Handbuch des Strafrechts

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bb) Erscheinungsformen der Gewalt

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Die (nach hier vertretenem Ansatz: physische) Einwirkung auf den Genötigten kann unmittelbar wie mittelbar ausgeübt werden. Möglich ist vor allem der Rückgriff auf Sachen oder Dritte, um letztlich das Opfer selbst zu erreichen. Entscheidend ist lediglich, dass auf diesem Weg gleichfalls eine körperliche Zwangswirkung bei dem Opfer ausgelöst wird, dessen Beeinflussung folglich auch in diesen Fällen im Vordergrund steht. Die Anforderungen an eine derart vermittelte Gewalt dürfen hingegen nicht gesenkt werden, weil der Täter für seine Nötigung einen Gegenstand verwendet oder eine dritte Person bemüht.

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Nach wohl nach wie vor herrschender Gegenansicht, die dem Körperlichkeitskriterium der Zwangswirkung nicht die gleiche Bedeutung zumisst wie die hier vertretene Auffassung, soll es bereits ausreichen, dass der Genötigte die dem Dritten angetane Gewalt als Zwang empfindet.[126] Nach vorzugswürdiger Ansicht ist hingegen erforderlich, dass der Täter bei Einschaltung eines „Gewaltmittlers“ (auch) auf das eigentliche Ziel des Angriffs, den Genötigten, körperlich einwirkt.[127] Jedenfalls darf die Bezeichnung dieser Konstellation als „Gewalt gegen Dritte“ nicht darüber hinwegtäuschen, dass Gewalt gegen den Dritten weder erforderlich (wenngleich in der Regel mitverwirklicht) noch ausreichend ist. Vielmehr bedarf es der Gewalt (auch) gegen den Nötigungsadressaten.[128] Der Anwendungsbereich dieser sog. Dreiecksnötigung ist bei dem hier vertretenen Verständnis gering. Außer dem Beispiel, einen Dritten gegen den Nötigungsadressaten zu stoßen oder ggf. sogar zu werfen, ist an das Niederschlagen des Fahrers eines Verkehrsmittels, um ein Fortkommen der Fahrgäste zu verhindern,[129] oder an das Aufhalten eines Blinden mittels Gewalteinsatzes gegen dessen Blindenführer[130] zu denken. Wird „lediglich“ die Sorge des Nötigungsopfers um das Wohlergehen des Dritten ausgenutzt und somit auf den zu Nötigenden ausschließlich psychisch eingewirkt, kommt indessen nur eine Drohung mit einem empfindlichen Übel, z.B. der weiteren Gewalteinwirkung auf den Dritten, in Betracht.[131] Einer besonderen Nähebeziehung zwischen Drittem und Nötigungsopfer bedarf es grundsätzlich nicht. Für die allein maßgebliche Einwirkung auf den zu Nötigenden, insbesondere für eine etwaige Drohung mit einem empfindlichen Übel, kann es allerdings mittelbar von Bedeutung sein, in welchem (z.B. freundschaftlichen oder verwandtschaftlichen) Verhältnis er zu dem Dritten steht.[132]

