Handbuch des Strafrechts

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1. Abschnitt: Schutz von Leib und Leben › § 4 Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit

Tobias Singelnstein

§ 4 Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit[1]

A.Einführung1 – 5

B.Grundlagen6 – 26

I.Verfassungsrechtliche Vorgaben aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG6 – 8

II.Begriff, gesellschaftliche Bewertung und Formen der Gewalt9 – 13

III.Praktische Bedeutung des Bereichs14 – 20

IV.Kriminologische Einordnung21 – 26

C.Rechtliche Regelung und besondere Fallgruppen27 – 129

I.Allgemeine Fragen27 – 71

1.Rechtsgut und Schutzobjekt27 – 32

2.Voraussetzungen der einzelnen Tatbestände33 – 61

a)Grundtatbestand des § 223 Abs. 1 StGB33 – 39

b)Qualifikationen wegen besonderer Gefährlichkeit (§ 224 StGB)40 – 45

c)(Erfolgs-)Qualifikationen wegen dauerhafter schwerer Folgen (§ 226 StGB)46 – 51

d)Erfolgsqualifikation wegen eingetretener Todesfolge (§ 227 StGB)52 – 54

e)Beteiligung an einer Schlägerei (§ 231 StGB)55 – 58

f)Weitere Tatbestände (§§ 225, 226a, 229 StGB)59 – 61

3.Verhältnis zu anderen Tatbeständen62 – 64

4.Strafrahmen und Strafzumessung in der Praxis65 – 71

II.Besondere Fragestellungen auf der Ebene des Tatbestands72 – 86

1.Bagatellgrenze72 – 74

2.Eigenverantwortliche Selbstgefährdung und einverständliche Fremdgefährdung75 – 78

3.Kausalität und Produkthaftung79 – 86

III.Besondere Fragestellungen auf der Ebene der Rechtswidrigkeit87 – 119

1.Rechtfertigungsgründe, erlaubte Verletzungen87 – 91

2.Einwilligung und ihre Grenzen92 – 103

a)Grenze des § 228 StGB93 – 97

b)Einzelne Fallgruppen98 – 103

3.Der ärztliche Heileingriff im Besonderen104 – 114

a)Einordnung und rechtliche Behandlung105 – 109

b)Mutmaßliche Einwilligung110, 111

c)Hypothetische Einwilligung112 – 114

4.Amtsbefugnisse im Besonderen115 – 119

IV.Aktuelle und zukünftige Entwicklungen120 – 129

1.Präventionsorientierung120, 121

2.Häusliche Gewalt122 – 124

3.Besonderer Schutz bestimmter Berufsgruppen125, 126

4.Reformbestrebungen des Gesetzgebers127 – 129

D.Sonstiges130 – 139

I.Historische Entwicklung der Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit im deutschen StGB130 – 132

II.Rechtsvergleich133 – 135

III.Bezüge zum Strafverfahrensrecht136 – 139

Ausgewählte Literatur

1. Abschnitt: Schutz von Leib und Leben › § 4 Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit › A. Einführung

A. Einführung

1

Die körperliche Unversehrtheit stellt in praktisch allen Rechtsordnungen ein besonders zentrales Schutzgut (auch) des Strafrechts dar. Die deutsche Rechtsordnung macht hier keine Ausnahme. Die körperliche Unversehrtheit gehört zusammen mit dem Leben und mindestens ebenso wie Eigentum und Vermögen zu den Kernrechtsgütern des StGB. Ihre Bedeutung als Schutzgut ist insbesondere durch das 6. StrRG 1998 noch einmal deutlich gestärkt worden. Mit dieser rechtlichen Wertung befindet sich der Strafgesetzgeber in weitgehender Übereinstimmung mit den gesellschaftlichen Vorstellungen und Einstellungen. Gewaltdelikte werden auch in der Bevölkerung zunehmend als besonders problematisch wahrgenommen. Aus beiden Umständen – rechtlicher wie gesellschaftlicher Bewertung – folgt die große praktische Bedeutung, die den Delikten gegen die körperliche Unversehrtheit zukommt. Neben Angriffen, Aggressionen und körperlichen Auseinandersetzungen spielen dabei auch Ereignisse im Straßenverkehr eine erhebliche Rolle.

