Handbuch des Strafrechts

Text
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa
II. Bildung neuer Kategorien mit dem Grundsatzurteil BGHSt 55, 191

1. Der normativ-wertende Oberbegriff des Behandlungsabbruchs

24

Durch den Grundsatzentscheid des BGH im Jahr 2010 wurde die traditionelle Differenzierung in aktive und passive Sterbehilfe durch den normativ-wertenden Oberbegriff des Behandlungsabbruchs ersetzt, welcher sowohl durch Unterlassen als auch durch aktives Tun vorgenommen werden kann.[159] Der Sachverhalt dieses sog. „Fuldaer Falls“ oder auch „Fall Putz“ lässt sich folgendermassen zusammenfassen[160]: Die nach einer Hirnblutung im Wachkoma liegende Patientin befand sich in einem Pflegeheim und wurde durch eine Sonde künstlich ernährt. Sie war nicht ansprechbar und eine Besserung ihres Gesundheitszustandes nicht zu erwarten. Aufgrund früherer Äusserungen gegenüber ihren Angehörigen bezüglich der Einstellung lebensverlängernder Massnahmen im Falle ihrer Einwilligungsunfähigkeit bemühte sich die als Betreuerin bestellte Tochter um eine Einstellung der künstlichen Ernährung und wurde dabei vom behandelnden Arzt unterstützt. Dieser verneinte eine medizinische Indikation zur Fortsetzung der künstlichen Ernährung. Nachdem die Heimleitung erst ihre Zustimmung erteilte, setzte sie jedoch auf Weisung der Geschäftsleitung die künstliche Ernährung fort und drohte der Tochter mit Hausverbot. Auf Anraten des sie in dieser Sache beratenden Rechtsanwaltes schnitt die Tochter daraufhin die Magensonde durch. Das Heimpersonal bemerkte den Eingriff und veranlasste kurzfristig die Anbringung einer neuen Sonde, worauf die Patientin wenig später aufgrund anderer Ursache verstarb. Die als Betreuerin bestellte Tochter wurde vom Landgericht Fulda vom Vorwurf des Totschlags aufgrund unvermeidbaren Verbotsirrtums basierend auf dem als vertrauenswürdig einzustufenden Ratschlag des Rechtsanwalts freigesprochen.[161] Der vom Landgericht wegen mittäterschaftlich begangenen versuchten Totschlags in einem minder schweren Fall zu einer bedingten Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilte Rechtsanwalt wurde vom BGH freigesprochen.[162]

25

Das Grundsatzurteil bestätigt einerseits, dass es nicht sachgerecht ist, in Fällen des Behandlungsabbruchs an einer „naturalistischen“ Unterscheidung von aktivem Tun und Unterlassen festzuhalten und diese dann normativ umzudeuten, sondern dass für den Abbruch einer medizinischen Massnahme in der Regel eine Vielzahl unterschiedlicher Handlungen erforderlich sind, welche nicht klar den Kategorien des aktiven Tuns oder des Unterlassens zugeordnet werden können.[163] Ein Behandlungsabbruch, definiert als Sterbehilfe durch Unterlassen, Begrenzen oder Beenden einer begonnenen medizinischen Behandlung, ist andererseits nur dann einer Rechtfertigung durch Einwilligung zugänglich, wenn dies dem tatsächlichen oder mutmasslichen Patientenwillen entspricht und dazu dient, einem ohne Behandlung zum Tod führenden Krankheitsprozess seinen Lauf zu lassen.[164] Für die Feststellung des behandlungsbezogenen Patientenwillens gelten beweismässig strenge Massstäbe – dies insbesondere dann, wenn keine schriftliche Patientenverfügung vorliegt.[165] Die Sterbehilfehandlung muss objektiv und subjektiv einen unmittelbaren Bezug zu einer medizinischen Behandlung aufweisen, wobei davon nur das Unterlassen einer lebenserhaltenden Behandlung oder deren Abbruch sowie Handlungen in Form der indirekten Sterbehilfe erfasst sind.[166] Beschränkt wird der zulässige Behandlungsabbruch zudem durch das Erfordernis einer lebensbedrohlichen Erkrankung der betroffenen Person.[167] Explizit erwähnt wird weiter, dass eine Rechtfertigung des Behandlungsabbruchs nicht auf das Handeln der den Patienten behandelnden Ärzte sowie der Betreuer und Bevollmächtigten beschränkt ist, sondern auch das Handeln Dritter erfassen kann, soweit sie als von dem Arzt, dem Betreuer oder dem Bevollmächtigten für die Betreuung hinzugezogene Hilfspersonen tätig werden.[168] Damit sind im Ergebnis neu die dem Begriff des Behandlungsabbruchs immanenten Kriterien der Behandlungsbezogenheit und der Verwirklichung des auf die Behandlung bezogenen Willens der betroffenen Person anstelle der bisherigen Unterscheidung zwischen aktivem und passivem Handeln massgebend.[169]