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Häufiger dürften Sachen als „Gewaltmittel“ eingesetzt werden. Auch insoweit bleibt zunächst klarstellend zu bemerken, dass keine Gewalt gegen eine Sache verlangt wird, sondern Gewalt gegenüber dem Nötigungsadressaten mittels einer Sache.[133] Zudem bedarf es in dieser Konstellation – nach dem hier vertretenen Gewaltbegriff – der zumindest mittelbaren körperlichen Einwirkung auf das Opfer. Möglich ist dies zunächst dadurch, dass mit einem Gegenstand unmittelbar auf den Nötigungsadressaten physisch eingewirkt (z.B. bei dem Gebrauch eines Wurfgeschosses oder Schlagwerkzeugs) und dadurch dessen Willensfreiheit beeinflusst wird. Ebenfalls genügt es – und wird wohl als eigentliche Konstellation der „Gewalt gegen Sachen“ angesehen –, wenn durch die Verwendung einer Sache mittelbar auf das Opfer körperlich eingewirkt wird.[134] Das Standardbeispiel für eine solche Sachgewalt bildet das Ausschalten der Heizung einer Mietwohnung im Winter, um den Mieter durch die (körperlich) empfundene Kälte zur Zahlung schon seit längerem fälliger Forderungen aus dem Mietverhältnis zu bewegen.[135] Zumeist wird sich „Sachgewalt“ aber dadurch äußern, dass dem Betroffenen ein körperliches Hindernis bereitet wird, das er nicht oder nur mit erhöhtem physischen Aufwand zu überwinden weiß.[136] Wer eine Zimmertür absperrt und dadurch das Opfer daran hindert, den Raum zu verlassen, begeht (außer der tatbestandlich verwirklichten Freiheitsberaubung) eine Nötigung mittels (Sach-)Gewalt im Sinne des § 240 StGB.[137] Gleichfalls kann das Aussperren des Opfers Gewalt darstellen.[138] Ebenso greift auf das Nötigungsmittel der Gewalt zurück, wer ein Fahrzeug rammt, um das Anhalten zu erzwingen.[139] Eine Nötigung scheidet indessen aus, wenn der Täter mit der Einwirkung auf eine Sache (z.B. deren Zerstörung, deren Entzug vom Betroffenen oder auch deren Verwendung gegen dessen Körper) keine weiteren Ziele verfolgt. In diesem Fall fehlt es zumindest an dem notwendigen Zusammenhang zwischen dem Nötigungsmittel und dem Nötigungserfolg.[140]

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Ob der Täter auf ein Nötigungsmittel durch ein aktives Tun oder durch ein Unterlassen zurückgreift, bedeutet aus der Sicht des Genötigten und im Hinblick auf die Beeinträchtigung seiner Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit im Grundsatz keinen Unterschied. Es ist daher folgerichtig, dass bei der Nötigung nach h.M. auch „Gewalt durch Unterlassen“ möglich ist.[141] Es bedarf hierfür aber nach allgemeinen Grundsätzen zum einen einer Garantenstellung des Nötigenden, die Einwirkung auf den Betroffenen zu beseitigen.[142] Insoweit kommen vor allem eine Überwachungsgarantenstellung aus Ingerenz wegen pflichtwidriger Verursachung der Situation, die sich nunmehr körperlich auf den Betroffenen auszuwirken droht (z.B. unvorsätzliches Einsperren einer Person)[143], oder eine Beschützergarantenstellung gegenüber dem zu nötigenden Opfer (z.B. die fehlende Nahrungsversorgung eines Kindes durch dessen Eltern)[144] in Betracht. Zum anderen muss die Modalitätenäquivalenz gemäß § 13 Abs. 1 StGB a.E. gewahrt sein und die Gewalt durch Unterlassen ihrer Anwendung durch ein aktives Tun entsprechen.[145] Unstreitig dürfte die Entsprechensklausel gewahrt sein, wenn das Opfer durch das Unterlassen – wie etwa bei der fehlenden Zuführung von Nahrung – erheblich körperlich beeinträchtigt wird.[146] Gleiches gilt, wenn der Täter mit einem Pkw auf das Opfer zufährt; hier hängt es ohnehin vom Zufall ab, ob ein Tun (durch Beschleunigen des Pkw) oder ein Unterlassen (durch fehlendes Abbremsen des bereits fahrenden Pkw) vorliegt.[147] Sollten die zusätzlichen Voraussetzungen des § 13 StGB nicht erfüllt sein, bleibt zu beachten, dass mit einem Unterlassen zugleich eine konkludente Drohung mit einem empfindlichen Übel (z.B. der weiteren Untätigkeit) geäußert werden kann.[148]

