Handbuch des Strafrechts

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4. Subjektiver Tatbestand

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Nach allgemeinen Grundsätzen muss sich der Vorsatz bei Nötigungsdelikten auf beide Akte des Geschehens, d.h. sowohl auf die Anwendung des Nötigungsmittels als auch auf den (ggf. wie in § 237 StGB näher beschriebenen) Nötigungserfolg beziehen. Mangels gesetzlicher Einschränkungen genügt insoweit jeweils bedingter Vorsatz (zur Gegenansicht bezüglich des erzwungenen Verhaltens Rn. 88).[282] Bei der Drohungsalternative muss der Täter um die tatsächlichen Umstände wissen, aus denen sich die Empfindlichkeit des angedrohten Übels ergibt. Er muss den in Aussicht gestellten Nachteil selbst indessen nicht als empfindlich bewerten. In Betracht kommt hier allenfalls ein Verbotsirrtum.[283] Der Vorsatz muss sich zudem auf den erforderlichen Motivationszusammenhang zwischen Nötigungsmittel und Nötigungserfolg (Rn. 67) erstrecken, d.h. dem Täter muss bewusst sein, gerade durch sein angewendetes Nötigungsmittel den gewünschten Nötigungserfolg herbeizuführen.[284]

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Darüber hinaus muss der Täter vorsätzlich in Bezug auf die tatsächlichen Umstände handeln, welche die Verwerflichkeit seiner Tat begründen (ergänzend Rn. 72).[285] Wer um diese Umstände nicht weiß, z.B. als Teilnehmer an einer Sitzblockade auf einer Straße nur von kurzzeitigen Behinderungen des Verkehrs und somit von einer unerheblichen und nicht verwerflichen Beeinträchtigung ausgeht, befindet sich demzufolge in einem Tatumstandsirrtum gemäß § 16 Abs. 1 S. 1 StGB.[286] Ein Irrtum nur über die Beurteilung der Tat als verwerflich, d.h. eine von der inländischen Rechtsgemeinschaft abweichende Bewertung des eigenen nötigenden Verhaltens, begründet hingegen einen Erlaubnisirrtum, der im Falle seiner Vermeidbarkeit nach § 17 S. 2 StGB dem Gericht allenfalls den Ausspruch einer Strafmilderung ermöglicht.[287]

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Wegen der gegenseitigen Abhängigkeit von Freiheiten, d.h. eingedenk des Umstands, dass die Ausübung von Freiheiten (z.B. des Nötigenden) häufig die Einschränkung anderer Freiheiten (z.B. des Nötigungsadressaten) nach sich zieht, wird erwogen, eine strafbare Nötigung lediglich dann anzunehmen, wenn es dem Nötigenden auf die Einschränkung der Freiheit des Nötigungsadressaten gerade ankommt. Nur wenn es jemand tatsächlich auf die Beeinträchtigung der Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit eines anderen abgesehen habe, könne von einem strafwürdigen Unrecht die Rede sein. Voraussetzung für eine strafbare Nötigung sei demzufolge Absicht bzgl. des Nötigungserfolges, sei es generell[288] oder bei dem Einsatz des Nötigungsmittels Gewalt.[289] Diese Auffassung wird auch auf den Wortlaut des § 240 Abs. 2 StGB gestützt, der von „Zweck“ spricht und daher bezüglich der Reaktion des Opfers ein zielgerichtetes Verhalten verlange.[290]

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Die Bedeutung der Diskussion um den erforderlichen Vorsatzgrad im Hinblick auf den Nötigungserfolg lässt sich insbesondere an rücksichtslosem Gebaren im Straßenverkehr verdeutlichen. So erscheint eine Strafbarkeit wegen Nötigung fraglich, wenn jemand sein Kraftfahrzeug derart auf einer Straße abstellt, dass er zwar einfacher ein- und ausladen kann, dadurch aber zugleich die Durchfahrt auf der Straße blockiert, so dass herannahende Fahrzeuge nicht an ihm vorbeifahren können und zum Anhalten oder zu einem Umweg genötigt werden.[291] Ein solches oder vergleichbares verbotswidriges Verhalten, das in erster Linie den eigenen Vorteil im Blick, die Beeinträchtigung anderer hingegen nicht zum Zweck hat, sondern „lediglich“ als notwendige Folge akzeptiert oder zumindest billigend in Kauf nimmt, ist nach verbreiteter Ansicht nicht als Nötigung anzusehen.[292] In diesen Fallkonstellationen streitet für eine Einschränkung des Anwendungsbereichs der Nötigung zudem, dass die Vorschrift des § 315c StGB dafür bestimmt ist, abschließend aufgezählte rücksichtslose Verhaltensweisen im Straßenverkehr – neben den dadurch zugleich verwirklichten Ordnungswidrigkeitentatbeständen – auch als Straftat zu ahnden. Auch bei sonstigen, in § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht genannten „Straßenverkehrssünden“ auf die (nach ihrem Wortlaut häufig durchaus verwirklichte) Nötigung zurückzugreifen, ließe den Straftatbestand des § 240 StGB zum Straßenverkehrsdelikt kleiner Münze verkommen (zu Vorschlägen einer gesonderten Regelung der „Nötigung im Straßenverkehr“ Rn. 114).

