Handbuch des Strafrechts

Text
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

2. Täter-Opfer-Differenz

9

Die §§ 211, 212, 221 und 222 StGB bezeichnen als Opfer der Tötung einheitlich „einen Menschen“. Diese Textfassung ist ungenau, weil sie nicht zum Ausdruck bringt, dass das Tatopfer ein Mensch sein muss, der nicht der Täter selbst ist. Tötung bedeutet stets Tötung eines anderen Menschen. Täter und Opfer müssen also verschiedene Personen sein. Das gilt für alle Straftatbestände dieses Bereichs, auch für § 221 StGB und für § 222 StGB. Auch die Strafbarkeit wegen Teilnahme (Anstiftung, Beihilfe) an einem Tötungsdelikt setzt voraus, dass das Tatopfer mit dem Teilnehmer nicht identisch ist. Daraus folgt zunächst, dass die Selbsttötung nicht strafbar ist.[46] Ein Suizident, dessen Selbsttötungsversuch fehlgeschlagen ist, macht sich nicht wegen versuchten Totschlags (§§ 212, 22 StGB) strafbar. Heute ist es einhellige Auffassung, dass Selbsttötung bereits den objektiven Tatbestand des Tötungsdelikts nicht erfüllt.[47] Dies hat Konsequenzen für die strafrechtliche Beurteilung von Handlungen anderer Personen, die an der Selbsttötungstat aktiv mitwirken oder nicht gegen sie einschreiten. Wer dem Suizidenten hilft, indem er ihm z.B. das todbringende Medikament besorgt, macht sich nicht wegen Beihilfe zum Totschlag strafbar.[48] Denn es fehlt an der tatbestandsmäßigen Haupttat. Wer sich darauf beschränkt, den Selbsttötungsakt nicht zu verhindern, macht sich nicht wegen Beihilfe durch Unterlassen zum Totschlag strafbar.[49] Eine andere Frage ist, ob er sich als Garant wegen täterschaftlichen Totschlags durch Unterlassen strafbar macht. Dieselbe Frage kann sich auch bei aktiver Suizidunterstützung stellen: hat die vordergründig als Beihilfe erscheinende Handlung die strafrechtliche Qualität einer täterschaftlichen Fremdtötung? Die Mitwirkung an der Tat eines anderen Menschen, die dessen eigenes Leben gefährdet oder vernichtet, kann eine tatbestandsmäßige Fremdlebensgefährdung (§ 221 StGB) oder Fremdtötung (§§ 211, 212 StGB) sein. Es handelt sich um eine Erscheinungsform der mittelbaren Täterschaft (§ 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB), bei der der mittelbare Täter das Opfer als „Werkzeug gegen sich selbst“ benutzt.[50] Zur Begründung dieser Fremdverantwortung muss die rechtliche Beachtlichkeit der Selbstgefährdung bzw. Selbsttötung beseitigt werden. Das ist der Fall, wenn der Suizident für das, was er tut, nicht verantwortlich ist. Dafür hat sich die Bezeichnung „Eigenverantwortlichkeit“ eingebürgert.[51] Im gleichen Sinne wird das Wort „Freiheit“ benutzt („Freitod“)[52]. Ein eigenverantwortlicher oder freier Suizid schließt strafrechtliche Verantwortlichkeit anderer aus, die Mitwirkung an einem nicht eigenverantwortlichen oder unfreien Suizid ist hingegen Fremdtötung. Da dieses Thema nicht gesetzlich normiert ist, gibt es zu den Kriterien des Eigenverantwortlichkeitsmangels verschiedene Theorien. Anerkannt ist, dass psychische Defekte, die gemäß § 20 StGB die Unrechtseinsichtsfähigkeit ausschließen, Zwangslagen im Sinne des § 35 StGB, altersbedingte Reifemängel (§ 19 StGB, § 3 JGG), Irrtümer und Nötigungslagen die Eigenverantwortlichkeit ausschließen. Darüber hinaus wird wegen der Ähnlichkeit der Opfersituationen eine Anlehnung an § 216 StGB vorgeschlagen und „eigenverantwortlich“ mit „ernstlich“ gleichgesetzt.[53]

