Handbuch des Strafrechts

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e) Mordmerkmale § 211 Abs. 2 StGB – 1. Gruppe

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Die Mordmerkmale der 1. Gruppe leiten ihren extremen Strafwürdigkeitsgehalt aus den Beweggründen des Täters ab. Vereinzelt wurde in der Literatur der Versuch gemacht, als allgemeingültiges Wesenselement jedes Mordes das krasse Missverhältnis zwischen dem Mittel „Tötung“ und dem damit verfolgten Zweck zu bestimmen.[98] Schon die Mordmerkmale der ersten Gruppe zeigen jedoch, dass in dieses Prokrustesbett allenfalls Teile der vielfältigen Mordkasuistik passen.[99] Beispielsweise hätte in konsequenter Umsetzung des Prinzips die Tötung zur Erlangung eines geringen Geldbetrages einen höheren Strafwürdigkeitsgrad als der Raubmord, bei dem der Täter einen Millionär tötet, um sich dessen Vermögen anzueignen. Um sich klar zu machen, dass dies nicht richtig ist, braucht man nur die Tat eines Notleidenden zu betrachten, der sich durch Tötung in den Besitz von Lebensmitteln setzt, um dem Hungertod zu entgehen. Dieser Tatbeweggrund würde nicht einmal das Merkmal „Habgier“[100] erfüllen und wäre schon gar nicht als „sonstiger niedriger Beweggrund“ mordtatbestandsmäßig.

aa) Mordlust

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Als Tötung aus Mordlust gilt eine Tat ohne jeden über die Lebensvernichtung hinausgehenden Zweck.[101] Mordlust bedeutet Tötung um des Tötens willen, Töten aus Freude am Töten.[102] Tötung aus Mordlust kann nur eine mit direktem Tötungsvorsatz begangene Tat sein.[103] Versuchten Mord aus Mordlust hat der BGH in einem Fall auf Grund folgender Umstände angenommen: „… Er (der Angeklagte) empfand diesen abgelegenen und verlassenen Ort als unheimlich und dachte bei sich, wenn man hier jemanden umbringen würde, würde es niemand hören und bemerken. Danach ging er zur Bahnhofshalle zurück und setzte sich auf eine Bank im Gang der zu diesem Zeitpunkt menschenleeren Bahnhofshalle. Er erinnerte sich an einen Zeitschriftenartikel, in dem über die Tötung einer alten Frau durch zwei Jugendliche berichtet worden war, und dachte bei sich, wenn er einmal so etwas mache, dann mache er es so, dass man ihn nicht erwische. Als der Angeklagte am Ende dieser Überlegungen gerade von der Bank aufstehen wollte, ging die damals 21 Jahre alte W. an ihm vorbei zur Toilette. Als er die junge Frau sah, dachte er bei sich, jetzt oder nie, und meinte dabei bei sich selbst, entweder bringe er diese Frau jetzt um oder er lasse es überhaupt bleiben. Er entschloß sich dann, das Mädchen zu töten, wobei er sich ausschließlich von dem Willen leiten ließ, einen Menschen vom Leben zum Tode zu befördern. Diesen Vernichtungshass vermochte der Angeklagte trotz des Zusammenwirkens seiner Alkoholisierung und seiner seelischen Abartigkeit zu erfassen. Er wartete einen Augenblick und ging dann ebenfalls die Treppe zur Toilette hinunter. In der Damentoilette packte er das am Waschbecken stehende Mädchen mit beiden Händen fest am Hals, um es zu erwürgen …“[104] Der Senat hob hervor, dass der Angeklagte einen Menschen töten wollte, „der ihm nicht den geringsten Anlass zur Tat gegeben hat“. Er habe die Tat „aus reiner Freude an der Vernichtung eines Lebens“ begangen.[105]