b) Drohung mit einem empfindlichen Übel

aa) Begriffsbestimmung

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Das Nötigungsmittel der „Drohung“ erfasst allein psychische Einwirkungen auf den Willen des Nötigungsadressaten. Gemeinhin wird Drohung definiert als Inaussichtstellen eines (naturgemäß künftigen) Übels (oder allgemeiner und unabhängig von dem gesetzlich beschriebenen Gegenstand der Drohung: einer Folge), auf das der Täter Einfluss hat oder zu haben vorgibt.[149] Entscheidend ist somit die Macht des Täters über den Eintritt der angekündigten Folge, mag er selbst diese herbeiführen oder auch ein Dritter, der dem Willen des Täters Folge leistet.[150] Handelt ein Dritter unabhängig von dem Täter, stellt dessen Hinweis auf das (ggf. auch nur vorgebliche) Verhalten des Dritten nur eine den Nötigungstatbestand nicht verwirklichende Warnung dar.

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Für die Abgrenzung von Drohung und Warnung ist die Perspektive des Empfängers maßgeblich, dessen Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit schließlich geschützt werden soll.[151] Ebenso ist für die Beurteilung eines Verhaltens als Drohung auf das Opfer abzustellen. Von einer Drohung kann demnach nur die Rede sein, wenn das Handeln des Täters geeignet ist, den Eindruck der Ernstlichkeit zu erwecken. Zweifel des Opfers an dem Willen des Nötigenden, seine Ankündigung in die Tat umzusetzen, schließen eine Einwirkung auf die Willensbildungsfreiheit und somit auch eine Nötigung nicht aus (zur erforderlichen Kausalität zwischen Drohung und Nötigungserfolg Rn. 66 f.).[152] Sollte sich das Opfer allerdings aufgrund seiner Zweifel nicht dem Täter beugen, steht nur eine Strafbarkeit wegen versuchter Nötigung im Raum. Ob der Täter in der Lage oder willens ist, seine Drohung zu realisieren, bleibt wegen der Konzentration auf die Einwirkung auf den zu Nötigenden außer Betracht.[153] Auch sog. Scheindrohungen, die der Täter überhaupt nicht realisieren kann oder will, können daher tatbestandlich erfasst sein, wenngleich sie ein Täuschungselement enthalten, das als solches – „List“ ist kein Nötigungsmittel (Rn. 26) – den Tatbestand der Nötigung nicht zu verwirklichen weiß.

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Die notwendige Entscheidungsmacht des Täters über den Eintritt der von ihm angekündigten Folge bildet zugleich das Differenzierungskriterium zwischen der (tatbestandlichen) Drohung und der (nicht als Nötigung strafbaren) bloßen Warnung.[154] Für die Abgrenzung darf freilich nicht (nur) darauf abgestellt werden, wie der Täter seine Ankündigung formuliert oder ggf. wortlos durch Gesten oder Mienen zum Ausdruck bringt. Vielmehr bedarf es der Auslegung seines Verhaltens, bei der außer dem Wortlaut der Äußerung ebenso die sonstigen Umstände wie nicht zuletzt deren Kontext zu berücksichtigen sind. Auch für die Warnung und deren Tatbestandslosigkeit ist – ebenso wie für die Tatbestandsverwirklichung durch die Scheindrohung – nicht von Bedeutung, ob sie inhaltlich zutrifft oder nicht. So hat der BGH eine Nötigung in einem Fall verneint, in dem ein Strafverteidiger seinen Mandanten zur Unterzeichnung einer Erklärung bewegen wollte, in welcher der Mandant zuvor getätigte, den Strafverteidiger belastende und einen Verdacht der Strafvereitelung begründende Angaben wahrheitswidrig widerrufen sollte. Der Strafverteidiger wies dabei zwar noch zutreffend darauf hin, dass er ohne die Erklärung seinen Mandanten nicht weiter verteidigen könne. Unrichtig war allerdings die Aussage, dass ohne die Unterzeichnung der Erklärung eine Absprache mit dem Staatsanwalt hinfällig werde und der Mandant mit einer wesentlich höheren Bestrafung und Fortdauer der Haft rechnen müsse; eine solche Absprache wurde nämlich überhaupt nicht getroffen.[155] Dies kann zu unbilligen oder jedenfalls als unbillig empfundenen Strafbarkeitslücken führen, vermag diese Form der List mitunter doch eine erfolgreichere Methode sein, die Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit des Opfers zu beeinträchtigen.[156] Allerdings spiegelt sich hierin nichts anderes als die notwendige Folge einer auf abschließend aufgezählte Mittel beschränkten Nötigung wider, die gerade nicht sämtliche für strafwürdig erachtete Einflussnahmen auf den Willen des Betroffenen zu erfassen vermag.