2

Die Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit sind im 17. Abschnitt des Strafgesetzbuches geregelt. Vor der Umbenennung durch das 6. StrRG lautete die Überschrift des Abschnittes „Körperverletzungsdelikte“. Damit kam die objektiv-körperliche Betrachtung der Verletzungsdelikte zum Ausdruck, welche auch nach der Umbenennung noch gilt.[2] Die dort zu findenden Tatbestände der §§ 223 ff. StGB schützen die körperliche Unversehrtheit und die Gesundheit des Menschen.[3] § 223 StGB stellt den Grundtatbestand dar. Die Qualifikationstatbestände der §§ 224, 226 Abs. 2 sowie § 340 StGB (Körperverletzung im Amt) zeichnen sich durch gesteigertes Handlungsunrecht aus. Die Erfolgsqualifikationstatbestände der § 226 Abs. 1 und § 227 StGB beinhalten ein erhöhtes Erfolgsunrecht (besonders schwere Tatfolgen). § 229 StGB regelt die Strafbarkeit der fahrlässigen Körperverletzung. § 225 StGB umschreibt einerseits Qualifikationstatbestände des § 223 StGB, enthält andererseits aber auch einen selbstständigen Anwendungsbereich, sofern es um das Verursachen seelischer Beeinträchtigungen geht.[4] Solche Beeinträchtigungen sind von § 223 StGB nicht erfasst. Der im Jahr 2013 eingefügte § 226a StGB (Genitalverstümmelung) ist ein Sondertatbestand.[5] § 228 StGB bestimmt, dass eine Einwilligung in die Körperverletzung, die gegen die guten Sitten verstößt, rechtswidrig ist. Damit wird gesetzlich die Dispositionsbefugnis des*der Rechtsgutinhabers*Rechtsgutinhaberin umschrieben und verdeutlicht, dass die Einwilligung der verletzten Person einer Körperverletzung grundsätzlich die Rechtswidrigkeit nimmt. Schließlich bestimmt § 230 StGB die Antragsbedürftigkeit der einfachen vorsätzlichen Körperverletzung (§ 223 StGB) sowie der fahrlässigen Körperverletzung (§ 229 StGB); in § 231 StGB wird die Beteiligung an einer Schlägerei unter Strafe gestellt.

 

3

Neben den Regelungen des 17. Abschnitts gibt es weitere Regelungen, die (auch) die körperliche Unversehrtheit schützen. So kennt das StGB die Körperverletzung im Amt als Qualifikationstatbestand zu § 223 StGB (§ 340 StGB, siehe oben), die Wehrpflichtentziehung durch Verstümmelung (§ 109 StGB, vgl. dazu → BT Bd. 4: Henning Ernst Müller, Straftaten zum Schutz der Landesverteidigung, § 18 Rn. 16 ff.) und den Missbrauch ionisierender Strahlen (§ 311 StGB). Auch die Straßenverkehrsdelikte (§§ 315 ff. StGB) erfüllen in Teilbereichen die Funktion, die körperliche Unversehrtheit zu schützen. Im Nebenstrafrecht sind von Bedeutung insbesondere die §§ 95 ff. AMG, §§ 13, 29 Abs. 1 Nr. 6 BtMG, §§ 74 f. IfSG, § 7 KastrG, §§ 17, 25, 30 WStG, §§ 40 f. MPG, §§ 18 f. TPG und in Grenzen auch § 31 TFG.[6]

4

Die Tatbestände der §§ 223 ff. StGB erfassen insbesondere wesentliche Teile der sog. (vorsätzlichen) Gewaltkriminalität. Dieser kommt in der kriminalpolitischen Debatte und in der Medienberichterstattung über Straftaten eine besonders hervorgehobene Rolle zu, die in einem gewissen Widerspruch zu ihrer quantitativen Bedeutung steht. Die Kategorie Gewaltkriminalität in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS), die verschiedene Gewaltstraftaten (ohne einfache Körperverletzung) umfasst, macht mit knapp 3 % aller registrierten Straftaten nur einen geringen Anteil an der erfassten Gesamtkriminalität aus.[7] Im Gegensatz dazu werden Straßenverkehrsdelikte zwar deutlich seltener thematisiert und erscheinen demnach als ein geringeres gesellschaftliches Problem. Ihre zahlenmäßige Bedeutung im Bereich der Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit ist jedoch erheblich, namentlich die der fährlässigen Körperverletzung (§ 229 StGB).