bb) Zur Befriedigung des Geschlechtstriebs

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Tötungen zur Befriedigung – nicht: zur Erregung[106] – des Geschlechtstriebs sind durch die sexuelle Instrumentalisierung – Verdinglichung – des Opfers geprägt. Der Täter sucht die Triebbefriedigung entweder in dem Tötungsakt selbst oder durch sexuelle Handlungen an der Leiche, nachdem er das Opfer zuvor zu diesem Zweck getötet hat, oder in einer mit bedingtem Tötungsvorsatz begangener Vergewaltigung.[107] Nach der Rechtsprechung des BGH sei das Mordmerkmal sogar erfüllt, wenn der Täter die Tötung des Opfers filmt, um später beim Anschauen des Videos zu masturbieren: „Am 12. März 2001 nahm der Angeklagte zum ersten Mal Fleisch vom Körper des B. in gebratener Form zu sich. Nach der Mahlzeit schaute er sich den von ihm aufgezeichneten Videofilm mindestens einmal an und onanierte dabei.“[108] Dazu bemerkt der Senat: „Will der Täter die Befriedigung des Geschlechtstriebs erst bei der späteren Betrachtung des Videos vom Tötungsakt und den Umgang mit der Leiche finden, so erfüllt dieses Motiv das Mordmerkmal ebenfalls. Der Wortlaut des Gesetzes enthält keine Begrenzung auf die bisher entschiedenen Fallgestaltungen. Das Gesetz sieht vielmehr die Tötung zur Befriedigung des Geschlechtstriebs als besonders verwerflich an, weil der Täter das Leben eines Menschen der Befriedigung seiner Geschlechtslust unterordnet.“[109] Dass zwischen der Tötung und der Benutzung des Videofilms zur Erreichung sexueller Befriedigung eine erhebliche Zeitspanne liegt, stehe der Erfüllung des Mordmerkmals nicht entgegen.[110] Auch wenn diese Sichtweise im Gesetzeswortlaut eine Stütze hat, ist die im „Kannibalen-Fall“ daraus geschlussfolgerte Bejahung des Mordmerkmals falsch. Die Höchststrafwürdigkeit der Tat setzt nämlich bei allen Mordmerkmalen ein Handeln gegen den Willen des Opfers voraus. Handelt der Täter bei seiner sexuell motivierten Aktion mit tödlichem Ausgang im Einvernehmen mit seinem Opfer, kann von einer „Verdinglichung des Opfers“[111] keine Rede sein. Jedenfalls solange § 211 StGB keine andere Sanktion als die „absolute“ lebenslange Freiheitsstrafe androht, ist eine restriktive Auslegung der Tatbestandsmerkmale geboten.[112]

cc) Habgier

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Habgier ist das Streben nach Mehrung des eigenen Güterbestandes bzw. Vermögens.[113] Diese Intention ist isoliert gesehen nicht verwerflich. Gewinne zu erzielen ist eine unabdingbare Voraussetzung für das Funktionieren einer dynamischen Wirtschaft, die das Kernstück kapitalistischer Gesellschaftssysteme westlichen Musters ist. Rechtlich akzeptabel sind aber nur faire und rechtskonforme Methoden der Vermögensmehrung. Es müssen die „Spielregeln“ des Wettbewerbs eingehalten werden. Bei Bestehen eines Anspruchs auf die Vermögensmehrung gibt es in einem Rechtsstaat legale Mittel zur Erlangung des begehrten Objekts. Töten um der Vermögensmehrung willen geschieht deshalb überwiegend, wenn der legale Weg zum Ziel versperrt ist, weil das Objekt einem anderen zusteht und das Recht den Zugriff darauf verbietet. Der typische Mord aus Habgier ist deshalb der Raubmord.[114] Generell setzt das Mordmerkmal Habgier voraus, dass die erstrebte Bereicherung eine rechtswidrige ist. Wer einen Anspruch gegen den leistungsunwilligen Schuldner eigenmächtig mit Gewalt durchzusetzen versucht und bei der Auseinandersetzung dem Gegner mit bedingtem Tötungsvorsatz eine tödliche Verletzung zufügt, hat einen Totschlag begangen, aber keinen Mord.[115] Umstritten ist, ob als „Habgier“ auch die Abwehr der Durchsetzung von Forderungen, als Mord also die Tötung des Anspruchsberechtigten, qualifiziert werden kann. Beispielhaft ist etwa die Tötung des eigenen Kindes oder der geschiedenen Ehefrau, um die Last der Unterhaltsverpflichtung abzuwälzen.[116] Vgl. BGHSt 10, 399: „Der Angeklagte hat Th. G. zu töten versucht, um von der Unterhaltslast für das von ihr erwartete Kind freizukommen. Hierin findet das Schwurgericht ein Handeln aus Habgier“. Für die Einbeziehung in das Mordmerkmal spricht, dass der Gesamtwert des Vermögens nicht nur durch Zufluss von Gütern, sondern auch durch die Verhinderung von Verlusten erhöht werden kann. So sieht es auch der BGH: „Habgier bedeutet nach allgemeinem Sprachgebrauch ein übertriebenes Streben nach wirtschaftlichen Vorteilen. Wer nicht einmal davor zurückschreckt, ein Menschenleben aus diesem Beweggrunde zu töten, der zeigt ein Gewinnstreben, das in seiner Rücksichtslosigkeit das gewöhnliche Maß weit übersteigt. … Hierbei kann es nicht darauf ankommen, ob der Täter einen tatsächlichen Gewinn erzielen oder nur Aufwendungen vermeiden will. Denn in beiden Fällen geht er in der gleichen rücksichts- und gewissenlosen Weise darauf aus, seine Vermögenslage zu verbessern.“[117] Allerdings ist im Fall der Aufwendungsvermeidung das Ziel des Täters nicht „mehr“, sondern nur „nicht weniger“ Vermögen als er vor der Tat tatsächlich hat. Der Täter will einen Verlust abwenden, einen Vermögenszuwachs erstrebt er nicht. Eine beabsichtigte Vermögensmehrung kann man lediglich bei Zugrundelegung des hypothetischen – geringeren – Vermögens nach Erfüllung der Forderung bejahen. Gewiss folgt daraus nicht zwingend ein geringerer Strafwürdigkeitsgehalt. Zu bedenken ist aber, dass der Mordtatbestand restriktiv ausgelegt werden muss, und zwar in Bezug auf alle Mordmerkmale. Da selbst nach dem BGH nicht jedes, sondern nur „übertriebenes“ Streben nach wirtschaftlichen Vorteilen das Strafwürdigkeitsniveau des Mordes erreicht, sollte Habgier im Falle der Tötung zur Abwendung einer Vermögensbelastung verneint werden.