 

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Bezugspunkt der Drohung ist ein empfindliches Übel. „Übel“ wird weit als jede nachteilige Veränderung der Außenwelt verstanden.[157] Der in Aussicht gestellte Nachteil muss hinreichend konkretisiert und erkennbar sein, so dass lediglich pauschale Drohungen – auch wenn sie ebenso schon den Willen des Betroffenen zu beeinflussen mögen – nicht den Nötigungstatbestand verwirklichen.[158] Daher wird auch ein ausgesprochenes Machtwort in der Regel nicht von der Drohungsalternative erfasst (Rn. 27). Ansonsten geht mit dem Merkmal „Übel“ eine Beschränkung des Tatbestands jedoch kaum einher.

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Somit kommt in erster Linie dem Attribut „empfindlich“ die Aufgabe zu, den Anwendungsbereich der Nötigung bei Drohungen zu begrenzen. Als empfindlich wird eine Drohung jedoch nach h.M. bereits angesehen, wenn das in Aussicht gestellte Übel so erheblich ist, dass dessen Ankündigung geeignet ist, den Bedrohten zu dem vom Täter gewünschten Verhalten zu motivieren.[159] Wie weit eine solche Bewertung objektiviert werden darf, ist zwar nicht unumstritten.[160] Gegen einen rein individualisierten Maßstab[161] einerseits lässt sich aber bereits der Wortlaut der Norm anführen, der die Empfindlichkeit des Übels und nicht des Opfers fordert.[162] Ansonsten könnte es etwa als Nötigung strafbar sein, einem abergläubischen Menschen damit zu drohen, ihm einen Platz in der Sitzreihe 13 in einem Flugzeug zu reservieren. Ein subjektiver Maßstab würde daher zwar ggf. den Schutz der Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit im Einzelfall verstärken, die Grenzen zwischen strafbarem und straflosem nötigenden Verhalten jedoch zu sehr verschwimmen lassen. Einem rein objektiven Maßstab andererseits steht wiederum entgegen, die Individualität bzw. auch die besondere Disposition des Bedrohten – anders etwa als bei dem Nötigungsmittel der Gewalt – zu wenig zu berücksichtigen.[163]

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Es bietet sich daher ein objektiv-individueller Maßstab an, der zwar die konkrete Situation des Betroffenen berücksichtigt, aber ebenso darauf abstellt, ob von dem Bedrohten in seiner Lage erwartet werden kann, der Drohung in besonnener Selbstbehauptung standzuhalten.[164] Mit diesem viktimodogmatischen Element wird dem Bedrohten ein gewisses Maß an Selbstverantwortung abverlangt und dadurch der Charakter des Strafrechts als „ultima ratio“ gewahrt.[165] Wird mit diesem objektiven Korrektiv die Motivationstauglichkeit einer Drohung abgelehnt, scheidet eine Strafbarkeit wegen Nötigung somit von vornherein aus, auch wenn der auf diese Weise Bedrohte sich dem Ansinnen des Täters tatsächlich nicht widersetzen und sich zu dem vom Täter gewünschten Verhalten motivieren lassen sollte.