3. Taterfolg Tod

10

Totschlag (§ 212 StGB), Mord (§ 211 StGB), Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) und Fahrlässige Tötung (§ 222 StGB) sind Lebensverletzungsdelikte. Der objektive Tatbestand dieser Delikte enthält die Erfolgskomponente „Tod“. Mit Eintritt des Todeserfolges ist die Tat vollendet.[54] Bis zu diesem Punkt durchläuft die Vorsatztat die strafbare Versuchszone (§§ 211, 212, 216 i.V.m. § 22 StGB), Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung ist vor dem Erfolgseintritt noch nicht gegeben. Durch freiwillige Abwendung des Todes kann die Versuchsstrafbarkeit gemäß § 24 StGB aufgehoben werden. Das einzige Lebensgefährdungsdelikt im 16. Abschnitt, die Aussetzung (§ 221 StGB), kann schon vor Eintritt eines Todeserfolges vollendet sein. Ausreichend ist eine konkrete Gefährdung des Lebens (näher dazu unten Rn. 61 ff.).[55] Die exakte Bestimmung des Zeitpunktes, ab dem das Opfer nicht mehr lebend, sondern tot ist, hat somit erhebliche strafrechtliche Bedeutung. Abhängig ist dies zunächst von den naturwissenschaftlich relevanten Kriterien. Die Humanmedizin kennt zwei unterschiedliche Todesbegriffe, denen unterschiedliche Todeszeitpunkte korrespondieren: das irreversible Erlöschen der Hirntätigkeit (Hirntod) und der endgültige Stillstand von Kreislauf und Atmung (Herztod). Es ist eine juristische Entscheidung, welcher Todesbegriff dem Strafrecht zugrunde zu legen ist. Da der Gesetzgeber dazu nicht allgemein Stellung genommen hat, ist die Festlegung der Rechtsprechung und dem wissenschaftlichen Diskurs anheimgestellt. Entscheidungsleitend sind dabei die rechtlichen Konsequenzen, die der eine oder der andere Todesbegriff auslöst. Deswegen wird heute das Hirntodkriterium präferiert.[56] Mit dem endgültigen und unumkehrbaren Ausfall der gesamten Hirntätigkeit, vor allem des Stammhirns, ist der Mensch tot. Das gilt auch dann, wenn die Funktion von Herz und Kreislauf mit technischen Mitteln noch über diesen Zeitpunkt hinaus aufrechterhalten wird. Damit ist die rechtliche Voraussetzung dafür geschaffen, dass Organ- und Gewebeentnahmen in dieser Phase transplantationsrechtlich den Regeln über die „Entnahme von Organen und Geweben bei toten Spendern“ (§§ 3 ff. TPG) unterfallen, § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG.[57] Das Abschalten des Beatmungsgerätes ist keine Verursachung des Todes, eine Strafbarkeit gemäß §§ 211 ff. StGB kann dadurch nicht mehr begründet werden. Auch besteht nach Eintritt des Hirntodes keine Garantenpflicht zur Aufrechterhaltung von Herz- und Kreislauffunktion unter dem Gesichtspunkt des aktiven Lebensschutzes.

4. Tathandlung Tötung

11

Das tatbestandsmäßige Handlungsmerkmal der vorsätzlichen und fahrlässigen Tötungsdelikte ist die Tötung. Nichts anderes ist mit dem Merkmal „Tod … verursacht“ in § 222 StGB gemeint. Denn Tötung bedeutet Verursachung des Todeserfolges.[58] Da der objektive Tatbestand der Aussetzung (§ 221 StGB) keinen Todeserfolg beinhaltet, kann auch die tatbestandserfüllende Aussetzungshandlung nicht als Tötung bezeichnet werden (näher dazu unten Rn. 63). Die dogmatischen Details des Tatbestandsmerkmals Tötung sind Themen des Allgemeinen Strafrechts. Danach richten sich die Bedingungen der Kausalität sowie der objektiven Zurechnung des Todeserfolgs.[59] Ebenfalls im Allgemeinen Teil des Strafrechts sind die Grundlagen für die strafrechtliche Bewertung eines todesursächlichen Verhaltens bei Beteiligung mehrerer Personen. Wer mit einem anderen zusammen dazu beiträgt, dass ein Mensch zu Tode kommt, kann Täter oder Teilnehmer eines Tötungsdelikts sein. Die Abgrenzung richtet sich nach §§ 25 ff. StGB. Tötung kann auch ein Unterlassen sein (zum Mord durch Unterlassen siehe unten Rn. 46 f.). Die Ursächlichkeit für den Todeserfolg wird ermittelt, indem ein hypothetischer Befund durch Hinzudenken der unterlassenen Handlung erhoben wird. Ursächlich ist die Unterlassung, wenn die hinzugedachte Handlung ihn verhindert hätte. Tatbestandsmäßige Tötung ist derartig kausales Unterlassen allein bei Bestehen einer Erfolgsverhinderungspflicht, also einer Garantenstellung, § 13 StGB.[60] Auch das ist ein Thema des Allgemeinen Strafrechts.