5. Einzelne Fallgestaltungen

a) Menschliche und sonstige Blockaden

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Die Schwierigkeit, den Anwendungsbereich des Straftatbestands der Nötigung zu bestimmen, offenbarte sich nicht zuletzt an den Sitz(- und gelegentlich auch Steh-)blockaden, die Auslöser einer jahrelangen Diskussion in Rechtsprechung und Schrifttum waren (Rn. 12 und 36 ff.). Nur um einige Ziele solcher Blockaden zu nennen, musste unter anderem über die Strafbarkeit von Demonstrationen vor Kasernen der Bundeswehr[293] sowie vor Militärgeländen der US-Armee[294] als auch vor einer NATO-Baustelle[295] entschieden werden. Doch dürfte die Debatte selbst nach mehreren Entscheidungen des BVerfG und nach ausgiebiger Diskussion im Schrifttum kaum als abgeschlossen angesehen werden. Zu beachten bleibt vor allem, dass sich jeweils die Besonderheiten des Einzelfalls als maßgeblich für die Strafbarkeit wegen Nötigung erweisen und dem Tatgericht somit einen nicht unbedeutenden Entscheidungsspielraum gewähren. Ob daher notwendigerweise allgemein formulierte Grundsätze nicht zuletzt des BVerfG z.B. zum Nötigungsmittel der „Gewalt“ in der Praxis auch nur als anerkannt gelten können, erscheint daher fraglich.[296]

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Nach der Rechtsprechung des BVerfG in der Sitzblockaden-Entscheidung vom 10. Januar 1995 (siehe schon Rn. 37) verstößt es gegen das Analogieverbot, das Nötigungsmittel der „Gewalt“ bereits bei bloßer körperlicher Anwesenheit des Täters zu bejahen, wenn die Zwangswirkung auf den Genötigten nur psychischer Natur ist.[297] Insbesondere wenn sich die körperliche Tätigkeit der Demonstranten darauf beschränkt, an einem bestimmten Platz (z.B. auf der Zufahrt vor einer Kaserne) zu stehen oder zu sitzen, um dadurch durch rein psychische Einwirkung die Führer herannahender Fahrzeuge zum Anhalten zu bewegen, um nicht die Demonstrationsteilnehmer zu verletzen oder sogar zu töten, ist demzufolge das Nötigungsmittel der Gewalt abzulehnen. Dies gilt auch dann, wenn die Teilnehmer der Demonstration – freilich ohne Gegenwehr – von Polizeibeamten weggetragen werden.[298]