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Tatbestandlich ausgeschlossen sind demnach vor allem Bagatelldrohungen mit bloßen Unannehmlichkeiten und Belästigungen.[166] Wer den langjährigen Lebenspartner vor die Wahl stellt, entweder zu heiraten oder die Beziehung zu beenden, kann nicht erst deswegen keine Zwangsheirat nach § 237 Abs. 1 StGB begehen, weil seine Tat nicht als verwerflich erscheint.[167] Vielmehr bleibt bereits die Drohung mit einem empfindlichen Übel abzulehnen, weil die in Aussicht gestellte Beendigung der Beziehung lediglich eine Enttäuschung darstellt, vor deren Ankündigung aber (ebenso wie vor deren Eintritt) das Strafrecht – nicht zuletzt in höchstpersönlichen Angelegenheiten, die sich außerhalb des hoheitlichen Zugriffsbereichs befinden – den Einzelnen nicht bewahren kann.[168]

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Überlegenswert wäre eine Übertragung der vorstehenden Überlegungen auf das Nötigungsmittel der „Gewalt“. So hat der BGH bei der Nötigung von Verfassungsorganen gemäß § 105 StGB ausgeführt, dass die Zwangswirkung der Nötigungsmittel der Gewalt oder der Drohung mit Gewalt entfalle, wenn und soweit von den in § 105 StGB genannten Verfassungsorganen aufgrund ihrer besonderen Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit erwartet werden könne und müsse, auch im Rahmen heftiger politischer Auseinandersetzungen Drucksituationen standzuhalten.[169] Ob sich dieser Ansatz jedenfalls im Allgemeinen auch auf das Nötigungsmittel der Gewalt bei § 240 StGB übertragen lässt, erscheint allerdings zweifelhaft. Zum einen betraf die Entscheidung des BGH zu § 105 StGB den Fall der mittelbaren Einwirkung auf den Nötigungsadressaten durch Gewalt gegen Dritte oder Sachen. Zum anderen hat der BGH hervorgehoben, dass von Verfassungsorganen eine größere Standhaftigkeit erwartet werden kann und die Schwelle zur Annahme von Gewalt höher anzusetzen sei.[170] Einem auch für die Gewalt anzunehmenden objektiven Korrektiv der besonnenen Selbstbehauptung steht zudem entgegen, dass der Gesetzeswortlaut hierfür – anders als bei der „Drohung mit einem empfindlichen Übel“ – keinen Anknüpfungspunkt bietet.[171] Wird beim Gewaltbegriff mit der hier vertretenen Ansicht ein Körperlichkeitskriterium gefunden, besteht ohnehin kein Anlass für ein solches Korrektiv, sondern genügt die Annahme einer Bagatellschwelle für die körperliche Zwangswirkung auf das Opfer.[172]