2. Würdigung

26

Im Ergebnis verdient das Urteil Zustimmung bezüglich der Ableitung der Zulässigkeit der Sterbehilfe aus dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten, womit die strafrechtliche Rechtsprechung Anschluss an die gesetzliche Entscheidung der §§ 1901a ff. BGB hält.[170] Ebenfalls zu begrüssen ist die Klarstellung, dass Sterbehilfe durch aktives Tun zulässig ist, ohne dass dazu das dogmatische Konstrukt eines Unterlassens durch Tun herangezogen werden muss.[171] Dies schenkt der Tatsache Beachtung, dass gemäss dem heutigen Stand der Medizin ein Behandlungsabbruch regelmässig in der Vornahme von verschiedenen Handlungen besteht und sich nicht in blosser Untätigkeit erschöpft.[172] Das Unterscheidungsmerkmal des Behandlungszusammenhangs erscheint als geeignetes Kriterium, um nicht nur eine gänzlich behandlungsfremde Massnahme, sondern auch eine vorsätzlich überdosierte Medikamentenabgabe als Tötungsdelikt auszuweisen.[173] Unglücklich erscheint indes die begründungslose Einbeziehung der indirekten Sterbehilfe[174], da die Lebensverkürzung durch Schmerzmittelgabe mit einem Behandlungsabbruch unmittelbar nichts zu tun hat.[175]

27

Kritisiert wird zu Recht die Aufgabe der Unterscheidung der gesetzlich vorgegebenen Handlungsformen des Tuns und Unterlassens.[176] Eine Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen muss nur schon deshalb erfolgen, weil bei unechten Unterlassungsdelikten für die Strafbarkeit zusätzliche Voraussetzungen wie etwa das Erfordernis einer Garantenstellung bestehen und nur bei einer Begehung durch Unterlassung § 13 Abs. 2 StGB greift.[177] Betrachtet man das Urteil des BGH im entsprechenden Kontext wird jedoch deutlich, dass dem 2. Strafsenat allein an der Klarstellung daran gelegen war, dass die Rechtmässigkeit von Sterbehilfemassnahmen nicht davon abhängen darf, ob es sich beim entsprechenden Vorgehen strafrechtlich um ein Tun oder Unterlassen handelt; der Vorwurf, dass mit dem Grundsatzurteil des BGH eine Einebnung der Verhaltensformen des Tuns und Unterlassen stattgefunden habe, erweist sich somit als unbegründet.[178] Bereits vor dem „Fall Putz“ wurde die strafrechtliche Bewertung eines Behandlungsverzichts nicht von der Einordnung als Tun oder Unterlassen abhängig gemacht – die Lösung per se war somit nie umstritten.[179]

28

Ebenfalls auf Ablehnung stösst die aus dem Grundsatzurteil herausgelesene Beschränkung der Vornahme eines zulässigen aktiven Behandlungsabbruchs auf Ärzte, Betreuer und Bevollmächtigte sowie deren Hilfspersonal.[180] Es bleibt indes fraglich, ob eine solche Beschränkung vom 2. Strafsenat tatsächlich beabsichtigt war; Rissing-van Saan hält dazu fest, dass die Frage, „ob und unter welchen Voraussetzungen ausserhalb der Behandlungssituation stehende Dritte, die dem Willen des Patienten zum Durchbruch verhelfen wollen, rechtmässig handeln, nicht zu entscheiden war“, und das Urteil vom 25. Juni 2010 dazu deshalb auch keine Aussage mache.[181]