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Sobald eine solche Blockade allerdings durch den Rückgriff auf Gegenstände unterstützt wird, ist häufig das Nötigungsmittel der „Gewalt“ gegeben. Dies hat bereits das BVerfG in der sog. Wackersdorf-Entscheidung vom 24. Oktober 2001[299] festgehalten, in der sich Aktivisten, die gegen die in Wackersdorf geplante Wiederaufbereitungsanlage für abgebrannte Brennstäbe aus Kernreaktoren demonstrierten, an ein Einfahrtstor mit Metallketten in Hüfthöhe gekettet hatten. In diesem Fall – so das BVerfG – beschränke sich die Aktion der Demonstranten gerade nicht auf bloße körperliche Anwesenheit, sondern sei das Anketten als darüber hinaus gehende körperliche Kraftentfaltung zu werten. Auch die Wirkung auf die Nötigungsadressaten beschränke sich nicht auf einen rein psychischen Zwang. Aufgrund der Ankettung könnten die Demonstranten herannahenden Fahrzeugen nämlich nicht ausweichen und würde zudem die Räumung der Einfahrt erschwert, so dass der Ankettung eine über den psychischen Zwang hinausgehende Eignung zuteilwerde, Dritten den Willen der Demonstranten aufzuzwingen.[300] Ebenso ist von Gewalt auszugehen, wenn Demonstranten sonstige Vorrichtungen und Gegenstände (z.B. Kraftfahrzeuge oder Stahlkörper zur Schienenblockade) verwenden, um ihre physische Präsenz zu unterstützen bzw. ein körperliches Hindernis zu errichten.[301] Auch ohne einen solchen Rückgriff auf Gegenstände kann im Einzelfall Gewalt anzunehmen sein, etwa wenn der Täter um sich schlägt, um nicht weggetragen zu werden,[302] oder wenn er sich nachhaltig gegen ein Fahrzeug stemmt, um die Weiterfahrt zu verhindern.[303] Außerdem genüge das gruppenweise Einhaken, um ein über die körperliche Anwesenheit hinausgehendes physisches Hindernis zu schaffen und somit das Nötigungsmittel der Gewalt zu bemühen.[304] Diese Entscheidungen mögen auf den ersten Blick als teilweise Abkehr von der Sitzblockaden-Entscheidung erscheinen, erweisen sich aber auch bei der hier vorgeschlagenen Betonung des Körperlichkeitskriteriums als konsequent. Auf die gezeigte Weise – deutlich wird dies vor allem bei den Fahrbahn- oder Schienenblockaden mittels Gegenständen – wird nämlich auf den Nötigungsadressaten nicht ein rein psychischer Zwang ausgeübt, sondern auch ein physisches Hindernis errichtet, das z.B. herannahende Kraftfahrzeugführer nicht ohne Weiteres oder nur mit dem unzumutbaren Risiko einer Selbstschädigung überwinden können.[305]

 

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In diesem Zusammenhang ist jedenfalls im Ergebnis gleichfalls der sog. Zweite-Reihe-Rechtsprechung des BGH[306] zuzustimmen. Ihr lag ein Sachverhalt zugrunde, in dem sich mehrere Personen auf den Fahrbahnen eines Autobahnrastplatzes verteilten und den herannahenden Fahrzeugen in den Weg stellten, wodurch eine Vielzahl von Autofahrern an der Weiterfahrt gehindert wurde. Während gegenüber den unmittelbar vor dem Nötigenden anhaltenden Fahrern wegen der insoweit in der Regel nur psychischen Einflussnahme keine Gewalt im Sinne des § 240 StGB angenommen werden konnte, hat der BGH gegenüber den nachfolgenden Fahrern wegen der insoweit auch körperlichen Hindernisse in der Gestalt der vor ihnen in der ersten Reihe stehenden Fahrzeuge das Nötigungsmittel der Gewalt angenommen.[307] Entscheidend für die Einordnung des Nötigungsmittels gegenüber den Fahrern der nachfolgenden Fahrzeuge ist auch hier lediglich, auf welche Art und Weise auf diese selbst als Nötigungsadressaten eingewirkt wird. Den Fahrern der zweiten (oder höheren) Reihe bietet sich aber keine menschliche Blockade mehr, sondern nur noch ein ausschließlich lebloses Hindernis, das sie nicht in der Lage sind zu überwinden.[308] Nichts anderes gilt schließlich auch bei dem in der letzten Randnummer diskutierten unmittelbaren (und nicht nur mittelbaren) Rückgriff auf Sachen zur Errichtung eines körperlichen Hindernisses. Die sog. Zweite-Reihe-Rechtsprechung des BGH wirkt zwar als Umgehung der Grundsätze des BVerfG zur Nötigung im Zusammenhang mit Sitzblockaden – und ggf. war dem BGH diese Lesart auch durchaus willkommen –, ist allerdings eine konsequente Subsumtion unter den (wieder etwas konturierteren) Gewaltbegriff, die auch das BVerfG ausdrücklich verfassungsrechtlich unbeanstandet ließ.[309] Im Übrigen betonte der BGH schon zuvor – ebenso im Zusammenhang mit Demonstrationen, wenngleich wiederum nicht unumstritten –, dass der Zwang auch über Dritte dem Nötigungsadressaten vermittelt werden könne.[310] Diese Rechtsprechung hat zwar zur scheinbar kuriosen Folge, dass die Teilnehmer einer Sitzdemonstration auf Verkehrswegen ihre Blockade umgehend jeweils beenden müssten, sobald sich eine zweite Reihe an Fahrzeugen nähert, um jedenfalls nicht tatbestandlich eine Nötigung zu verwirklichen. Dieses Resultat ist aber den Anforderungen an den Gewaltbegriff sowie dem Umstand geschuldet, dass der Nötigungstatbestand eben nicht sämtliche Beeinflussungen der Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit ab einer bestimmten Erheblichkeit erfasst, sondern nur die abschließend aufgeführten Nötigungsmittel der Gewalt und der Drohung mit einem empfindlichen Übel. Sobald eine solche – wenngleich in dieser oder einer anderen Gestalt freilich notwendige – Einschränkung aber erfolgt, gehen hiermit stets Abgrenzungsschwierigkeiten einher, die sich trotz oder wegen der grundsätzlich zu begrüßenden Orientierung an dem Körperlichkeitskriterium in den vorstehenden oder ähnlichen Fällen offenbaren.

