Handbuch des Strafrechts

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A. Rechtsgut und Angriffsobjekt

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Die Straftatbestände über den Schwangerschaftsabbruch (§§ 218 ff. StGB) sind gesetzessystematisch unter dem Titel „Straftaten gegen das Leben“ im sechzehnten Abschnitt des Strafgesetzbuchs verankert. Das geschützte Rechtsgut des besagten Abschnitts stellt das menschliche Leben dar, wobei neben dem ungeborenen menschlichen Leben während einer Schwangerschaft, der sog. Leibesfrucht, vor allem auch das Leben bereits geborener Menschen einen strafrechtlichen Schutz erfährt.[2] Dabei wird dem bereits geborenen Menschen durch die im Strafgesetzbuch verankerten Tötungsdelikte ein deutlich weiterer Schutz zuerkannt als dem ungeborenen menschlichen Leben anhand der Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch.[3] Währenddem die Tötungsdelikte für den geborenen Menschen gewissermaßen einen „strafrechtlichen Rundumschutz“ vorsehen, indem nebst der vorsätzlichen auch die fahrlässige tödliche Einwirkung auf ein Menschenleben unter Strafe gestellt wird, erfährt die Leibesfrucht lediglich einen beschränkten Lebensschutz.[4] Denn im Gegensatz zum geborenen menschlichen Leben werden lediglich vorsätzliche Beeinträchtigungen, die ein Absterben der Leibesfrucht bewirken, strafrechtlich geahndet, wohingegen fahrlässige, eine Schwangerschaft abbrechende Einwirkungen nicht von den erwähnten Straftatbeständen des Strafgesetzbuchs (§§ 218 f. StGB) erfasst werden.[5] Anders als die Leibesfrucht im Mutterleib (sog. Embryo in vivo) genießt der Embryo in vitro, d.h. der extrauterine Embryo, im Strafgesetzbuch keinerlei strafrechtlichen Schutz.[6] Für sie ist ein strafrechtlicher Schutz im Embryonenschutzgesetz (ESchG) vorgesehen.[7]

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Das Angriffsobjekt eines jeden Schwangerschaftsabbruchs stellt die sog. Leibesfrucht dar.[8] Den Begriff der Leibesfrucht gilt es jedoch aus medizinischer Sicht zu konkretisieren. Im Stadium der Schwangerschaft von der Kernverschmelzung bis hin zum Abschluss der Organentwicklung, welche gegen Ende der 8. Schwangerschaftswoche erfolgt, wird die Leibesfrucht als Embryo bezeichnet.[9] Dagegen spricht man ab der 9. Schwangerschaftswoche, also dem Zeitpunkt der abgeschlossenen Organentwicklung bis hin zur Geburt gemeinhin von einem Fötus.[10]

1. Abschnitt: Schutz von Leib und Leben › § 3 Schwangerschaftsabbruch › B. Das Lebensrecht eines ungeborenen Kindes

B. Das Lebensrecht eines ungeborenen Kindes

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Lehre und Rechtsprechung beschäftigen sich seit geraumer Zeit mit der Frage nach der Schutzwürdigkeit des ungeborenen menschlichen Lebens. Im Brennpunkt dieser Diskussion steht dabei die Frage, ob sowohl dem inter- als auch dem extrakorporalen werdenden Leben die Menschenwürde im Sinne von Art. 1 Abs. 1 GG bzw. das in Art. 2 Abs. 2 GG normierte Recht auf Leben zukommen soll.[11]