dd) Sonstige niedrige Beweggründe

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Das Mordmerkmal „sonstige niedrige Beweggründe“ ist eine Generalklausel und ein Auffangbecken für alle unbenannten niederen Tötungsmotivationen. Ihre Unbestimmtheit lässt diese Generalklausel im Lichte des Art. 103 Abs. 2 GG als schwer erträglich erscheinen. Auf der anderen Seite ist sie das einzige Mordmerkmal, das die Entscheidung über lebenslange Freiheitsstrafe auf eine Gesamtwürdigung stellt, in der mildernde Umstände einbezogen werden können, die neben anderen Mordmerkmalen keine Chance auf Berücksichtigung haben.[118] Die Umstände und Vorgeschichte der Tat einschließlich des Opferverhaltens, die Lebensumstände und die Persönlichkeit des Täters strahlen ab auf die Gesamtbewertung der Antriebe, die den Täter zu der Tötung gedrängt haben.[119] Der Konstruktionsfehler der gesamten Mordvorschrift wird dadurch tatbestandsintern bestätigt.[120] Denn jeder Entscheidung sollte die Würdigung aller relevanten Aspekte vorausgehen, gleich welches Mordmerkmal durch die Tat verwirklicht worden ist. Gelingen kann dies jedoch weder durch Vermehrung noch durch Verringerung der Mordmerkmale im Tatbestand, sondern allein durch Öffnung der Sanktionsseite. Umstände, die der „Niedrigkeit“ der Beweggründe entgegenstehen, vermögen Habgier oder Heimtücke oder gemeingefährliche Tötungsmittel nicht auszuschließen, nehmen aber der Tat insgesamt den Charakter als höchststrafwürdige Kriminalität. Für Fälle dieser Art muss es eine neben der lebenslangen Freiheitsstrafe gesetzlich angedrohte zeitige Freiheitsstrafe geben, bei deren Bemessung die mildernden Umstände angemessen berücksichtigt werden können. Dieses Minimum jeder Reformbemühung wäre in der 18. Legislaturperiode des Bundestages ohne weiteres erreichbar gewesen. Umso bedauerlicher ist, dass die regierenden Parteien sich nicht einmal auf diese bescheidene Gesetzeskorrektur verständigen konnten (siehe oben Rn. 2 ff.).