29

Problematisch erscheint zudem die Erstreckung der rechtfertigenden Einwilligung des Patienten in den Bereich des aktiven Behandlungsabbruchs. Eine Rechtfertigung des Behandlungsabbruchs gemäss § 32 (Nothilfe) oder § 34 StGB (Notstand) lehnt der BGH ab.[182] Obwohl es auch der Intention des Gesetzgebers des Dritten Betreuungsrechtsänderungsgesetzes entspricht, dass die Hilfe und Begleitung im Sterbeprozess sowie das Recht auf Ablehnung eines medizinisches Eingriffes von einer Tötung auf Verlangen nach § 216 StGB zu unterscheiden ist,[183] besteht gemäss herrschender Lehrmeinung ein problematisches Spannungsverhältnis zwischen dem Behandlungsabbruch und dem in § 216 StGB statuierten Einwilligungsverbot in Tötungshandlungen.[184] Der BGH selbst führt dazu aus, dass nach dem Willen des Gesetzgebers die Grenze zur strafbaren Tötung auf Verlangen durch die §§ 1901a ff. BGB nicht verschoben werden sollte, diese aber „unter dem Gesichtspunkt der Einheitlichkeit der Rechtsordnung bei der Bestimmung der Grenze einer möglichen Rechtfertigung von kausal lebensbeendenden Handlungen berücksichtigt werden“ muss.[185] Walter schlägt in diesem Zusammenhang eine teleologische Reduktion von § 216 StGB vor:[186] Die Zwecke der Schutz- sowie Beweisfunktion von § 216 StGB nehmen in Fällen von Sterbehilfe gemäss den §§ 1901a ff. BGB keinen Schaden.[187] Der Zweck der Tabuisierung des Tötens anderer würde zwar durch eine teleologische Reduktion tangiert werden, jedoch ist den §§ 1901a ff. BGB zu entnehmen, dass sich die Verfolgung dieses Zwecks seit der Schöpfung von § 216 StGB stark gewandelt hat.[188] Selbst wenn der Gesetzgeber mit der Schaffung von §§ 1901a ff. BGB die Grenzen des § 216 StGB unberührt lassen wollte, geht aus den Materialien hervor, dass auch der tätige Behandlungsabbruch zulässig und straffrei bleiben soll.[189]

 

30

Ein Teil der Lehre ist der Ansicht, dass ausgehend von der Patientenautonomie nicht der Abbruch, sondern bereits die Vornahme der Behandlung rechtfertigungsbedürftig sei.[190] Sobald nämlich eine tatsächliche oder mutmassliche Einwilligung in die Behandlung nicht mehr besteht, ist eine Weiterbehandlung rechtswidrig.[191] Unterlässt der Arzt die Weiterbehandlung, kann ihm der Todeserfolg mangels Garantenpflicht nicht zugerechnet werden, da ihm durch das Patientenveto eine Weiterbehandlung verwehrt ist.[192] Aber auch der (aktive) Abbruch der Behandlung bedarf nach dieser Ansicht somit gar keines eigenständigen Zustimmungsaktes, sondern seine Zulässigkeit ergibt sich schlicht aus dem Wegfall bzw. dem Widerruf der Einwilligung in die Durchführung der Behandlung.[193] Erfolgt dann kein Behandlungsabbruch, liegt eine eigenmächtige Heilbehandlung und tatbestandlich eine Körperverletzung im Sinne des § 223 StGB vor.[194] Dogmatisch stellt diese Frage ein Problem der objektiven Zurechnung dar und müsste damit auf der Ebene des Tatbestands behandelt werden.[195] Aus der gleichen Überlegung erscheint es denn auch zweckmässig, nicht nur auf den Begriff der passiven Sterbehilfe, sondern auch auf den Begriff der Sterbehilfe in Konstellationen des Behandlungsabbruchs zu verzichten, da es sich dabei ausschliesslich um die Respektierung seines Rechts handelt, Eingriffe in die physische Integrität und Entscheidungsfreiheit zurückzuweisen, nicht hingegen um irgendeine „Hilfe“, welche dem Patienten geleistet wird.[196] Problematisch ist dieser aus der Patientenautonomie hergeleitete Ansatz in Bezug auf Sachverhalte, in denen nicht der behandelnde Arzt oder der bestellte Patientenvertreter, sondern eine Drittperson lebensverlängernde Massnahmen in Übereinstimmung mit dem (mutmasslichen) Willen des Patienten aktiv unterbindet.[197] Der unbeteiligte Dritte ist nicht in die medizinische Behandlung eines lebensbedrohlich erkrankten Menschen eingebunden und hat weder mit der Behandlungssituation verbundene rechtliche Pflichten noch die faktische Möglichkeit, lebensverlängernd tätig zu werden.[198] Handelt er in Kenntnis des die Behandlung ablehnenden Patientenwillens, kann er sich allenfalls auf Notwehr gemäss § 32 StGB oder einen rechtfertigenden Notstand gemäss § 34 StGB berufen.[199]