I. Schutzumfang Ungeborener nach dem Grundgesetz und nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

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Nach herrschender Lehre schützt Art. 1 Abs. 1 GG als Grundrecht die Würde jedes Menschen, welche gemäss Gesetzestext unantastbar ist.[12] Jeder Eingriff in die Menschenwürde ist demzufolge als verfassungswidrig anzusehen.[13] Somit stellt die Menschenwürde das oberste Gut der Grundverfassung dar, welches es seitens des Staates zu schützen gilt.[14] Dem Grundrecht der Menschenwürde kommt allerdings neben einer Schutz- auch eine Abwehrfunktion zu.[15] Zusammenfassend ist der Menschenwürdeschutz in Art. 1 Abs. 1 GG keiner Abwägung mit anderen Rechtsgütern zugänglich, vielmehr ist er als abwägungsresistent zu bezeichnen.[16] Fraglich ist, ob die Menschenwürde auch dem ungeborenen menschlichen Leben zukommt. Nach herrschender Lehre gebührt der Grundrechtsschutz der Menschenwürde jedem menschlichen Leben vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung (sog. Konzeption bzw. Empfängnis) an, wobei gewisse Lehrmeinungen auch einen Würdeschutz erst ab der Nidation (Einnistung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutter der Frau) befürworten.[17] Betreffend die Debatte, ob auch dem Embryo in vitro der Grundrechtsschutz der Menschenwürde und des Lebensrechts zukommt, wird nach wie vor rege diskutiert.[18] So sprechen sich einige Lehrmeinungen hinsichtlich der Frage der Grundrechtsträgerschaft für eine Gleichbehandlung des Embryos in vivo und in vitro aus, während andere einer differenzierten Betrachtungsweise den Vorrang einräumen.[19] Zu beachten gilt es, dass der extrakorporal gezeugte Embryo im Rahmen des ESchG weitgehend vor missbräuchlicher Verwendung geschützt wird.[20] Insbesondere hervorzuheben ist § 2 Abs. 1 ESchG, wonach die Vernichtung eines extrakorporal erzeugten Embryos generell unter Strafe gestellt wird. In der Lehre wird insofern Kritik an dieser Regelung geübt, als zwischen der Schutzwürdigkeit des extrakorporalen und des intrakorporalen Embryos eine Diskrepanz besteht, da im Gegensatz zum Embryo in vitro die Vernichtung des Embryos in vivo unter den Voraussetzungen von § 218a Abs. 1 StGB nicht strafrechtlich geahndet wird.[21] Darüber hinaus soll nach der Intention des Gesetzgebers und nach vorherrschender Auffassung in der Lehre auch dem Embryo in vitro das im Grundgesetz normierte Lebensrecht nach Art. 2 Abs. 2 GG zukommen.[22] Anders als der Embryo in vivo im Strafgesetzbuch wird der Embryo in vitro durch das ESchG bereits ab dem Zeitpunkt der Kernverschmelzung, d.h. in der Pränidationsphase, geschützt, was aber bereits aus sachlogischer Sicht einleuchtend sein sollte, da ein extrakorporaler Embryo nur zwischen dem Zeitpunkt der Kernverschmelzung mittels In-vitro-Fertilisation (IVF) und der Nidation einer weiteren, über diejenige des Strafrechts hinausgreifenden Schutzwürdigkeit bedarf, da mit erfolgtem Embryonentransfer in die Gebärmutter einer Frau die Schutzwürdigkeit des Embryos durch die Straftatbestände in den §§ 218 ff. StGB sowie durch das GG (siehe weiter unten) sichergestellt wird.[23]

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Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich bereits mit der Frage nach der Grundrechtsträgerschaft des ungeborenen Lebens befasst. Dabei gilt es laut Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Sinne von Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 2 GG nicht nur das menschliche Leben nach seiner Geburt, sondern auch den Embryo bzw. Fötus zu schützen.[24] So hält das Bundesverfassungsgericht in seinem Leitentscheid aus dem Jahr 1993 fest: „Ihren Grund hat diese Schutzpflicht in Art. 1 Abs. 1 GG, der den Staat ausdrücklich zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet; ihr Gegenstand und – von ihm her – ihr Maß werden durch Art. 2 Abs. 2 GG näher bestimmt“.[25] Darüber hinaus weist das Bundesverfassungsgericht darauf hin, dass „wo menschliches Leben existiert, … ihm [auch] Menschenwürde zu[kommt]“, d.h. es darf nicht zwischen ungeborenem und geborenem Leben unterschieden werden.[26] Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist folglich nicht nur dem bereits geborenen Menschen, sondern ebenso dem ungeborenen Leben die Menschenwürde zuzuerkennen.[27] Allerdings hat es das Bundesverfassungsgericht bisher offengelassen, ob der Grundrechtsschutz Ungeborener bereits im Zeitpunkt der Kernverschmelzung oder erst mit erfolgter Nidation beginnt.[28] Eine diesbezügliche Leitentscheidung wäre allerdings insbesondere im Hinblick auf die Schutzwürdigkeit des Embryos in vitro wünschenswert wie auch geboten.[29]