III. Vorsätzliche Tötungsdelikte

1. Totschlag

12

 

Der Totschlag ist in § 212 StGB normiert. Totschlag ist vorsätzliche Tötung eines anderen Menschen. Nach überwiegender Ansicht in der Literatur ist der Totschlag der Grundtatbestand der vorsätzlichen Tötungsdelikte.[61] Auf ihm baut der Tatbestand Mord (§ 211 StGB) als Qualifikation auf. Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) ist im Verhältnis zum Totschlag ein Privilegierungstatbestand. Das systematische Verhältnis der Tötungstatbestände zueinander ist Gegenstand andauernder Meinungsverschiedenheiten zwischen Rechtsprechung und Strafrechtswissenschaft. Die Rechtsprechung sperrt sich gegen die Sichtweise der Lehre, nach der Mord und Tötung auf Verlangen durch Hinzufügung spezieller Merkmale geschaffene unselbstständige Abwandlungen des Grundtatbestandes Totschlag sind. Der Streit hat ergebnisbeeinflussende Auswirkungen bei Taten mit mehreren Beteiligten. Die dogmatische Relevanz versteht man nur vor dem Hintergrund der verschiedenen Mordmerkmale. Daher wird unten (Rn. 48 ff.) darauf näher eingegangen. Vom Mord unterscheidet sich der Totschlag durch das Fehlen jeglicher über die vorsätzliche Tötung hinausgehender Merkmale, von deren Erfüllung die Tatbestandsmäßigkeit abhinge. Der Totschlagstatbestand blendet alle Einzelheiten des Tathergangs, der Täterbeweggründe und der vom Täter mit der Tötung verfolgten Zwecke aus. Daher ist der typische Totschlagsfall, dessen reales Erscheinungsbild der kargen Tatbeschreibung im Gesetz am nächsten kommt, die im Affekt begangene Tötung. Soweit die Tat von objektiven oder subjektiven Umständen geprägt wird, die Einfluss auf den Grad des Unrechts oder der Schuld haben, ist dies bei der Strafzumessung zu berücksichtigen.[62] Erreicht das Gewicht solcher Umstände den Schweregrad eines Mordes, ist ein besonders schwerer Fall anzunehmen und lebenslange Freiheitsstrafe zu verhängen, § 212 Abs. 2 StGB.[63] Der subjektive Tatbestand des Totschlags verlangt Vorsatz, § 15 StGB. Ausreichend ist bedingter Tötungsvorsatz. Das gilt auch für den Totschlagsversuch (§§ 212, 22 StGB). Rechtswidrig ist der Totschlag, wenn er nicht gerechtfertigt ist. Der Tod eines Menschen ist, wenn er durch menschliches Verhalten verursacht wurde, schwerstes Unrecht. Daher ist die Rechtfertigung eines Totschlags nur ausnahmsweise möglich. Unanwendbar sind die Rechtfertigungsgründe Einwilligung und Notstand.[64] Möglich ist eine Rechtfertigung des Totschlags durch Notwehr (§ 32 StGB).[65] Totschlag durch Unterlassen kann durch Pflichtenkollision gerechtfertigt sein.[66] In Situationen extremen psychischen Drucks kann ein Totschlag entschuldigt sein, §§ 33, 35 StGB.