 

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Mangels gesetzlichen Maßstabs liegt die Definition der tatbestandsmäßigen Beweggründe, d.h. die Festlegung der Niedrigkeits-Kriterien, in richterlicher Verantwortung. Mit Unterstützung durch die Strafrechtswissenschaft, die gewisse Leitlinien entwickelt,[121] baut die Rechtsprechung an einer Kasuistik, die dem unbenannten Merkmal allmählich Konturen verleiht und die Unberechenbarkeit der Entscheidung mildert.[122] Aus der Vielzahl der Vorschläge und Fälle ein Einheitsprinzip herauszuarbeiten, ist allerdings unmöglich.[123] Entweder ist es zu abstrakt und nichtssagend oder es vermag der Vielfalt und Verschiedenheit nicht gerecht zu werden. Die Rechtsprechung hält eisern an einer tautologischen[124] Leerformel fest: „Sonstige niedrige Beweggründe sind solche, die nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen, durch hemmungslose Eigensucht bestimmt und deshalb besonders verachtenswert sind.“[125] Allgemein wird man die relevante „Niedrigkeit“ als ein krasses Missverhältnis zwischen dem Unrechtsgewicht der vorsätzlichen Vernichtung eines Menschenlebens und den Gründen, die der Täter für seine Tat anführt, charakterisieren können. Eine Tötung nicht zu begehen, setzt ausreichendes Hemmungsvermögen voraus. Die zur Tat drängenden Antriebe müssen zurückgedrängt werden. Da kaum eine Tötung ohne jeden Grund begangen wird und das Hemmungsvermögen mit den Gründen korreliert, bedarf es je nach Grund unterschiedlich großer psychischer Anstrengungen, die Tat nicht zu begehen. Niedrig ist der Beweggrund, wenn diese Anstrengung extrem gering ist und der Täter deswegen keinerlei Verständnis verdient. Extrem gering ist die Anstrengung, wenn der Grund, den der Täter für seine Tat hat, geradezu „lächerlich“ ist.[126] Da die Anstrengungsbereitschaft oder Anstrengungsfähigkeit des Täters gleichwohl nicht ausgereicht hat, ist diese Beurteilung nicht aus der Sicht des Täters, sondern von objektiver Warte zu treffen. Nicht der Täter misst die Niedrigkeit der Beweggründe, sondern die Rechtsgemeinschaft, im konkreten Fall also letztlich das Gericht.

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Schon die Charakterisierung der drei ersten Mordmerkmale der 1. Gruppe als „gesetzliche Beispiele niedriger Beweggründe“[127] deuten an, dass es um diese benannten Beweggrundmerkmale herum einen Bereich gibt, in dem Fälle mit großer Ähnlichkeit angesiedelt sind.[128] Obwohl diese Fälle das benannte Mordmerkmal nicht vollständig erfüllen, können sie auf Grund ihrer Ähnlichkeit den gleichen Strafwürdigkeitsgehalt aufweisen und deshalb Mordstrafbarkeit rechtfertigen. Soweit es sich um motivationale Umstände handelt, kommen die sonstigen niedrigen Beweggründe als Auffangbecken in Betracht. Die Anerkennung der „mordmerkmalsähnlichen niedrigen Tatsachen“ gilt daher auch als dem Grunde nach unproblematisch.[129] Beispielsweise fällt die Tötung zur Erregung des Sexualtriebs nicht unter „zur Befriedigung des Geschlechtstriebs“, wohl aber unter „sonst niedrige Beweggründe“. In dem Gesetzesentwurf von Eser (oben Rn. 2 ff.) sind deshalb die Intention der Erregung und der Befriedigung des Geschlechtstriebs als Regelbeispiele eines besonders schweren Falls gleichgestellt.[130]