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Ebenso wie die Menschenwürde stellt auch das Lebensrecht im Sinne von Art. 2 Abs. 2 GG ein Grundrecht dar.[30] Auch dem Lebensrecht kommt eine fundamentale Bedeutung zu.[31] So halten Art. 2 Abs. 2 S. 1 und S. 3 GG fest, dass jeder ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit hat (S. 1) und dass nur kraft eines Gesetzes in diese Rechte eingegriffen werden darf (sog. Gesetzesvorbehalt, S. 3). Die Lehre ist sich einig, dass dem menschlichen Leben mit vollendeter Geburt zweifelsohne eine diesbezügliche Grundrechtsträgerschaft zukommt.[32] Da aber im Strafrecht das menschliche Leben bereits mit Einsetzen des Geburtsaktes (siehe Rn. 15) beginnt, rechtfertigt es sich nach allgemeinem Dafürhalten, dass bereits in diesem Zeitpunkt die Schutzwirkungen von Art. 2 Abs. 2 GG greifen.[33] Uneinigkeit besteht allerdings hinsichtlich der Frage, ob auch dem ungeborenen menschlichen Leben ein Lebensrecht bzw. eine Grundrechtsträgerschaft des Lebensrechts zugestanden werden soll und wenn ja, ab welchem Zeitpunkt. Einige Lehrmeinungen setzen sich für ein Lebensrecht und eine Grundrechtsträgerschaft des intrakorporalen Embryos ab dem Zeitpunkt der Konzeption ein, andere für eine Schutzbedürftigkeit erst mit erfolgter Nidation.[34] Für den extrakorporal gezeugten Embryo kann diese Streitfrage allerdings – wie bereits erwähnt – nicht abschließend beantwortet werden.[35]

 

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Auch nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bedingt die verfassungsrechtliche Schutzpflicht der Menschenwürde, dass der Staat das ungeborene Leben nicht nur vor unmittelbaren staatlichen Eingriffen, sondern auch vor rechtswidrigen Eingriffen seitens anderer bewahrt.[36] Dabei nimmt laut Bundesverfassungsgericht mit zunehmender Bedeutung des jeweiligen Rechtsguts auch die diesbezügliche Schutzverpflichtung des Staates zu.[37] Da das Rechtsgut des menschlichen Lebens als Grundlage anderer Grundrechte von elementarer Bedeutung ist, wird auch seinem Schutzbedürfnis ein hoher Stellenwert zugemessen.[38]