2. Mord

a) Geschichte

13

Die Entstehungsgeschichte der Mordvorschrift ist Teil der Entstehungsgeschichte der Tötungsdelikte allgemein (dazu bereits oben Rn. 1). Mord ist seit dem Reichsstrafgesetzbuch im Jahr 1871 in § 211 StGB normiert. Der Tatbestand hatte ursprünglich eine vollkommen andere Gestalt als der heute geltende § 211 StGB. Als Mord bezeichnete das Gesetz die „mit Überlegung“ begangene Tötung:[67] „Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird, wenn er die Tötung mit Überlegung ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft.“[68] Vorbild war der französische Code pénal, der auch heute noch einen Mordtatbestand („assassinat“, Art. 221-3 C.P.) enthält, der durch Tötung „avec préméditation“ gekennzeichnet ist. Auffallend beim Vergleich des § 211 StGB von 1871 mit der aktuellen Fassung ist neben der Unterschiedlichkeit der Mordmerkmale die tatbezogene Formulierung in dem früheren Gesetz: „wegen Mordes“ und nicht – wie jetzt noch immer – „Mörder“. Der Wandel des Sprachstils zu einer täterstrafrechtlichen Normgestaltung wurde mit der Neufassung des § 211 StGB im Jahr 1941 vollzogen. Die nationalsozialistischer Strafrechtsideologie immanente „Tätertypenlehre“ fand in der täterzentrierten Festlegung der Strafbarkeitsvoraussetzungen von Mord und Totschlag Ausdruck: „Mörder“, „Totschläger“.[69] Das Mordmerkmal „mit Überlegung“ wurde durch eine Kasuistik heterogener motiv-, tatausführungs- und absichtsbezogener Mordmerkmale ersetzt. Dabei konnten sich die Nationalsozialisten zum großen Teil auf ältere Entwürfe rückbeziehen.[70] Originär nationalsozialistische Strafrechtsschöpfung sind die fragwürdigen „niedrigen Beweggründe“.[71] In einem neuen Absatz 3 wurde für „besondere Ausnahmefälle“, in denen die Todesstrafe als nicht angemessen erscheint, das Strafmaß auf lebenslange Zuchthausstrafe reduziert. Mit der Abschaffung der Todesstrafe durch Art. 102 GG im Jahr 1949 war diese Milderung obsolet geworden und wurde daher im Jahr 1953 aufgehoben. Im Jahr 1977 befasste sich das Bundesverfassungsgericht anlässlich eines konkreten Normenkontrollantrags des LG Verden mit der Verfassungsmäßigkeit des § 211 StGB. Da die Entscheidung der Norm im Ergebnis Grundgesetzkonformität attestierte, gab es für den Gesetzgeber keine Veranlassung zu Änderungen auf der Tatbestandsseite der Mordvorschrift. Auch die absolute lebenslange Freiheitsstrafe blieb unangetastet. Vollstreckungsrechtlich wurde der Absolutheitscharakter durch Einführung der §§ 57a, 57b StGB abgeschwächt. Unberührt blieb § 211 StGB vom 6. Strafrechtsreformgesetz 1998, das in anderen Bereichen des Besonderen Teils erhebliche Änderungen brachte. In den Jahren 2014 bis 2017 bemühte sich der Bundesjustizminister Heiko Maas um eine Reform der Tötungsdelikte – letztlich ohne Erfolg (siehe oben Rn. 2 ff.).[72]

b) Reformbestrebungen

14

Während in der Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland seit der Nachkriegszeit bis heute von ernsthaften Problemen bei der Anwendung des Mordparagraphen aus dem Jahr 1941 nicht berichtet wird, wurde in der Strafrechtswissenschaft die Regelung permanent kritisiert und ihre Reformierung gefordert. Ein Höhepunkt der Reformdebatte ohne legislative Folgen war die Befassung des 53. Deutschen Juristentages im Jahr 1980 mit dem Thema „Reform der Tötungsdelikte“. Auf das Referat von Albin Eser bezieht sich noch heute jeder, der sich mit Vorschlägen zur Neuregelung des Tötungsstrafrechts befasst. Der letzte große Anlauf zu einer Reform im Jahr 2014 brachte neben vielen Fachbeiträgen in Print- und online-Medien einen voluminösen Abschlussbericht einer hochkarätig besetzten vielköpfigen Expertengruppe hervor. Die Politik vermochte die Anregungen jedoch nicht vor dem Ende der 18. Legislaturperiode umzusetzen (siehe oben Rn. 2 ff.).