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Vor eine besondere Wertungsaufgabe stellt das Beweggrund-Mordmerkmal die Schwurgerichte auf Grund der Zunahme von zugewanderten Tatverdächtigen (mit „Migrationshintergrund“), deren Einstellung zur Achtung des Lebens von Mitmenschen durch die Aneignung von Werten in einem fremden sozio-kulturellen Lebensraum geprägt worden ist. In Fällen der Tötung als „Ehrenmord“ oder „Blutrache“ stellt sich das Problem, welcher Maßstab der Bewertung als „niedrig“ zugrunde zu legen ist und welche Bedeutung der Umstand hat, dass der Tatverdächtige in seinem Herkunftsland und somit während seiner Adoleszenz von diesem Maßstab abweichenden Einflüssen ausgesetzt war.[131] Im Ausgangspunkt müssen die in der Bundesrepublik Deutschland vorherrschenden Wertvorstellungen maßgebend sein.[132] Dies hat der 2. Strafsenat in einer Blutrache-Entscheidung folgendermaßen ausgedrückt: „Der Maßstab für die Bewertung eines Beweggrundes ist den Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland zu entnehmen, vor deren Gericht sich der Angekl. zu verantworten hat, und nicht den Anschauungen einer Volksgruppe, die die sittlichen und rechtlichen Werte dieser Rechtsgemeinschaft nicht anerkennt. Tötung aus Blutrache, bei der sich der Täter seiner ‚persönlichen Ehre und der Familienehre‘ wegen gleichsam als Vollstrecker eines von ihm und seiner Familie gefällten Todesurteils über die Rechtsordnung und einen anderen Menschen erhebt, ist als besonders verwerflich und sozial rücksichtslos anzusehen. Besonders in einer Rechtsgemeinschaft, die das Lebensrecht des Menschen so hoch einschätzt, dass sie es auch einem Täter nicht aberkennt, der denkbar schwerste verbrecherische Schuld auf sich geladen hat, ist Tötung aus dem Motiv der Blutrache in der Regel in höchstem Maße verwerflich und begründet die Annahme niedriger Beweggründe“.[133] Die Entscheidung des Einzelfalls hat indessen die Person des Angeklagten zu würdigen und darf dabei nicht daran vorbeigehen, dass dem Angeklagten bei Begehung der Tat das geringe Maß an Hemmungsvermögen, das zur Vermeidung einer Tötung aus „niedrigen“ Gründen erforderlich ist, tatsächlich nicht zur Verfügung stand: „Wurde der einem fremden Kulturkreis – der Blutrache duldet oder gar fordert – entstammende Täter noch derart stark von den Vorstellungen und Anschauungen seiner Heimat beherrscht, dass er sich von ihnen zur Tatzeit aufgrund seiner Persönlichkeit und der gesamten Lebensumstände nicht lösen konnte, dann kann ausnahmsweise auch bei einer Tötung aus Blutrache eine Verurteilung lediglich wegen Totschlages in Betracht kommen.“[134] Da die Ahndung allein auf der Basis und im Rahmen der Tatschuld zulässig ist, darf bei einem schon längere Zeit in Deutschland lebenden Tatverdächtigen auf unzureichende Anpassung an und Internalisierung von hier herrschenden Wertungen nur sehr zurückhaltend abgestellt werden.[135]

f) Mordmerkmale § 211 Abs. 2 StGB – 2. Gruppe

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Mordmerkmale der „2. Gruppe“ des § 211 Abs. 2 StGB sind Heimtücke, Grausamkeit und gemeingefährliche Mittel. Gemeinsames Charakteristikum der drei Merkmale ist die besondere Ausführungsweise der Tötungshandlung.[136]

aa) Heimtücke

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Dafür, dass § 211 StGB heftig in der Kritik steht und als dringend reformbedürftig eingeschätzt wird, gibt es mehrere Gründe. An erster Stelle steht die Starrheit der absolut gesetzten lebenslangen Freiheitsstrafe, also die Sanktionsregelung. Auf der Tatbestandsebene ist es neben der Beweggrundgeneralklausel das Merkmal „Heimtücke“, das dafür sorgt, dass die geltende Fassung des Mordparagraphen quasi unter Dauerbeschuss gesetzeskritischer Literatur steht.[137] Gleichwohl wollte die von Justizminister Maas eingesetzte Expertengruppe nicht die Streichung des Merkmals empfehlen. Zur Erklärung der Mordtauglichkeit dieses Tatmerkmals wird auf die „besonders gefährliche Tatausführung“ verwiesen.[138] Dies trifft zwar zu, ist aber ungenau und erklärt gar nichts. Denn jede erfolgreiche Tötung ist ex post betrachtet eine besonders gefährliche Vorgehensweise. Die spezifische „besondere Gefährlichkeit“ der heimtückischen Tötung besteht darin, dass sie auch physisch starke und robuste Menschen in die Lage bringen kann, gegenüber Angriffen physisch an sich unterlegener Täter chancenlos zu sein. Heimtückische Tötung gilt deswegen auch als Methode der Schwachen, nicht zuletzt von Frauen gegenüber männlichen Opfern („Haustyrannentötung“).[139] Gewiss schwingt bei der Bewertung der heimtückischen Tötungsweise als besonders „verwerflich“ auch archaische Verachtung des Täters mit, der sein Opfer „feige“ von hinten meuchelt, weil er sich nicht traut, seinem Gegner mutig und offen im Kampf „Mann gegen Mann“ zu begegnen. Es ist richtig, dass heimtückische Tötungen das Sicherheitsgefühl der Menschen erschüttern, weil der Angriff auf das Leben jäh und unvorhergesehen in einer Situation stattfindet, in der das Opfer sich sicher fühlt.[140] Heimtückische Tötung unterläuft den Selbstschutz des Opfers in besonders perfider Weise. Denn um sein Leben zu schützen, nützt es nichts Warnungen zu befolgen und bestimmte durch äußere Gefährlichkeitsindizien hinreichend gekennzeichnete „no go areas“ zu meiden,[141] wo man sich „seines Lebens nicht sicher“ sein kann. Die heimtückische Tötung trifft das Opfer an einem Ort und zu einer Zeit, wo und wann mit einer solchen Attacke nicht gerechnet werden muss. Die Heimtücke unterminiert das gegenseitige Vertrauen, das Menschen in einer Gesellschaft brauchen, um halbwegs frei und unbefangen miteinander kommunizieren und sich aufeinander einlassen zu können. Hinreichende Gründe, der heimtückischen Tötung den Rang eines höchststrafwürdigen Verbrechens zuzuweisen, sind also durchaus vorhanden. Die Schwierigkeit bei der Anwendung einer Strafnorm mit diesem Merkmal besteht darin, Einzelfälle auszusondern, denen der Höchststrafwürdigkeitsgehalt fehlt.