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Auch ohne eine solche Verstärkung der körperlichen Präsenz kann mitunter aufgrund der bloßen Verwendung des eigenen Körpers als physisches Hindernis (z.B. bei dem nicht nur kurzfristigen Versperren eines Weges)[311] eine Nötigung durch „Gewalt“ gegeben sein.[312] Erklären lässt sich dies nur dadurch, dass der Körper gegenüber dem Genötigten wiederum als (nunmehr menschliche) Barriere fungiert, die dieser nicht zu überwinden in der Lage ist, so dass dadurch dessen Wille beeinträchtigt werden kann.[313] Zu weit dürfte es indessen gehen, das Freihalten einer Parklücke, indem sich der Täter hindernd in den Weg stellt, als Gewalt gegenüber dem Kraftfahrer zu begreifen, der in diese Parklücke einfahren will.[314] Sofern sich der Täter auf seine bloße Anwesenheit in der Parklücke beschränkt, erzeugt er in der Regel keine körperliche Zwangswirkung auf den Nötigungsadressaten, lässt sich doch der menschliche Körper durch ein Kraftfahrzeug in aller Regel zur Seite schieben, sondern lediglich psychischen Zwang.

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In dem Fall Laepple (Rn. 12) als Ausgangsbeispiel der Diskussion um die Sitzblockade lag somit letztlich nur deswegen keine Nötigung durch Gewalt vor, da der Genötigte eine Straßenbahn führte, für die ein menschlicher Körper gerade kein Hindernis darstellen dürfte. Aus den zahlreichen Entscheidungen zu solchen und ähnlichen Blockaden, nicht zuletzt aus den Judikaten des Bundesverfassungsgerichts, darf indessen nicht gefolgert werden, dass solche Verhaltensweisen von vornherein kategorisch als „Gewalt“ im Sinne des § 240 StGB auszuschließen wären. Entscheidend sind vielmehr wiederum die Umstände des konkreten Einzelfalls.[315] Zumeist dürfte indessen bei Sitzdemonstrationen wegen des ungleichen Kräfteverhältnisses zum Nachteil der Teilnehmer gegenüber den zu blockierenden Kraftfahrzeugen eine Nötigung zu verneinen sein. Auch im Allgemeinen handelt es sich bei dem eigenen Körper gegenüber einem anderen Menschen nur selten um ein nicht oder nur mit unzumutbaren Risiken für die eigene körperliche Unversehrtheit überwindbares Hindernis, dessen Einsatz als lebende Barriere als nötigende „Gewalt“ anzusehen bliebe.

b) Nötigungen im Straßenverkehr

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Ein Sammelsurium an verschiedenen Einflussnahmen auf die Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit anderer findet sich nicht zuletzt im Straßenverkehr. Hier gehören dichtes Auffahren und Lichthupen, Schneiden bei Überholvorgängen, Abbremsen vor einem nachfolgenden Fahrzeug und auch Streitigkeiten um Parklücken zum Alltag. All diese Verhaltensweisen sind zumeist um einen eigenen, sei es nicht selten auch noch so geringen Zeitvorteil bemüht oder verfolgen erzieherische Anliegen gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern. Zu diesem Zweck werden andere zum Spurwechsel, zum schnelleren Fahren oder auch zum Abbremsen veranlasst. Es handelt sich hierbei um einen Paradefall einer Kollision verschiedener Freiheiten dergestalt, dass die gewünschte Freiheitsausübung des einen Verkehrsteilnehmers die Beschränkung der Freiheit eines anderen bedingt.