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Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Frage nach der Grundrechtsträgerschaft des werdenden Lebens im Sinne von Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG stößt seitens der Lehrmeinungen zu Recht auf Kritik.[39] Unter anderem wird angeführt, dass der Verfassungswortlaut streng genommen nur „die Würde des Menschen“ schütze, wobei zumindest aus strafrechtlicher Sicht erst mit Einsetzen der Geburtswehen (im Zivilrecht sogar erst nach erfolgter Geburt) von einem Menschen gesprochen werden könne.[40] Insofern sei nicht ersichtlich, weshalb sich die Rechtsprechung auf Verfassungsebene gegen eine differenziertere Schutzwürdigkeit Ungeborener sowie gegen die Befürwortung eines abgestuften Lebensschutzes Ungeborener ausspreche.[41] Unter den Voraussetzungen von § 218a StGB wird der Abbruch einer Schwangerschaft seitens des Gesetzgebers ja als nicht tatbestandsmäßig bzw. nicht rechtswidrig eingestuft.[42] Im Lichte der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung stehe dies in einem deutlichen Widerspruch zu den Verfassungsnormen von Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG.[43] Denn durch die verfassungsrechtlich postulierte Unantastbarkeit der Menschenwürde könnten keinerlei Eingriffe in die Würde des Menschen als gerechtfertigt bzw. zulässig angesehen werden, auch nicht ein Schwangerschaftsabbruch.[44] Konkret bedeutet dies, dass ein Schwangerschaftsabbruch deshalb grundsätzlich als unzulässig betrachtet werden müsste.[45] Ein Ausweg aus dieser verfassungsrechtlichen Kontroverse lässt sich folglich nur auf dem Weg der Gesetzesauslegung im Sinne einer objektiv-teleologischen Auslegung finden. Denn richtigerweise ist zu (hinter-)fragen, welchen Zweck der besagten Verfassungsnormen nach dem heutigen Wertungshorizont unter Einbezug der gegenwärtigen Gesetzeslage (hic et nunc-Betrachtung) beigemessen werden sollte.[46] Mit Blick auf die strafrechtlichen Regelungsnormen zum Schwangerschaftsabbruch müsste also unter dem Gesichtspunkt der objektiv-teleologischen Auslegung folgerichtig ein unantastbarer Würdeschutz und ein umfassendes Lebensrecht Ungeborener verneint, hingegen eine abgestufte Schutzwürdigkeit der Leibesfrucht bejaht werden.[47] Selbst das Bundesverfassungsgericht ließ in seinem ersten Leitentscheid zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs verlauten: „Der Gesetzgeber ist grundsätzlich nicht verpflichtet, die gleichen Maßnahmen strafrechtlicher Art zum Schutze des ungeborenen Lebens zu ergreifen, wie er sie zur Sicherung des geborenen Lebens für zweckdienlich und geboten hält“.[48] Das Bundesverfassungsgericht weist auch darauf hin, dass der verfassungsrechtlich normierte Schutzumfang nach Art. 2 GG lediglich eine Zielnorm darstellt, die Ausgestaltung des Lebensschutzes im Einzelnen aber dem Gesetzgeber obliegt.[49] Zudem schließt das Bundesverfassungsgericht aus dem Umstand, dass dem Grundgesetz selbst kein Hinweis auf eine allfällige Abstufung des Lebensrechts entnommen werden kann, auf das Zugeständnis eines verfassungsrechtlich gleichwertigen Schutzumfangs des ungeborenen und des geborenen menschlichen Lebens.[50] So hält das Bundesverfassungsgericht in seiner zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruchs-Entscheidung fest: „Das Grundgesetz enthält für das ungeborene Leben keine vom Ablauf bestimmter Fristen abhängige, dem Entwicklungsprozess der Schwangerschaft folgende Abstufungen des Lebensrechts und seines Schutzes“.[51] Dieses Schweigen des Gesetzgebers zur Frage eines abgestuften Lebensschutzes kann aber im Sinne eines argumentum e contrario geradezu auch für die Zulässigkeit eines abgestuften Lebensschutzes herangezogen werden.

