verursachung einer schweren Gesundheitsschädigung des Opfers (Nr. 2). Jedenfalls bei Nr. 1 ist der Versuch strafbar, §§ 23 Abs. 1, 12 Abs. 1 StGB.[287] Eine weitere (Erfolgs-)Qualifikation mit Verbrechensqualität regelt Absatz 3. Verursacht die Aussetzung den Tod des Opfers, ist die Strafe Freiheitsstrafe von drei bis 15 Jahren (§ 38 Abs. 2 StGB). Der Versuch dieses erfolgsqualifizierten Delikts ist zweifelsfrei dann strafbar, wenn die Tat zugleich die Voraussetzungen des § 221 Abs. 2 Nr. 1 StGB erfüllt.