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Das Gesetz definiert nicht, was unter „Heimtücke“ oder „heimtückisch“ zu verstehen ist. In Rechtsprechung und Schrifttum ist seit langem folgende Umschreibung anerkannt: Heimtückisch tötet, wer die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers zur Tötung ausnutzt.[142] Die Definition bildet zwar das Wesen der Heimtücke zutreffend ab und ist Rückgrat des Begriffs, für eine am Verhältnismäßigkeitsgebot orientierte Rechtsanwendung aber zu weit. Das zu erkennen hatte der BGH schon früh die Gelegenheit und fügte der Definition das einschränkende Element der „feindseligen Willensrichtung“ hinzu.[143] Vor allem Fälle der „Haustyrannentötung“ machen aber deutlich, dass auch mit dieser zusätzlichen Komponente der Heimtückedefinition immer noch Tötungen erfasst werden, die nicht höchststrafwürdig sind und deren Sanktionierung nach § 211 StGB unverhältnismäßig ist.[144] Restriktionsvorschläge der Literatur – insbesondere der „verwerfliche Vertrauensbruch“[145] – leiden an dem Dilemma, dass sie dem § 211 StGB Fälle entziehen, deren Mordqualität nicht zu bestreiten ist. Egal, wie man zu dem Mordmerkmal „Heimtücke“ steht: Der geltende § 211 StGB zwingt zu einem Kurs zwischen Scylla und Charybdis. Dem kann nur der Gesetzgeber abhelfen. Die Elemente „Arglosigkeit“, „Wehrlosigkeit“ und „Ausnutzen“ stehen nicht isoliert nebeneinander, sondern zueinander in einer funktionalen Beziehung. Das Opfer ist wehrlos, weil es arglos ist, Wehrlosigkeit ohne Arglosigkeit oder nicht auf Arglosigkeit beruhende Wehrlosigkeit begründen also keine Heimtücke. Die Ausnutzung der Lage des Opfers äußert sich in der herabgesetzten Verteidigungsfähigkeit des Opfers und der dadurch bewirkten Erleichterung der erfolgreichen Tatbegehung. Arglos ist ein Opfer, das mit einem Angriff auf sein Leben nicht rechnet.[146] Kündigt der Täter dem Opfer an, dass er es sogleich töten werde, entfällt die Arglosigkeit. Daher ist für die Anwendung des § 211 StGB entscheidend, zu welchem Zeitpunkt die Arglosigkeit des Opfers bestehen muss, damit heimtückische Tötung gegeben ist. Grundsätzlich kommt es auf Arglosigkeit bei Versuchsbeginn (§ 22 StGB) an.[147] Hat das Opfer bereits zu diesem Zeitpunkt eine hinreichend konkrete Ahnung von der bevorstehenden Attacke, kann seine Tötung nicht heimtückisch sein. Ausnahmsweise soll ein Schwund der Arglosigkeit vor diesem Zeitpunkt unbeachtlich sein, wenn der Täter sein Opfer arglistig in eine Falle gelockt hat und ihm anschließend beim Beginn der unmittelbaren Tötungshandlung offen feindselig gegenüber tritt.[148] Als grobe Richtlinie ist das Abstellen auf den Beginn des Tötungsversuchs hilfreich. Eine sklavische Bindung an die Versuchsdogmatik kann hingegen keine Lösung sein, da die Vielgestaltigkeit von Versuchskonstellationen gepaart mit der Uneinheitlichkeit der Ansichten zum Versuchsbeginn in Literatur und Rechtsprechung zu vollkommen verfehlten Ergebnissen führen kann. Bei einem in mittelbarer Täterschaft begangenen Mord hinge die Erfüllung des Mordmerkmals Heimtücke gegebenenfalls davon ab, ob das unmittelbare Ansetzen an das zeitlich frühere Handeln des „Hintermannes“[149] oder das spätere Handeln des „Werkzeugs“[150] gekoppelt wird. Sieht das Opfer den vom mittelbaren Täter aufgehetzten geisteskranken Tatmittler schon von weitem mit einem Messer in der Hand anrücken, liegt nach der zum Versuchsbeginn bei mittelbarer Täterschaft vertretenen „Einzellösung“ Heimtücke vor, nach der „Gesamtlösung“ hingegen nicht. Es ist evident, dass in diesem Fall ein Opfer angegriffen wird, das nicht arglos ist und demzufolge auch nicht heimtückisch getötet wird, sollte es zur Tötung kommen. Diese Beurteilung kann aber nicht davon abhängig sein, welche Ansicht man im Streit um den Versuchsbeginn bei mittelbarer Täterschaft bevorzugt. Ebenso liegen die Dinge bei einer actio-libera-in-causa-Tat: wer – wie Roxin[151] – das unmittelbare Ansetzen schon in der Herbeiführung des Rauschzustandes sieht, müsste heimtückische Tötung bejahen, auch wenn das Opfer die Tötungsabsicht des Volltrunkenen frühzeitig erkennt. Nach der h.M. beginnt der alic-Versuch hingegen erst, wenn der schuldunfähige Täter in die unmittelbare Tatausführungsphase eintritt.[152] Das zu diesem Zeitpunkt nicht mehr arglose Opfer kann nicht heimtückisch getötet werden. Schwierigkeiten bereitet das unmittelbare Ansetzen als Richtschnur auch in Fällen des Mordes durch Unterlassen, vorausgesetzt man hält die Verwirklichung des Heimtücke-Merkmals durch garantenpflichtwidriges Unterlassen überhaupt für möglich.[153] Da dem Garanten oftmals ein längerer Zeitraum für die Erfüllung der Handlungspflicht zur Verfügung steht und nach h.M. der Versuch nicht schon mit dem Verstreichenlassen der frühestmöglichen Handlungsgelegenheit beginnt,[154] kann der Täter die Arglosigkeit des Opfers vor Überschreiten der Versuchsgrenze beseitigen, indem er ihm z.B. ankündigt, dass er es verhungern lassen werde. Eine solche Vorgehensweise würde allerdings das Mordmerkmal „grausam“ erfüllen.