c) Verhältnis zum Totschlag

15

Der Tatbestand des Mordes enthält sämtliche objektiven und subjektiven Merkmale des Totschlags. Den Unterschied der beiden Verbrechen machen die Mordmerkmale des § 211 Abs. 2 StGB aus. Erfüllt der Täter einer vorsätzlichen Tötung ein Mordmerkmal, begeht er einen Mord. Ohne die Erfüllung des Mordmerkmals ist die Tat Totschlag. Diese Zusammenhänge sind typisch für das systematische Verhältnis zwischen einem Grundtatbestand und einem Qualifikationstatbestand, wie z.B. bei § 223 und § 224 StGB[73] oder § 242 und § 244 StGB[74]. Der Qualifikationstatbestand enthält sämtliche Merkmale des Grundtatbestandes sowie noch wenigstens ein weiteres Merkmal.[75] Legt man dieses Schema dem Verhältnis von § 211 zu § 212 StGB zugrunde, ist Totschlag der Grundtatbestand und Mord der Qualifikationstatbestand.[76] Dennoch weigert sich die Rechtsprechung, Totschlag als Grundtatbestand und Mord als qualifizierten Totschlagstatbestand anzuerkennen. So definiert die Strafrechtslehre das Verhältnis zwischen Mord und Totschlag. Danach ist Mord im Verhältnis zum Totschlag ein wesensgleiches plus, umgekehrt Totschlag im Verhältnis zum Mord ein wesensgleiches minus. Nach der Rechtsprechung hingegen ist Mord ein aliud im Verhältnis zum Totschlag. Konsequenzen hat dieser Meinungsstreit in Bezug auf die Anwendung des § 28 StGB in Fällen, in denen an der Tat mehrere Personen beteiligt sind und die Erfüllung des Mordtatbestandes auf der Erfüllung eines personenbezogenen Mordmerkmals – z.B. Habgier – beruht. Soweit in diesem Fall nicht ohnehin § 29 StGB statt § 28 StGB angewandt wird, streiten sich Rechtsprechung und Literatur über die Einschlägigkeit des Absatzes 1 oder des Absatzes 2 des § 28 StGB. Die Rechtsprechung wendet § 28 Abs. 1 StGB an. Das hat zur Folge, dass ein Teilnehmer, der selbst die Voraussetzungen eines personbezogenen Mordmerkmals nicht erfüllt – z.B. nicht aus Habgier handelt – aus § 211 StGB strafbar ist, sofern der Täter das personbezogene Mordmerkmal erfüllt. Nach der Literatur, die § 28 Abs. 2 StGB anwendet, ist der Teilnehmer hingegen wegen Teilnahme am Totschlag strafbar. Konsequenz der Literaturansicht ist des Weiteren, dass ein Teilnehmer, der z.B. aus Habgier an der Tötung teilnimmt, auch dann wegen Teilnahme am Mord strafbar ist, wenn der Täter das personbezogene Mordmerkmal nicht erfüllt, also z.B. nicht aus Habgier tötet (siehe dazu auch unten Rn. 48 ff.).

d) Grundgedanken der Mordmerkmale

16

Wie auch immer man das tatbestandssystematische Verhältnis von Mord zu Totschlag definiert, steht fest, dass Mord eine Straftat ist, die nach Einschätzung des Gesetzgebers einen höheren Strafwürdigkeitsgehalt – also Unrechts- und Schuldgehalt[77] – als der Totschlag hat. Anders ist der drastische Sanktionssprung[78] von 15 Jahre Freiheitsstrafe als Höchststrafe (§ 38 Abs. 2 StGB) für nicht „besonders schweren“ (§ 212 Abs. 2 StGB) Totschlag zu lebenslanger Freiheitsstrafe für jeden Fall des Mordes (§ 211 Abs. 1 StGB) nicht zu erklären. Die Gründe dieser Unrechts- und Schuldsteigerung sind in den Mordmerkmalen des § 211 Abs. 2 StGB abgebildet. Ob sich diese Mordmerkmale alle auf einen einheitlichen materiellen Grundgedanken oder mehrere Leitprinzipien[79] zurückführen lassen oder nicht, ob es überhaupt einen oder mehrere dem positivgesetzlichen § 211 StGB vorgelagerte(n) Grundgedanken, der/die Maßstab für die Norm ist/sind, gibt, ist hoch umstritten.[80] Jeder Versuch einer rationalen Reform des § 211 StGB steht vor der Aufgabe sich Klarheit über den Grund oder die Gründe für eine Deliktsstufe oberhalb des § 212 StGB zu verschaffen. Je nach dem Ergebnis dieser Suche kann sich die Schlussfolgerung aufdrängen, dass § 211 neben § 212 StGB überhaupt keine Berechtigung eigenständiger Existenz hat oder die geltende Mordvorschrift Merkmale enthält, die dort nicht hingehören, oder umgekehrt Merkmale fehlen, die in Umsetzung der Grundgedanken in den gesetzlichen Tatbestand gehören. Die Schlussfolgerung, dass die geltende Fassung des § 211 StGB optimal ist und keiner Korrektur bedarf, wird von niemandem ernsthaft erwogen.