5

Der rechtliche Bereich der Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit in den §§ 223 bis 231 StGB und die tatsächlichen Phänomene der Gewalt überschneiden sich großflächig, sind aber nicht deckungsgleich. Einerseits ist Gewalt auch in anderen Tatbeständen Deliktsmerkmal, sodass diese Normen ebenfalls Gewalt bestrafen. Andererseits definieren sich die Körperverletzungsdelikte über das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit und erfassen somit auch Handlungen, die nicht der klassischen Gewaltkriminalität zugeordnet werden, wie etwa Verletzungen im Straßenverkehr. Seit jeher besteht im deutschen Rechtskreis die Tendenz, die Verletzungsdelikte auf körperliche Eingriffe zu beschränken und seelische Verletzungen außer Betracht zu lassen. Eine Ausnahme hiervon bildet lediglich der Tatbestand des § 225 StGB (1933 eingeführt als § 223b StGB). Die jüngere Entwicklung deutet allerdings auf eine Änderung in dieser Frage zumindest außerhalb der klassischen Körperverletzungsdelikte hin, wie der Tatbestand der Nachstellung (§ 238 StGB, vgl. Rn. 120 f.) und die Rechtsprechung zu Mobbing-Fällen (Rn. 36) zeigen.

1. Abschnitt: Schutz von Leib und Leben › § 4 Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit › B. Grundlagen

B. Grundlagen

I. Verfassungsrechtliche Vorgaben aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG

6

Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verbürgt als Grundrecht die körperliche Unversehrtheit verfassungsrechtlich, unabhängig von der Staatsbürgerschaft. Diese Verankerung des Schutzes der körperlichen Unversehrtheit ist verfassungshistorisch relativ neu, der einfachrechtliche Rechtsgüterschutz ist älter. So ist das ausdrückliche Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verfassungsrechtliches Novum des Grundgesetzes, bis dahin erfolgte der Schutz des Rechtsguts nur einfachrechtlich durch das Strafrecht.[8] Gleichwohl war das Recht auf körperliche Unversehrtheit auch vor dem Grundgesetz verfassungsrechtlich nicht irrelevant, sondern wurde als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt. Diese wurde jedoch durch die nationalsozialistischen Herabwürdigungen, beispielsweise des sog. lebensunwerten Lebens, in extremer Weise untergraben, weshalb sich eine ausdrückliche Normierung im Grundgesetz empfahl.[9]

7

Als Grundrecht ist Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in erster Linie ein Abwehrrecht, das vor nicht nur geringfügigen Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit schützt.[10] Damit besteht auch außerhalb des strafrechtlichen Verbotes der §§ 223 ff. StGB ein grundgesetzlicher Abwehranspruch bezüglich Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit zumindest gegenüber dem Staat.[11] Neben dem Abwehranspruch folgt aus dem Grundrecht aber auch ein Schutzanspruch der einzelnen Person, welcher sowohl durch präventive polizei- und ordnungsrechtliche Vorschriften, als auch durch das repressive Strafrecht erfüllt werden kann,[12] da die herrschenden Strafzwecktheorien Straftatbeständen (auch) eine präventive Funktion[13] beimessen. Dementsprechend können die §§ 223 ff. StGB als eine konkretisierende Ausgestaltung der aus dem Grundrecht folgenden Schutzpflicht verstanden werden. In jüngerer Zeit wurde der Schutzanspruch beispielsweise durch das Gewaltschutzgesetz vom 11. Dezember 2001[14] umgesetzt, wie auch durch die polizeirechtlichen Befugnisse zur Wohnungsverweisung.[15] Zusammengefasst kann Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG als Auftrag an den Gesetzgeber gelesen werden, die Bürger*innen vor rechtswidrigen Angriffen auf die körperliche Unversehrtheit auch durch das Strafrecht zu schützen, wobei die konkrete Umsetzung – wie stets – dem Gesetzgeber überlassen ist.[16]

8

Die Fassung des Schutzgutes in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG entspricht dem des Rechtsguts in den §§ 223 ff. StGB, sodass die verfassungsrechtlichen Vorgaben weder eine erweiternde noch eine restriktive Auslegung der Körperverletzungstatbestände nahelegen.[17] Beispielsweise kann dem Grundrecht kein Auftrag an den Gesetzgeber entnommen werden, rein psychische Belastungen strafrechtlich als Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit zu erfassen. Die Auslegung des Grundrechts und der §§ 223 ff. StGB, die jeweils die körperliche Unversehrtheit schützen, erfolgt vielmehr synchron.[18] Dies ändert freilich nichts daran, dass das Verständnis vom Umfang des Schutzanspruchs erheblichen Veränderungen unterliegt, wie etwa die ältere Rechtsprechung des BGH zum körperlichen Züchtigungsrecht von Lehrkräften bzw. von Eltern gegenüber Kindern zeigt. Danach war die körperliche Züchtigung zwar tatbestandsmäßig, aber gerechtfertigt.[19]