31

In der Literatur strittig ist auch die Relevanz der betreuungsrechtlichen Vorschriften für die strafrechtliche Bewertung eines Behandlungsabbruchs. Im Beschluss vom 10. November 2010 – 2 StR 320/10 („Kölner Fall“) konkretisiert der 2. Strafsenat, dass die betreuungsrechtlichen Vorschriften bei der Bestimmung der Grenze einer möglichen Rechtfertigung von kausal lebensbeendenden Massnahmen für das Strafrecht Wirkung entfalten würden.[200] Ob diese Aussage dahingehend interpretiert werden soll, dass die Beachtung der prozeduralen Regeln der §§ 1901a und 1901b BGB Voraussetzung für eine strafrechtliche Rechtfertigung des Behandlungsabbruchs darstellt, ist fraglich.[201] Unzweifelhaft dürfte hingegen sein, dass die Nichteinhaltung betreuungsrechtlicher Regelungen nicht per se den Vorwurf eines strafbaren Tötungsunrechts begründen kann.[202] Für eine strafrechtliche Ahndung der Nichteinhaltung der betreuungsrechtlichen Regelungen wäre ein entsprechender Straftatbestand analog § 218b StGB zu schaffen.[203] Trotzdem kann die bewusste Missachtung dieser Regeln ein Indiz für das Nichtvorliegen eines gerechtfertigten Behandlungsabbruchs sein, e contrario kann deren Einhaltung zwar in der Regel ein zuverlässiges Indiz, nicht aber ein zwingendes Kriterium für das Vorliegen der objektiven und subjektiven Voraussetzungen darstellen.[204]

32

Trotz dieser Kritikpunkte ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Grundsatzurteil des BGH zur Klärung der vorher bestehenden rechtlichen Unsicherheiten insbesondere für Mediziner und Pflegepersonal beiträgt.[205] Es kann nicht angehen, dass aufgrund unklarer rechtlicher Vorgaben lieber der sichere Weg einer Weiterbehandlung statt passiver Sterbehilfe gewählt wird; die Kritik am Urteil des BGH verkennt denn auch, dass in Deutschland die Problematik nicht darin besteht, dass passive Sterbehilfe zu oft, sondern im Gegenteil zu selten geleistet wird.[206] Die Entscheidung des 2. Strafsenats leistet des Weiteren einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung der Patientenautonomie.[207] Trotzdem bleibt eine gesetzliche Regelung der passiven Sterbehilfe im Zusammenhang mit der Gleichstellung des Abbruchs lebenserhaltender Massnahmen mit deren Unterlassen wünschenswert.[208] Dasselbe gilt für die indirekte Sterbehilfe, in deren Zusammenhang klargestellt werden sollte, dass sie bei tödlich Kranken unabhängig von der zeitlichen Nähe des Todes infrage kommt.[209]

1. Abschnitt: Schutz von Leib und Leben › § 2 Sterbehilfe › D. Suizidbeihilfe

D. Suizidbeihilfe

I. Prinzipielle Straflosigkeit der Suizidbeihilfe

33

Im Gegensatz zur strafbaren aktiven Sterbehilfe bleibt eine Suizidteilnahme straflos – dies wird einerseits mit dem formalen Akzessorietätsargument der mangels Tatbestandsmässigkeit fehlenden Haupttat, andererseits mit dem Prinzip der Eigenverantwortlichkeit des Suizidenten für seine Rechtsgüter begründet.[210] Dasselbe muss für eine entsprechende ärztliche Mitwirkung gelten; trotz der ablehnenden Position der Bundesärztekammer gegenüber ärztlicher Suizidbeihilfe[211] ist der rein standesrechtliche Verstoss für die strafrechtliche Bewertung ohne Bedeutung.[212] Ein Entscheid des VG Berlin stellte zudem bzgl. eines standesrechtlichen Verbots der ärztlichen Suizidbeihilfe fest, dass ein ausnahmsloses Verbot mit den Grundrechten der Freiheit der Berufsausübung (Art. 12 Abs. 1 GG) und insbesondere der Gewissensfreiheit des Arztes (Art. 4 Abs. 1 GG) nicht zu vereinbaren sei – dies gerade in solchen Situationen, in denen der Arzt „aufgrund einer lang andauernden, engen persönlichen Beziehung in einen Gewissenskonflikt geraten würde, weil die Person, die freiverantwortlich die Selbsttötung wünsche, unerträglich und irreversibel an einer Krankheit leide und alternative Mittel der Leidensbegrenzung nicht ausreichend zur Verfügung stünden“.[213] Das bedeutet, dass, selbst wenn die Unterstützung beim Suizid nach den Vorgaben des ärztlichen Berufsrechts im Grundsatz unzulässig ist, es in besonderen Situationen dem Arzt freigestellt sein muss, nach seinem Gewissen zu handeln und Suizidhilfe zu leisten.[214] Damit wird berücksichtigt, dass das berufsrechtliche Verbot der ärztlichen Suizidbeihilfe insbesondere deshalb unter Kritik steht, weil gerade Ärzte meist eine persönliche Bindung zum Patienten pflegen und über das für einen würdevollen Suizid notwendige medizinische Wissen verfügen.[215] Problematisch könnte sich die Rechtslage seit Inkrafttreten von § 217 StGB in Bezug auf ärztliche Suizidbeihilfe darstellen, da sich Ärzte möglicherweise bei wiederholter Hilfe wegen des Verdachts der Geschäftsmässigkeit gemäss dieser neuen Bestimmung strafbar machen.[216]