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Anhand dieser Fallgruppe lassen sich vor allem zwei Problembereiche aufzeigen, die auch für nötigende Verhaltensweisen außerhalb des Straßenverkehrs von Bedeutung sein können. Zum einen gilt es bei solchen alltäglichen Handlungen umso mehr, sich um eine ausreichend konkrete Bestimmung der Strafbarkeitsgrenze zu nötigendem Verhalten zu bemühen. Dies kann bei § 240 StGB insbesondere – von gerade bei Nötigungen im Straßenverkehr häufig unterbreiteten Vorschlägen einer Einschränkung des subjektiven Tatbestands (Rn. 89) einmal abgesehen – auf zweierlei Weise geschehen, namentlich durch eine einengende Auslegung der Nötigungsmittel und einen angemessenen Rückgriff auf das Korrektiv der Verwerflichkeit. Im Rahmen der Nötigungsmittel ist wiederum darauf zu achten, den Gewaltbegriff nicht durch eine zu weitgehende Auslegung zu konturenlos werden zu lassen. Nicht zuletzt nach den oben entwickelten Grundsätzen zur Sitzblockade kann aber auch bei nötigenden Verhaltensweisen im Straßenverkehr zumindest dann von Gewalt ausgegangen werden, wenn das eigene Fahrzeug als körperliches Hindernis verwendet wird, z.B. beim Ausbremsen des nachfolgenden Verkehrsteilnehmers, um ihn zum Anhalten zu bewegen,[316] oder bei Verhindern eines Überholvorgangs durch Ausscheren nach links.[317] Problematisch ist indessen insbesondere, das Verhalten des nachfolgenden Fahrers als Gewalt zu erfassen, der gerade kein Hindernis bildet, sondern auf den vor ihm fahrenden Kraftfahrzeugführer einwirken will, um schneller voranzukommen. Hier wird beim dichten Auffahren, ggf. in Zusammenhang mit Betätigung von Signalhorn und/oder Lichthupe, ohne Weiteres noch keine Gewalt zu bejahen sein.[318] Schließlich wird dadurch in der Regel lediglich ein psychischer Zwang auf das Opfer ausgeübt, das sich durch das nicht nur nervende, sondern auch durchaus gefährliche Unterschreiten des Sicherheitsabstands durch den Nötigenden dazu veranlasst sehen könnte, (ggf. sogar) schneller (als die zulässige Höchstgeschwindigkeit) zu fahren oder auf einer Autobahn trotz dichten Verkehrs auf die rechte Spur zu wechseln. Dies wird von den Gerichten auch nach der Sitzblockaden-Entscheidung des BVerfG mitunter allerdings nicht problematisiert, die nach wie vor im Wesentlichen nach der Intensität der Einwirkung über das Vorliegen von Gewalt entscheiden.[319] Mitunter behelfen sie sich dabei der Konstruktion, dass psychische Einwirkungen zu körperlichen Reaktionen führen können und dadurch der notwendige physisch wirkende Zwang durchaus vorliegt, um Gewalt im Sinne des § 240 StGB durch dichtes Auffahren bei derartigen Folgen zu bejahen. So hat das OLG Köln eine bedrängende Fahrweise als Gewalt angesehen, „wenn durch dieses Fahrverhalten eine Gefahrenlage geschaffen wird, die geeignet ist, einen durchschnittlichen (besonnenen) Fahrer in Sorge und Furcht zu versetzen, und von ihm als körperlicher (nicht bloß seelischer) Zwang empfunden wird, seinen Willen dem des Täters unterzuordnen“.[320] Auch das BVerfG hat diese Auslegung ausdrücklich nicht beanstandet und vielmehr festgehalten, dass bei „physisch merkbaren Angstreaktionen“ ein Zwang vorliegen könne, „der – auch gemessen an verfassungsrechtlichen Maßstäben – Gewalt sein kann“.[321] Dem bleibt allerdings – ähnlich wie bei dem Versuch, seelische Beeinträchtigungen im Rahmen der Körperverletzungsdelikte als Verletzungen der körperlichen Unversehrtheit anzusehen und auf diesem Umweg zu erfassen – entgegenzuhalten, rein psychische Einwirkungen in physischen Zwang umzudeuten und letzten Endes doch wiederum gleichzusetzen. Zwar ist es durchaus möglich, auch psychisch vermittelt körperliche Reaktionen des Opfers hervorzurufen (z.B. eine unter Arachnophobie leidende Person durch den Anblick einer Spinne in Schockstarre verfallen zu lassen). Dies sollte aber eindeutigen Fällen vorbehalten bleiben, um die verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht auf diesem Wege wieder aufzuweichen und dem Gewaltbegriff die erst dadurch vage wieder hergestellte Kontur erneut zu nehmen.