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Werden die Grenzen der Strafbarkeit für nötigende Verhaltensweisen durch physische Einwirkung in der Form der „Gewalt“ im Sinne des § 240 StGB einerseits und durch psychische Einflussnahme durch „Drohung mit einem empfindlichen Übel“ andererseits verglichen, entsteht wegen der unterschiedlich hohen Anforderungen an die beiden Nötigungsmittel der Eindruck, dass der Anwendungsbereich des § 240 StGB bei psychischen Beeinflussungen ungleich weiter sei. Schließlich mag allein die Empfindlichkeit des angedrohten Übels die Drohungsalternative weniger einzuschränken als das in Anlehnung an die Rechtsprechung des BVerfG mittlerweile wieder betonte Körperlichkeitskriterium den Gewaltbegriff. Diese Diagnose scheint zudem durch das seltsam anmutende Ergebnis belegt zu werden, dass mitunter zwar das Inaussichtstellen eines Nachteils eine Drohung mit einem empfindlichen Übel bedeuten kann, dessen tatsächliche Zufügung hingegen nicht unbedingt „Gewalt“ im Sinne des § 240 StGB nach sich zieht. Zu denken ist etwa an die Drohung mit einer Strafanzeige (zur Inkonnexität von Mittel und Zweck Rn. 78), deren tatsächliche Einreichung keine Gewalt bedeutet. Allerdings sind die Anwendungsbereiche des Nötigungstatbestandes auf physische und psychische Beeinflussungen nicht so widersprüchlich ausgestaltet wie dies ein flüchtiger Blick vermuten lässt. Zu beachten ist vor allem, dass das Nötigungsmittel „Gewalt“ – abgesehen von der soeben diskutierten Bagatellgrenze – sämtliche körperlichen Einwirkungen auf das Opfer erfasst. Mit dem Nötigungsmittel der „Drohung“ sind hingegen von allen möglichen psychischen Einflussnahmen nur diejenigen herausgegriffen, bei denen der Täter den Nötigungsadressaten mit einem angekündigten Übel motivieren will, auf dessen Eintritt er Einfluss hat oder zu haben vorgibt. Psychische Einwirkungen insbesondere in der Gestalt der List sind indessen von vornherein tatbestandlich nicht erfasst. Mit anderen Worten begrenzt der Gewaltbegriff die strafbaren physischen Einflussnahmen auf das Opfer eher nach deren Intensität, die Variante der Drohung mit einem empfindlichen Übel hingegen die psychischen Einwirkungen in erster Linie nach deren Varietät. Es zeigt sich wiederum, dass der Nötigungstatbestand nicht sämtliche Einwirkungen auf die Willensentschließungs- und Willensbetätigungsfreiheit erfasst (und auch nicht erfassen will), sondern den Nötigungsmitteln insoweit die notwendige Auslesefunktion zuteilwird.

bb) Erscheinungsformen der Drohung mit einem empfindlichen Übel

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Wie bei dem Nötigungsmittel der Gewalt (Rn. 43 ff.) ergeben sich gleichfalls bei der Drohung mit einem empfindlichen Übel Konstellationen einer nur mittelbaren Einwirkung auf den Nötigungsadressaten. Hierbei gilt wiederum, dass für die Beurteilung einer solchen Einflussnahme allein die Auswirkungen auf das Opfer entscheidend sind.[173] Unter diesen Voraussetzungen ist auch eine „Drohung gegen Dritte“ – nicht notwendigerweise nahe stehende Personen[174] – dergestalt denkbar, dass jemand anderem als dem letztlich zu beeinflussenden Betroffenen ein Nachteil in Aussicht gestellt wird, dessen Verwirklichung sich aber ebenso für den Genötigten als eigenes Übel darstellt.[175] So ist bei Erpressungen eines Lebensmittelherstellers, dem die Vergiftung oder sonstige Präparierung seiner Produkte und deren anschließende Platzierung in Verkaufsstellen in Aussicht gestellt wird, falls er nicht auf die Forderung der Täter eingehe, eine Drohung gegenüber dem Lebensmittelhersteller anzunehmen, auch wenn die im Vordergrund stehenden Gefahren für Leib und Leben „lediglich“ den Käufern dieser Produkte drohen. Für den Lebensmittelhersteller besteht das eigene Übel unter anderem in Schädigungen seines Rufs und in nachhaltigen Umsatzeinbußen.[176] Wer der wahre Nötigungsadressat einer Drohung ist und ob tatsächlich ein Fall einer solchen „Dreiecksdrohung“ vorliegt, ergibt sich – wie generell bei der notwendigen Ermittlung des Inhalts einer Äußerung oder eines Verhaltens mit Erklärungswert – aus der Auslegung der jeweiligen Äußerung. Die Fallgruppe „Drohung gegen Dritte“ kann daher auch als überflüssig erachtet werden. Denn es handelt sich hierbei um nichts anderes als um eine unmittelbare Drohung gegenüber dem eigentlichen Nötigungsadressaten, versteckt in einer Äußerung, die sich nur ihrem Wortlaut nach (auch) gegen Dritte richtet.