 

17

Die Bemühungen um begriffliche Konturierung der Strafschärfungsgründe, die das Fundament des Mordtatbestandes bilden könnten, resultierten im Wesentlichen in den beiden Konzepten „Verwerflichkeit“[81] und „Gefährlichkeit“.[82] Die Tötungen, die den Tatbestand des Mordes erfüllen, sind nach der einen Ansicht verwerflicher als Totschlagstötungen, nach der anderen Ansicht manifestiere sich in der Mordtat ein höheres Maß an Gefährlichkeit als in dem typischen Totschlag. Die Behauptung der besonders gesteigerten Verwerflichkeit lässt sich nicht argumentativ widerlegen, weil das Wort „verwerflich“ vollkommen inhaltsleer und nichtssagend ist.[83] Statt „verwerflich“, könnte man „übel“, „böse“, „schlimm“ oder „schlecht“ sagen. Verwerflich ist jede Straftat, die eine Tat ist mehr und die andere Straftat ist weniger verwerflich. Aber wieso die eine Tat verwerflicher ist als die andere, ist gerade die Frage. Deswegen bedarf es zur Verdeutlichung der qualitativen und quantitativen Abgrenzung und Einstufung konkreterer Aussagen über die Delikte. Das schwammige und jeder rationalen Klarheit entbehrende Wort „verwerflich“ erklärt überhaupt nichts, vielmehr erzeugt es Verunsicherung über die maßgeblichen Kriterien.[84] Wieso ist ein Verhalten „verwerflich“, was sind die maßgeblichen Anknüpfungspunkte, was die Gründe für das Verwerflichkeitsurteil? Warum ist eine Tötung aus Habgier verwerflicher als eine Tötung, die nicht durch Habgier motiviert wird? Die Beliebigkeit der Rede von der Verwerflichkeit zeigt sich schon daran, dass die einen auf die Verwerflichkeit der Begehungsweise und andere auf Verwerflichkeit der Täterperson abstellen und dabei rechtliche, sozialethische und sittliche Wertungen konfundiert werden. Das Strafwürdigkeitsübergewicht des Mordes gegenüber dem Totschlag lässt sich so nicht erklären.[85] Genauso wenig zielführend wie die Betonung der Verwerflichkeit ist der Gesichtspunkt der Gefährlichkeit. Unklar ist nämlich, welche Art von Gefährlichkeit gemeint ist, an welche Gefährlichkeitsquellen – Gefährlichkeit der Tat (generalpräventiver Ansatz)[86], Gefährlichkeit des Täters (spezialpräventiver Ansatz)[87]?[88] – angeknüpft und gegen welches schutzbedürftige Gut die Gefährlichkeit gerichtet sein muss. Denn die Gefährlichkeit für das Leben des Opfers, das der Täter getötet hat, kann es nicht sein. Diese Gefährlichkeit ist jedem vollendeten Totschlag immanent. Sollte es um die Gefahr gehen, dass ein Täter, der schon einmal gemordet hat, eher als ein Totschlagstäter geneigt ist, noch einmal zu morden, müsste das Verhältnis zwischen schuldvergeltender Strafe und präventiver Maßregel – insbesondere Sicherungsverwahrung – völlig neu überdacht werden.[89] Bestraft wird der Täter wegen der Tat, weil diese Tat Unrecht ist und sie dem Täter persönlich vorzuwerfen ist. Dass die Tat zudem ein Symptom für fortbestehende Gefährlichkeit des Täters und somit als Anlasstat Prognosebasis für die Erforderlichkeit sichernder Maßnahmen zur Verhinderung künftiger Taten sein kann, liegt außerhalb des rechtlichen Sinngehalts der Strafe.[90] Anderenfalls wäre nicht zu erklären, dass die Anordnung von Sicherungsverwahrung sogar neben einer lebenslangen Freiheitsstrafe möglich ist.[91]