II. Schutzumfang der Schwangeren nach dem Grundgesetz und nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

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Als besonders problematisch erweist sich das Zugeständnis eines Lebensrechts Ungeborener im Hinblick auf die der Schwangeren verfassungsrechtlich gewährleisteten bzw. zustehenden Grundrechte. Insbesondere die Achtung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) sowie das Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) sind im Zusammenhang mit dem Diskurs über einen absoluten Lebensschutz Ungeborener von Relevanz.[52] Namentlich bei einer Kollision zwischen den Grundrechten eines Ungeborenen und denjenigen einer Schwangeren drängt sich die Frage auf, welchem Grundrechtsträger der Vorrang einzuräumen ist. Das Bundesverfassungsgericht hält in seinem zweiten Entscheid zum Schwangerschaftsabbruch aus dem Jahre 1993 fest, dass es sich beim Ungeborenen „um individuelles, in seiner genetischen Identität und damit in seiner Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit bereits festgelegtes, nicht mehr teilbares Leben [handelt], das im Prozess des Wachsens und Sich-Entfaltens sich nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch entwickelt“.[53] Deshalb gilt es gemäss Bundesverfassungsgericht, dieses Leben von Beginn seiner Existenz an zu achten und zu schützen, weshalb auch Ungeborenen ein eigenes Lebensrecht zu gewährleisten ist.[54] In diesem Sinne lässt es auch verlauten, „dass der Schwangerschaftsabbruch für die ganze Dauer der Schwangerschaft grundsätzlich als Unrecht angesehen wird und demgemäss rechtlich verboten ist“.[55] Weiter folgert das Bundesverfassungsgericht, dass kein Durchgriff der Grundrechte der Schwangeren gegenüber dem gesetzlich normierten Verbot des Schwangerschaftsabbruchs erfolgt.[56] Konkret bedeutet dies, dass grundsätzlich eine auf dem Grundgesetz basierende Rechtspflicht der Schwangeren zur Austragung des Kindes im Mutterleib besteht.[57] Zusammenfassend steht folglich die Schutzwürdigkeit des ungeborenen menschlichen Lebens laut der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts deutlich im Vordergrund.[58] Trotzdem relativiert auch das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung dahingehend, dass dem Lebensschutz des Embryos in vivo kein absoluter Vorrang zukommen soll, vielmehr soll gemäss Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG in das Lebensrecht eines jeden auf Grundlage eines Gesetzes eingegriffen werden können.[59] Dabei muss die Schutzbedürftigkeit des Lebens Ungeborener gegenüber anderweitigen, mit dieser kollidierenden, schützenswerten Rechtsgütern abgewogen werden.[60] Im Zusammenhang mit der Thematik des Schwangerschaftsabbruchs gilt es insbesondere das Lebensrecht eines Ungeborenen und die Rechtsgüter einer Schwangeren, namentlich das ihr zustehende Recht auf Leben bzw. körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) oder ihre Persönlichkeitsrechte (Art. 2 Abs. 1 GG), gegeneinander abzuwägen.[61] So kommt auch das Bundesverfassungsgericht zum Schluss, dass es im Falle einer Grundrechtskollision zwischen den Rechtsgütern der Schwangeren und denjenigen des ungeborenen Kindes in Ausnahmesituationen womöglich geboten wäre, der Schwangeren eine Rechtspflicht zur Austragung der Schwangerschaft nicht aufzuerlegen.[62] Eine Definition dieser sog. „Ausnahmesituationen“ wird vom Bundesverfassungsgericht allerdings in die Hände der Legislative gelegt.[63] Folgerichtig muss in Fällen absoluter Unzumutbarkeit einer Schwangerschaft gegenüber der Schwangeren ein Abbruch vorgenommen werden dürfen bzw. als zulässig erachtet werden. Als Fälle der Unzumutbarkeit werden gemeinhin Konstellationen erachtet, in denen eine Fortdauer der Schwangerschaft das Leben der Schwangeren ernsthaft gefährden, auf unerträgliche Art und Weise deren Gesundheit beeinträchtigen oder schließlich gegen die Würde der Schwangeren verstoßen würde, was vor allem bei einer Vergewaltigung zutreffen dürfte.[64] Allerdings ist diese Aufzählung nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht abschließend, vielmehr hat sich der Gesetzgeber bei einer Festlegung von Ausnahmesituationen am Kriterium der Unzumutbarkeit der Schwangerschaft zu orientieren.[65]