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Nichts anderes gälte, wenn in Gleichlauf zum Nötigungsmittel der „Gewalt“ (Rn. 45) eine Fallgruppe der „Drohung gegen eine Sache“ gebildet werden würde. Beispiele für eine solche Konstellation, die zunächst überhaupt voraussetzte, Drohungen trotz ihres kommunikativen Charakters auch gegenüber Sachen äußern zu können, lassen sich allerdings schwer finden und erscheinen zudem merkwürdig. Denkbar wäre etwa die gegenüber einem Hund in Anwesenheit dessen Halters ausgesprochene Drohung, ihn bei weiterem Bellen zu vergiften. Auch hier ergibt sich jedenfalls aus der Auslegung einer entsprechenden Äußerung, gegen wen sie sich mit welchem Inhalt richtet. Erforderlich ist wiederum, dass der in Aussicht gestellte Nachteil für den Nötigungsadressaten selbst ein Übel darstellt.

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Nach h.M. ist auch eine Drohung durch Unterlassen möglich.[177] Hiermit sind freilich nicht Fälle eines aussagekräftigen Schweigens gemeint, die im Wege der Auslegung als konkludente Drohung zu interpretieren sind. Eine Drohung durch Unterlassen kommt vielmehr insbesondere dann in Betracht, wenn ein Garant verpflichtet ist, Drohungen durch andere zu verhindern bzw. eine bereits existierende bedrohliche Lage zu beseitigen.[178] Dies gilt beispielsweise für das bewusste Ausnutzen des zunächst ungewollt erweckten Eindrucks einer Drohung, obwohl der Garant dazu verpflichtet ist, den falschen Anschein zu beseitigen. Allerdings muss in diesen Fällen gerade durch das Unterlassen auf den Nötigungsadressaten eingewirkt worden sein. Hat sich dieser hingegen schon zuvor aufgrund des unvorsätzlich erzeugten Eindrucks einer Drohung entschieden, sich dem Willen des Täters zu beugen, scheitert eine Nötigung mit einer Drohung durch Unterlassen an dem fehlenden Motivationszusammenhang (allgemein hierzu Rn. 67).[179]

 

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Von der Drohung durch Unterlassen ist die sog. Drohung mit einem Unterlassen zu unterscheiden. Um die wohl bedeutendste Sonderkonstellation der Drohung mit einem empfindlichen Übel zu illustrieren, kann auf den Sachverhalt einer nicht unumstrittenen Entscheidung des BGH zurückgegriffen werden, in der ein Kaufhausdetektiv einer von einem anderen Detektiv bei dem Diebstahl eines Umhängetuchs ertappten Minderjährigen in Aussicht stellte, auf eine Strafanzeige, die beide Detektive an sich zu stellen hatten und wodurch der Minderjährigen unter anderem drohte, eine Lehrstelle bei einem Bankinstitut zu verlieren, zu verzichten, wenn sie mit ihm schlafe. Die Minderjährige ging auf dieses Angebot zum Schein ein, offenbarte sich sodann aber einer Vertrauensperson, welche die Polizei einschaltete.[180] Weitere Beispiele aus der Rechtsprechung betreffen Drohungen, laufende Geschäftsbeziehungen abzubrechen, auf deren Fortdauer der Geschäftspartner wirtschaftlich existenziell angewiesen ist,[181] nicht auf die Erteilung einer Ausreisegenehmigung aus der damaligen DDR hinzuwirken,[182] sowie eine Einstellungszusage nicht einzuhalten.[183]