 

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Arglosigkeit bedeutet Unkenntnis der konkreten Bedrohungslage.[155] Wer schon vor Beginn des Tötungsversuchs darüber informiert ist, dass jemand alsbald unmittelbar zu einer Tötung ansetzen wird, ist nicht arglos. Dagegen steht das allgemeine Wissen, dass jemand oder mehrere einem nach dem Leben trachten, der Arglosigkeit nicht entgegen.[156] Eine heftige Auseinandersetzung zwischen Täter und Opfer vor der Tat beseitigt nicht automatisch die Arglosigkeit des Opfers.[157] Solange das Opfer keinen Grund zu der Annahme hat, dass der Gegner eine vorsätzliche Attacke auf das Leben unternehmen werde, ist es arglos. Anders kann es allerdings sein, wenn das Opfer den Täter durch einen eigenen Angriff in eine Bedrängnislage gebracht hat, aus der sich dieser nicht anders als durch eine vorsätzliche Tötung befreien kann. Wer einen anderen rechtswidrig angreift, muss damit rechnen, dass der andere sich wehrt und – weil es erforderlich ist – dabei sogar zu einer tödlichen Verteidigungsmaßnahme greift. Vereinfacht ausgedrückt darf ein Angreifer gegenüber dem Notwehrübenden nicht arglos sein; ist er es doch, wird dies rechtlich nicht anerkannt. So hat der 1. Strafsenat in einem Fall entschieden, in dem das später getötete Opfer den Täter zusammen mit einem Mittäter in eine Notwehrlage gedrängt hatte: „Der Annahme heimtückischen Handelns des Angeklagten steht hier entgegen, dass M. wegen seines erpresserischen Angriffs mit Gegenwehr des objektiv noch in einer Notwehrlage befindlichen Angeklagten rechnen musste und deshalb nicht gänzlich arglos sein konnte.[158] … Der Erpresser ist in der von ihm gesuchten Konfrontation mit dem Erpressten im Blick auf einen etwaigen wehrenden Gegenangriff des Opfers auf sein Leben jedoch nicht arglos, wenn er in dessen Angesicht im Begriff ist, seine Tat zu vollenden und zu beenden und damit den endgültigen Rechtsgutverlust auf Seiten des Erpressten zu bewirken. Das sich wehrende Erpressungsopfer handelt in einem solchen Fall mithin in aller Regel nicht heimtückisch.[159] … Mit seinem konkreten Angriff hat das spätere Opfer des Gegenangriffs in aller Regel seine Arglosigkeit bereits zuvor verloren. Er ist der wirkliche Angreifer. Dem Angegriffenen gesteht die Rechtsordnung das Notwehrrecht zu. Mit dessen Ausübung muß jeder Angreifer in solcher Lage grundsätzlich rechnen. Das ist von der strafrechtlichen Werteordnung und damit normativ prägend vorgegeben. Dem entspricht, dass das Notwehrrecht generell im Rechtsbewußtsein der Bevölkerung tief verwurzelt ist. Der Erpresser ist deshalb unter den hier gegebenen Umständen regelmäßig nicht gänzlich arglos. Das Mordmerkmal der Heimtücke ist einer solchen, auch normativ orientierten einschränkenden Auslegung zugänglich.“[160]