III. Schutzumfang Ungeborener nach der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

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Das Recht auf Leben wird nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene geschützt. So hält die in Deutschland am 3. September 1953 in Kraft getretene Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten in Art. 2 Abs. 1 fest, dass das Recht auf Leben jedes Menschen gesetzlich geschützt ist.[66] Durch die Aufführung dieses Grundrechts am Anfang des Menschenrechtskatalogs wird ersichtlich, dass das Recht auf Leben eine fundamentale Garantie der Europäischen Menschenrechtskonvention darstellt.[67] Fraglich ist jedoch, ob der Lebensschutz von Art. 2 Abs. 1 EMRK sowohl geborenem als auch ungeborenem menschlichen Leben zukommen soll. Der Wortlaut der besagten Norm lässt keine abschließende Antwort auf diese Frage zu.[68] Ebenso besteht innerhalb der Vertragsstaaten der EMRK kein Konsens über den Zeitpunkt des Beginns menschlichen Lebens.[69] Schon 1980 setzte sich die Europäische Kommission für Menschenrechte eingehender mit dieser Problematik auseinander. Bei der Auslegung des Wortlauts von Art. 2 Abs. 1 EMRK kam die Kommission zum Schluss, dass die Begrifflichkeiten „jeder Mensch“ und „Leben“ durch die Konvention nicht näher definiert würden[70] und sich die Bezeichnung „jeder Mensch“ bei systematischer Auslegung der Konvention lediglich auf geborene Menschen beziehen könne.[71] Anschliessend nahm die Kommission zur Frage Stellung, ob der Gesetzeswortlaut „Leben“ sowohl das geborene als auch das ungeborene menschliche Leben umfasst. Sie führte dabei drei mögliche Interpretationsansätze der Konventionsnorm an.[72] Entweder sei Art. 2 Abs. 1 EMRK dahingehend zu verstehen, dass (1) Ungeborene überhaupt nicht von der betreffenden Konventionsbestimmung erfasst werden, (2) diesen ein Recht auf Leben mit bestimmten immanenten Einschränkungen zuzugestehen ist oder aber (3) auch dem Embryo in vivo ein absolutes Lebensrecht zukommt.[73] Die dritte Interpretationsmöglichkeit wurde jedoch sogleich mit der Begründung verworfen, dass bei einem absoluten Lebensschutz des Ungeborenen dessen Abtreibung selbst in Fällen, in denen die Fortdauer der Schwangerschaft das Leben einer Schwangeren ernsthaft gefährden würde, unzulässig wäre.[74] Eine solche Auslegung der Norm wäre aber nach Ansicht der Kommission nicht mit dem Ziel und Zweck der Konvention vereinbar.[75] Welchem der beiden übrigen Interpretationsansätze der Vorrang einzuräumen ist, ließ die EKMR jedoch offen.[76] Darüber hinaus hielt die Kommission fest, dass es nicht in ihrer Kompetenz liege zu entscheiden, ob dem ungeborenen Leben im Sinne von Art. 2 EMRK ein gewisser Lebensschutz gebühren solle.[77] Es sei jedoch nicht ausgeschlossen, dass auch dem Ungeborenen unter gewissen Umständen ein Lebensrecht nach Art. 2 EMRK zukomme.[78] Diese sehr zurückhaltende Stellungnahme rechtfertigte die Kommission mit den erheblich unterschiedlichen Sichtweisen der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Frage, ob auch Ungeborenen ein Lebensschutz nach Art. 2 EMRK gebührt.[79] Die EKMR sprach sich deshalb auch dafür aus, dass den Mitgliedstaaten bei der Auslegung von Art. 2 EMRK ein gewisser Ermessensspielraum zustehen müsse.[80]

 

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Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte musste sich in der Vergangenheit bereits mehrfach mit der Frage eines Lebensrechts Ungeborener befassen. Dabei hielt der Gerichtshof fest, dass Art. 2 EMRK keine zeitliche Beschränkung des Rechts auf Leben vorsehe.[81] Darüber hinaus sei aus der besagten Konventionsnorm auch nicht ersichtlich, wer alles von der Bezeichnung „jedermann“ erfasst werde und wem dementsprechend ein Schutz gebühren sollte.[82] Aufgrund des fehlenden Konsenses der Mitgliedstaaten, welcher aus den divergierenden nationalen Ansichten betreffend den Beginn des menschlichen Lebens und das Lebensrecht von Ungeborenen resultiert, sei es nicht angebracht, diesbezüglich allen Mitgliedstaaten eine einzige moralische Sichtweise aufzudrängen.[83] Vielmehr müsse es aufgrund der unterschiedlichen Auffassungen der Mitgliedstaaten deren Aufgabe sein, die Frage nach dem Lebensrecht Ungeborener unter Berücksichtigung sowohl ethischer, moralischer und philosophischer Aspekte auf nationaler Ebene zu beantworten.[84] Ein Konsens lässt sich immerhin bei der Zugehörigkeit der Embryonen und Föten zur „menschlichen Rasse“ ausmachen.[85] Die Entwicklungsmöglichkeiten und Kapazität zur Menschwerdung gebieten es folglich, auch Ungeborenen im Sinne der Menschenwürde einen Schutz zukommen zu lassen.[86] Das Zugeständnis einer solchen Schutzwürdigkeit definiert allerdings das ungeborene menschliche Leben nicht automatisch als ein solches, welchem ein Lebensrecht im Sinne von Art. 2 EMRK zuzugestehen ist.[87] Nach Rechtsprechung des EGMR gilt es im Zusammenhang mit der Beantwortung der Frage nach einem Lebensrecht Ungeborener zu beachten, dass die Konvention im Sinne einer evolutiven Auslegung im Lichte der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse zu interpretieren ist.[88] Schließlich hält der EGMR fest, dass es weder wünschenswert, geschweige denn möglich sei, die Frage zu beantworten, ob auch das Ungeborene als Mensch im Sinne von Art. 2 EMRK zu qualifizieren ist.[89]