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Bereits der vorstehende Sachverhalt des Kaufhausdetektivs, der als Paradebeispiel für die Konstellation der „Drohung mit einem Unterlassen“ gilt, zeigt indessen, dass die Abgrenzung von einer Drohung mit einem aktiven Tun nicht nur im Einzelfall kaum möglich ist. Die angedachte Deutung, dass der Täter damit drohe, die Absendung der Anzeige durch den anderen Detektiv nicht zu verhindern, vermag bei einer normativen Betrachtung des Geschehens nicht zu überzeugen. Ungeachtet der somit fraglichen Trennschärfe dieser Fallgruppe ist zudem generell fraglich, warum es für die Beurteilung eines Geschehens als „Drohung“ im Sinne des § 240 StGB auf die Einordnung des in Aussicht gestellten Übels als „aktives Tun“ oder „Unterlassen“ ankommen soll. Welche Bedeutung kann diese Unterscheidung aus dem Allgemeinen Teil für die Nötigung erfahren, welche die Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit des Einzelnen schützen will?[184] Hieran anknüpfende Versuche der Differenzierung müssen daher fehlschlagen, weil sie kein relevantes Kriterium bemühen, um die Grenze zwischen strafwürdigen und nicht strafwürdigen Einflussnahmen durch Drohungen zu ermitteln.

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Ähnliches gilt für die Rechtswidrigkeit bzw. Rechtmäßigkeit des in Aussicht gestellten Verhaltens. Diese Unterscheidung wird häufig in Zusammenhang mit der vorstehenden Differenzierung zwischen einem aktiven Tun und einem Unterlassen als angekündigtem Nachteil herangezogen. Nach einer verbreiteten Auffassung soll von vornherein nur das Inaussichtstellen eines rechtswidrigen Unterlassens (z.B. die Drohung eines Beamten, eine notwendige Bescheinigung nicht auszustellen, auf die der Antragsteller einen Anspruch hat) eine tatbestandliche Nötigung darstellen, die Drohung mit einem rechtmäßigen Unterlassen (z.B. die Drohung, einen gestellten Strafantrag nicht wieder zurückzunehmen) hingegen nicht.[185] Auch dieser Versuch einer Kategorisierung zieht jedoch Kriterien heran, die zumindest keinen unmittelbaren Bezug zur Beeinträchtigung des geschützten Rechtsguts der Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit aufweisen. Daher bleibt bei einem Unterlassen, das dem Betroffenen in Aussicht gestellt wird, gleichfalls unerheblich, ob der Täter zur Vornahme einer Handlung rechtlich verpflichtet ist oder nicht. Entscheidend ist allein, ob die Drohung mit deren Unterlassen als solche zulässig ist oder nicht.[186]

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Maßgeblich ist somit jeweils, ob die jeweilige Drohung geeignet ist, den Genötigten zu dem gewünschten Handeln zu motivieren. Hingegen bleibt sowohl unerheblich, ob der Täter ein aktives Tun oder ein Unterlassen in Aussicht stellt als auch ob er rechtlich dazu verpflichtet ist, die Handlung vorzunehmen, mit deren Unterlassen er droht. In dem eingangs genannten Beispiel der Drohung mit (dem Unterlassen der Rücknahme) einer berechtigten Strafanzeige kann demzufolge durchaus eine strafbare Nötigung gegeben sein. Es kann auch nicht darauf verwiesen werden, dass dem Opfer durch ein solches „unmoralisches Angebot“ eine zusätzliche Alternative eröffnet und somit dessen Handlungsspielraum lediglich erweitert werde. Vielmehr kann dies nur einen scheinbaren Gewinn an Freiheit bedeuten, wenn das Opfer – nicht etwa wegen des zusätzlichen Angebots, sondern allein wegen des Wunsches, das angekündigte Tun oder Unterlassen zu verhindern – faktisch nicht anders kann als dem Willen des Täters nachzugeben.[187] An einer solchen vom Täter ausgenutzten Zwangslage ändert sich selbst dann nichts, wenn der Bedrohte selbst den Täter dazu auffordert, ihm ein solches Angebot zu unterbreiten.[188]