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Probleme entstehen bei der Anwendung des Mordmerkmals Heimtücke bei Opfern, die im Zeitpunkt der Tat überhaupt kein aktuelles Bewusstsein haben. Der Täter könnte diesen Menschen mit einem großen Plakat mit der Aufschrift „Ich werde dich jetzt töten“ oder „Du hast von mir nichts zu befürchten“ gegenübertreten, ohne dass dies irgendeinen Einfluss auf Verteidigungsbereitschaft und Verteidigungsfähigkeit des Opfers haben würde. Die Rechtsprechung differenziert nach dem Grund des Bewusstseinsmangels. Schlafende seien arglos, weil sie ihre Arglosigkeit „mit in den Schlaf“ nähmen.[161] Wer dagegen z.B. unfallbedingt die Besinnung verliert oder als Patient auf der Intensivstation im Koma liegt und in diesem Zustand getötet wird, sei nicht als argloses Opfer betroffen.[162] Dasselbe gelte für Kleinkinder von bis zu drei Jahren, die noch keine ausreichende Wahrnehmungsfähigkeit haben und deshalb nicht einmal einem mit gezogener Pistole auf sie zugehenden Täter Argwohn entgegenbringen könnten.[163] Zudem sind kleine Kinder ohnehin wehrlos, was nicht auf Arglosigkeit, sondern ihrer physischen Unterlegenheit beruht: „das Kind ist nicht infolge Arglosigkeit, sondern von Natur aus wehrlos“.[164] Für solche Fälle hat aber die Rechtsprechung einen Ausweg gefunden, der die Annahme von Heimtücke ermöglicht, indem nicht auf Arglosigkeit der getöteten Person, sondern auf Arglosigkeit eines „schutzbereiten Dritten“ abgestellt wird.[165] Das typische Tatmuster ist die Tötung des drei Monate alten Säuglings durch die Mutter, nachdem der Vater, der zuvor auf das Kind aufgepasst hatte, sich schlafen gelegt hatte. Schutzbereiter Dritter ist nach dem BGH „jede Person, die den Schutz eines Kleinkindes vor Leib- und Lebensgefahr dauernd oder vorübergehend übernommen hat und diesen im Augenblick der Tat entweder tatsächlich ausübt oder dies deshalb nicht tut, weil sie dem Täter vertraut. Der schutzbereite Dritte muss auf Grund der Umstände des Einzelfalls den Schutz allerdings auch wirksam erbringen können, wofür eine gewisse räumliche Nähe erforderlich ist“.[166]

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Heimtücke setzt voraus, dass das Opfer auf Grund der Arglosigkeit wehrlos war.[167] Das heißt, dass nicht heimtückisch getötet wird ein Opfer, das einem offen ausgeführten Angriff gegenüber keine besseren Abwehrmöglichkeiten gehabt hätte.[168] Ebenso verhält es sich, wenn die Arglosigkeit die Abwehrchancen des Opfers gegenüber einem ohne Waffe ausgeführten Angriff verschlechtert hat, der Täter das Opfer aber mit der Waffe tötet und die Arglosigkeit des Opfers für die Wehrlosigkeit gegenüber diesem Angriff belanglos war.