II. Begriff, gesellschaftliche Bewertung und Formen der Gewalt

9

Wie in der Einführung dargestellt, überschneiden sich der Anwendungsbereich der §§ 223 ff. StGB und das gesellschaftliche Phänomen der Gewalt großflächig. Dementsprechend kommt für die Relevanz, das Verständnis und die Entwicklung dieses Deliktsbereiches der Frage erhebliche Bedeutung zu, was gesellschaftlich unter Gewalt verstanden und wie Gewalt bewertet wird.

10

Der Begriff „Gewalt“ unterliegt hinsichtlich seines Verständnisses einem massiven Wandel im Zeitverlauf und wird in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen unterschiedlich ausgefüllt.[20] So werden in der Soziologie, die zwar grundsätzlich für einen weiten Gewaltbegriff steht, im Detail unterschiedlich weite Gewaltbegriffe vertreten.[21] Danach lassen sich zunächst verschiedene Formen der Gewalt unterscheiden. Eine erste Differenzierung trennt zwischen personaler und struktureller Gewalt. Unter den Begriff der strukturellen Gewalt fallen gesellschaftliche Rahmenbedingungen bzw. Zwangsmerkmale der sozialen Systeme. Dies können beispielsweise bestimmte Pflichten sein, die die Gesellschaft den einzelnen Personen auferlegt, wie Steuerpflichten, die Wehrpflicht oder grundsätzlich der Druck, der über Hierarchien ausgeübt werden kann.[22] Die personale Gewalt lässt sich weiter in die physische und psychische Gewalt ausdifferenzieren. Die physische Gewalt lässt sich ihrerseits unterteilen in Gewalt gegen Personen und Gewalt gegen Sachen (Vandalismus).

11

In der Kriminologie wird regelmäßig auf die verschiedenen Formen der Gewalt nach der benannten soziologischen Kategorisierung verwiesen, es findet sodann eine Konzentration auf personale Gewalt statt, insbesondere auf solche gegenüber anderen Menschen.[23] Der rechtliche Gewaltbegriff ist noch enger. Der Gewaltbegriff des Strafgesetzbuches, welcher insbesondere im Rahmen der Nötigung (§ 240 StGB, vgl. → BT Bd. 4: Brian Valerius, Nötigung, Bedrohung und Zwangsheirat, vgl. § 5 Rn. 30 ff.) sowie der Raubdelikte (§§ 249 ff. StGB) eine Rolle spielt, wird nach überwiegender Auffassung als körperlich wirkender Zwang zur Überwindung eines geleisteten oder erwarteten Widerstands[24] verstanden. Es handelt sich dabei um einen eher engen Gewaltbegriff, der die personale physische Gewalt gegen Personen umfasst.[25] Der statistische Gewaltbegriff des Bundeskriminalamts (BKA) in der PKS wiederum definiert Gewaltkriminalität als Summenschlüssel und fasst darunter ausschließlich physische Gewalt gegen Personen und dabei nur schwere Gewaltdelikte wie Mord, Totschlag, Vergewaltigung und sexuelle Nötigung, Raubdelikte sowie qualifizierte Körperverletzungsdelikte.

12

Das deutsche Strafgesetzbuch schützt praktisch nur vor personaler Gewalt und hier in erster Linie die körperliche Unversehrtheit, nicht die psychische. Dementsprechend stellen die §§ 223 ff. StGB einen Teil der physischen Gewalt gegen Personen unter Strafe. Gewalt gegen Sachen wird von den Sachbeschädigungsdelikten sowie den Brandstiftungsdelikten abgedeckt. Psychische Gewalt lässt sich schwerer definieren und wird nur ausschnittsweise durch das StGB pönalisiert. So können zwar Drohungen mit Gewalt (Nötigung, Bedrohung, Erpressung) sowie verbale Aggressionen (als Beleidigung i.S.d. §§ 185 ff. StGB) geahndet werden. Andere Formen der psychischen Gewalt hingegen sind nicht oder nur schwer mit dem Strafgesetzbuch verfolgbar (z.B. Mobbing, Diskriminierung, Demütigung). Neuere Entwicklungen zeigen, dass der Gesetzgeber auch psychische Gewalt mehr in den Vordergrund rückt und mit dem Mittel des Strafrechts angehen will. So gibt es seit 2007 den Straftatbestand der Nachstellung (§ 238 StGB, dazu → BT Bd. 4: Jörg Eisele, Freiheitsberaubung und Nachstellung, § 6 Rn. 35 ff.), welcher Stalking unter Strafe stellt. Auch die Neuerungen im Sexualstrafrecht deuten auf eine solche Entwicklung hin.