18

Die Begründung der Einstufung des Mordes auf maximalem Sanktionsniveau kann allein aus dem Rechtsgüterschutzzweck gewonnen werden. Denn Strafrecht bezweckt den Schutz von Rechtsgütern.[92] Zwischen diesem Zweck und der Ausgestaltung der Strafvorschriften besteht daher ein Zusammenhang. Offensichtlich ist die Korrespondenz von Sanktionsniveau und Schwere der die Sanktionierung veranlassenden Rechtsgutsbeeinträchtigung. Die höhere Strafdrohung des § 211 StGB im Vergleich mit z.B. §§ 223 ff. oder §§ 242 ff. StGB ergibt sich zwanglos daraus, dass die Tötung das Rechtsgut „Leben“ zerstört und dieses Rechtsgut wertvoller ist als die von §§ 223 ff. und §§ 242 ff. StGB verletzten Rechtsgüter „Gesundheit“ und „Eigentum“. Das Rechtsgut „Leben“ wird häufig auch als „Höchstwert“ charakterisiert. So überzeugend diese auf den Wert des Rechtsgutes rekurrierende Begründung im Verhältnis zwischen § 211 StGB und Straftatbeständen außerhalb des Bereichs der Tötungsdelikte ist, so schwierig gestaltet sich dasselbe Vorgehen mit Blick auf die Differenz zwischen § 211 und § 212 StGB. Beide Tatbestände schützen das Rechtsgut Leben, beide Taten verletzen vorsätzlich das Rechtsgut Leben. Eine Wertdifferenz zwischen den betroffenen Rechtsgütern und der Intensität ihrer Beeinträchtigung existiert nicht. Überhaupt gibt es keine Art von Rechtsgutsverletzung, die schwerer wiegt als eine vorsätzliche Tötung. Somit ist bereits mit der Begehung eines Totschlags das Maximum an Rechtsgutsverletzungsunwert erreicht. Steigern lässt sich das nicht.[93] Der Unterschied zwischen Mord und Totschlag kann also weder mit unterschiedlichem Wert der betroffenen Rechtsgüter noch mit unterschiedlichem Gewicht der Beeinträchtigung der Rechtsgüter plausibel gemacht werden. Weder das Erfolgsunrecht noch das Handlungsunrecht ist beim Mord höher als beim Totschlag. Zwar mag eine absichtlich oder wissentlich begangene Tötung einen höheren Handlungsunrechtsgehalt haben als eine mit dolus eventualis begangene Tötung.[94] Aber genau auf diese Differenz stellen § 211 StGB und § 212 StGB nicht ab. Für die Erfüllung des subjektiven Mordtatbestandes genügt bedingter Tötungsvorsatz,[95] mit dolus directus begangene Tötung ist kein Mord, sondern nur Totschlag, wenn keines der Mordmerkmale des § 211 Abs. 2 StGB verwirklicht wird.[96] Damit lautet das Fazit, dass der Mord keine schwerere Rechtsgutsverletzung impliziert als der Totschlag.[97] Insbesondere spiegelt sich in den einzelnen Mordmerkmalen kein derartiges Plus. Die Mordmerkmale sind vom Gesetzgeber kraft seiner Regelungshoheit geschaffene Strafschärfungsgründe. Auf einen einheitlichen Leitgedanken lassen sie sich nicht zurückführen. Anderenfalls wäre auch § 212 Abs. 2 StGB nicht erklärlich. Alle Umstände, die einen besonders schweren Fall des Totschlags begründen, müssten von einem Gesetzgeber, der Art. 103 Abs. 2 GG als Handlungsmaxime anerkennt, in Mordmerkmale umgeformt werden.