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Sofern sich nach den allgemeinen Grundsätzen die Anwendung eines die Bagatellgrenze überschreitenden Nötigungsmittels annehmen lässt, bleibt es dem Merkmal der Verwerflichkeit vorbehalten, strafwürdige und nicht strafwürdige Verhaltensweisen im Straßenverkehr voneinander zu trennen.[322] Insoweit sind wiederum vornehmlich Dauer und Intensität des Nötigungsmittels[323] sowie das Ausmaß des Nötigungserfolgs, vor allem der Grad der hervorgerufenen Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer zu berücksichtigen.[324] Des Weiteren dürften bei der erforderlichen Bewertung sämtlicher Umstände des Einzelfalls die umfassenden Regelungen zu berücksichtigen sein, die für die Teilnahme am Straßenverkehr erlassen wurden. Sofern ein Verkehrsteilnehmer die Straßenverkehrsvorschriften befolgt, indiziert es demnach die Verwerflichkeit einer nötigenden Einflussnahme, ihn hiervon abbringen und zu einem rechtswidrigen Verhalten (z.B. zu einem zu schnellen Fahren innerhalb einer einspurigen Verkehrsführung durch eine Baustelle) veranlassen zu wollen. Dies darf freilich nicht dahin verstanden werden, als wäre es umgekehrt gestattet, andere Verkehrsteilnehmer zu einem (ggf. auch nur vermeintlich) regelkonformen Verhalten zu veranlassen (ergänzend Rn. 84).

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Die umfassende Regelung wie Reglementierung des Straßenverkehrs erscheint auch in einer anderen Hinsicht als berücksichtigungswert. Da für die Ahndung von Fehlverhalten im Straßenverkehr ein umfangreicher Bestand an Ordnungswidrigkeitentatbeständen und Strafvorschriften wie insbesondere der §§ 315c, 316 StGB existiert, darf dieser Regelungskomplex nicht durch einen Rückgriff auf den Straftatbestand der Nötigung unterlaufen werden. Insbesondere die Bußgeldtatbestände des Straßenverkehrsrechts verlören ihre Berechtigung, wenn jedes behindernde Parken oder Überholen eine Nötigung bedeutete.[325] Sicherlich darf nicht verkannt werden, dass das Straßenverkehrsrecht zuvörderst der Sicherheit des Straßenverkehrs als allgemeinem Interesse sowie dem Schutz der einzelnen Verkehrsteilnehmer vor körperlichen Gefahren dient, während die Nötigung mit der Freiheit der Willensbildung und Willensbetätigung gänzlich andere Rechtsgüter schützt. Allerdings sind gerade diese Rechtsgüter bei der in der Regel interaktiven im Sinne einer mit Kontakten mit anderen Verkehrsteilnehmern verbundenen Teilnahme am Straßenverkehr durchweg betroffen. Schon die Grundregeln der Straßenverkehrsordnung besagen deshalb, dass „die Teilnahme am Straßenverkehr […] gegenseitige Rücksicht [erfordert]“ (§ 1 Abs. 1 StVO) und jeder Verkehrsteilnehmer „sich so zu verhalten [hat], dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird“ (§ 1 Abs. 2 StVO). Auf die Nötigung darf daher jedenfalls nicht voreilig zurückgegriffen werden, um § 240 StGB nicht zu einem straßenverkehrsrechtlichen Auffangahndungstatbestand werden zu lassen. Sich bei der gebotenen Begrenzung des Anwendungsbereichs der Nötigung mit dem Hinweis auf das notwendige Überschreiten einer einzelfallabhängigen Bagatellschwelle oder das Korrektiv der Verwerflichkeitsklausel zu begnügen,[326] vermag somit nicht vollends zu überzeugen, würden die Probleme auf diese Weise letztlich lediglich dogmatisch verlagert ohne eine grundsätzliche Entscheidung zu treffen, wann die durch Verhaltensweisen im Straßenverkehr in der Regel beeinträchtigte Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit den Schutz auch und gerade durch den Nötigungstatbestand verdient. Zu Reformvorschlägen einer gesonderten Regelung der Nötigung im Straßenverkehr Rn. 114.