 

13

Die gesellschaftliche Wahrnehmung und Bewertung von körperlicher Gewalt haben sich in der jüngeren Vergangenheit in Deutschland stark gewandelt. Insgesamt hat sich in den westlichen Gesellschaften seit den 1970er Jahren der diesbezügliche Diskurs erheblich geändert.[26] Die körperliche Gewalt wird heute deutlich negativer bewertet als früher, dementsprechend stärker geächtet und es besteht eine stärkere Sensibilisierung für einschlägige Geschehensabläufe.[27]

III. Praktische Bedeutung des Bereichs

14

Die praktische Bedeutung der §§ 223 ff. StGB ist erheblich. Jährlich werden in der PKS etwa 550 000[28] Fälle aus diesem Deliktsbereich erfasst. Für eine genauere Bewertung ist zwischen den verschiedenen Deliktsformen in diesem Bereich zu unterscheiden.

15

Die §§ 223 ff. StGB erfassen zunächst einen erheblichen Teil der sog. Gewaltkriminalität. Hierbei handelt es sich um eine statistische Kategorie aus der PKS, die besonders gravierende Gewaltdelikte gegen Personen umfasst (Mord, Totschlag, Vergewaltigung und sexuelle Nötigung, Raub, räuberische Erpressung, Körperverletzung mit Todesfolge, gefährliche und schwere Körperverletzung, erpresserischer Menschenraub u.a.).[29] Nicht berücksichtigt werden u.a. die einfache und die fahrlässige Körperverletzung. Die in dieser Form zusammengefasste Gewaltkriminalität stellt nur einen geringen Anteil von 3 % an der Gesamtkriminalität dar. Wesentlich bedeutsamer ist demgegenüber die vorsätzliche einfache Körperverletzung, die einen Anteil von ca. 6,4 % der Gesamtkriminalität ausmacht.[30] Bis 2007 war im Hellfeld ein kontinuierlicher Anstieg der Gewaltdelikte zu verzeichnen. Seit 2008 folgte ein leichter Rückgang der registrierten Fälle. Ab 2015 steigt die Zahl jedoch wieder geringfügig an und es gibt eine Zunahme insbesondere im Bereich der „gefährlichen und schweren Körperverletzung“ sowie bei der „einfachen vorsätzlichen Körperverletzung“. Dagegen hat die Anzahl der Fälle der „Raubdelikte insgesamt“ abgenommen.[31]

16

Diese Hellfeldzahlen lassen alleine keine Schlüsse bezüglich der tatsächlichen Entwicklung dieses Deliktsbereichs zu, da sie das Dunkelfeld nicht bekanntgewordener Taten nicht berücksichtigen. Welche und wie viele Fälle in das Hellfeld gelangen, ist insbesondere abhängig vom Anzeigeverhalten der Bevölkerung, der Intensität polizeilicher Kontrolle und unterliegt zahlreichen Verzerrungsfaktoren.[32] Eine umfassendere Kenntnis über das tatsächliche Kriminalitätsaufkommen kann nur durch eine gemeinsame Analyse von Hell- und Dunkelfeld erlangt werden. Das Dunkelfeld kann durch Dunkelfeldstudien (Täter*innen- wie Opferbefragung) teilweise aufgehellt werden. Bei der Erhebung von Delikten im sozialen Nahbereich ist dies sehr anspruchsvoll, da in eine Tabuzone vorgedrungen wird.[33] Im deutschen Viktimisierungssurvey aus dem Jahr 2012 gaben 2,8 % der Befragten an, in den vorangegangenen zwölf Monaten mindestens einmal Opfer eines Körperverletzungsdelikts geworden zu sein.[34] Bezogen auf die berichteten Fälle von Körperverletzungen (hier sind auch mehrere Fälle pro Person erfasst) ergab sich für den gleichen Zeitraum eine Belastung von 50 Vorfällen pro 100 000 Einwohner*innen.[35] Zu ähnlichen Ergebnissen gelangten in Niedersachsen und Schleswig-Holstein durchgeführte repräsentative Dunkelfeldstudien, bei denen zwischen 1,9 und 2,3 % der Bevölkerung angaben, im Vorjahr Opfer einer Körperverletzung geworden zu sein (Niedersachsen: 2012 2,3; 2014 1,9; 2016 2,3; Schleswig-Holstein: 2014 2,0; 2016 2,3).[36]

17

Im Rahmen einer repräsentativen Bochumer Studie wurden zu vier verschiedenen Messzeitpunkten (1975, 1986, 1998, 2016) Daten bezüglich der Dunkelfeldkriminalität erhoben.[37] Dabei konnte festgestellt werden, dass bei den Körperverletzungen[38] die Anzahl der angezeigten und nicht angezeigten Körperverletzungen zwischen 1975 und 1986 weitgehend konstant blieb, zwischen 1986 und 1998 wurde indes ein deutlicher Anstieg verzeichnet. Dabei nahmen allerdings vor allem die Hellfelddaten zu und zwar um über 100 %, während die Hell- und Dunkelfelddaten insgesamt nur um 20 % stiegen. Der starke Anstieg im Hellfeld beruhte größtenteils auf einer erhöhten Anzeigebereitschaft in der Bevölkerung.[39] Danach haben Anti-Gewalt-Aufrufe, Anzeigeverpflichtungen der Schulen sowie das Gewaltschutzgesetz u.Ä. zu einer zunehmenden Sensibilisierung der Bevölkerung geführt und sich so auf das Anzeigeverhalten ausgewirkt.[40]

18

Nach den vorliegenden Erkenntnissen aus dem Hell- und Dunkelfeld geht die Kriminologie davon aus, dass Gewaltdelinquenz und damit auch Körperverletzungsdelikte in der deutschen Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten insgesamt zurückgegangen sind.[41] Die in der Vergangenheit zu beobachtende Zunahme von Gewaltdelinquenz im Hellfeld wird nicht auf einen tatsächlichen Anstieg von Delikten, sondern auf ein geändertes Anzeigeverhalten zurückgeführt, das durch die gewandelte gesellschaftliche Wahrnehmung von und die Sensibilisierung für Gewalt bedingt ist. Unbeschadet dessen sind insbesondere leichte Formen von Gewalt nach wie vor weit verbreitet und können bis zu einem schwer bestimmbaren Grad als normale Form der Auseinandersetzung verstanden werden. Bei der Anwendung von Gewalt in Form von Körperverletzungshandlungen sind sowohl schicht- als auch altersspezifische Unterschiede festzustellen. Insbesondere gelten leichte Erscheinungsformen von Gewaltdelinquenz im Jugendalter als normal.[42]

19

Zunehmende Aufmerksamkeit hat in der jüngeren Vergangenheit das gesellschaftliche Problem der „häuslichen Gewalt“ gefunden (Näheres vgl. Rn. 122 ff.). Seit 2012 stellt das BKA das Lagebild zur „Partnerschaftsgewalt“ bereit. Als „häusliche Gewalt“ werden dabei bestimmte Delikte erfasst (u.a. Mord und Totschlag, Körperverletzung, Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, Bedrohung, Stalking), wenn diese zwischen „Ehepartnern“, „Partnern nichtehelicher Lebensgemeinschaften“, in einer „eingetragenen Lebenspartnerschaft“ oder in einer „ehemaligen Partnerschaft“ verwirklicht worden sind. Für das Hellfeld ergibt sich für die oben aufgezählten Straftaten eine Gesamtzahl von insgesamt 133 080 Opfern (2016) von vollendeten und versuchten Delikten.[43]

20

Einen eigenständigen Bereich des strafrechtlichen Schutzes der körperlichen Unversehrtheit stellt der Straßenverkehr dar, wo der fahrlässigen Körperverletzung (§ 229 StGB) eine erhebliche praktische Bedeutung zukommt.[44] Zwar werden Straßenverkehrsdelikte seit 1963 nicht mehr in der PKS aufgeführt, dafür sind sie aber in der Strafverfolgungsstatistik des Statistischen Bundesamtes zu finden. Von der Gesamtzahl aller Abgeurteilten wurden im Jahr 2016 1,5 % der Personen wegen fahrlässiger Körperverletzung (§ 229 StGB) im Straßenverkehr abgeurteilt.[45]