34

Ein Gesetzesentwurf, der die Rechtssicherheit für Ärzte und Patienten herstellen und die Selbstbestimmung von unheilbar erkrankten Patienten stärken wollte, wurde vom Bundestag abgelehnt.[217] Dem Entwurf zufolge wäre eine Suizidbeihilfe unter den engen Voraussetzung zulässig gewesen, „dass eine unheilbare, unmittelbar zum Tode führende Erkrankung durch mindestens zwei Ärzte nach dem Vier-Augen-Prinzip festgestellt wurde, eine umfassende ärztliche Beratung über mögliche Behandlungsalternativen stattgefunden hat, der Patient volljährig und einwilligungsfähig ist und sowohl die Beratung des Patienten wie auch die Durchführung der Suizidhilfe ausschliesslich durch einen Arzt und auf freiwilliger Grundlage erfolgt“.[218]

35

Die Straflosigkeit der Teilnahme an einer Selbsttötung besteht nur solange, als sie nicht in eine täterschaftliche Fremdtötung übergeht und die Selbsttötung auf einer freiverantwortlichen Willensentschliessung beruht.[219] Nach h.M. ist die Freiverantwortlichkeit anhand der Voraussetzung der Wirksamkeit der Einwilligung bzw. der Ernstlichkeit des Tötungsverlangens zu bestimmen (sog. Einwilligungsprinzip).[220] Falls die Selbsttötung nicht freiverantwortlich ist, kann ein Tötungsdelikt in mittelbarer Täterschaft vorliegen – denkbar wäre dies etwa im Falle einer schwer dementen Person, welche von ihren Angehörigen einer Sterbehilfeorganisation zugeführt wird.[221] Bei fahrlässiger Verkennung der Unfreiheit des Selbsttötungsentschlusses sowie bei pflichtwidriger Schaffung oder Nichtbeseitigung einer erkennbaren Gefahr eines nicht freiverantwortlichen Suizids kommt § 222 StGB in Betracht.[222] Von der Tötung auf Verlangen ist die Suizidteilnahme nach überwiegender Meinung danach abzugrenzen, ob die Herrschaft über den unmittelbar lebensbeendenden Akt beim Suizidenten oder beim Aussenstehenden liegt – im ersten Fall handelt es sich um straflose Beihilfe zum Suizid, im zweiten jedoch um eine strafbare Tötung auf Verlangen.[223] Relevant ist diese Unterscheidung freilich nur, wenn sich der Tatbeteiligte nicht nur auf Tatanstösse, Ratschläge oder Vorbereitungshilfen beschränkt, sondern sich unmittelbar in das Tötungsgeschehen hineinziehen lässt.[224]

36

Ein Garant, der eine freiverantwortliche Selbsttötung nur geschehen lässt, ist nach h.M. nicht als Unterlassungstäter strafbar, sofern sich nicht nach der Tötungshandlung der Wille des Suizidenten weiterzuleben manifestiert.[225] Dies entspricht im Ergebnis auch der gesetzgeberischen Wertung des § 1901a Abs. 2, Abs. 3 BGB.[226] Im Gegensatz dazu bejahte der Bundesgerichtshof in seiner älteren Rechtsprechung eine Rettungspflicht des Garanten bei jedem Selbsttötungsversuch ab dem Zeitpunkt der Hilfsbedürftigkeit des Suizidenten.[227] Für Nichtgaranten wurde in älteren Entscheidungen ohne weiteres eine Strafbarkeit nach § 323c StGB begründet.[228] In der Entscheidung BGHSt 32, 369, 375 wurde bei freiverantwortlichem Suizid nach eintretender Bewusstlosigkeit ein Tatherrschaftswechsel angenommen, wodurch eine Pflicht des Arztes zum Eingreifen entsteht.[229] Trotzdem könne im Einzelfall eine Strafbarkeit entfallen, weil etwa dem Arzt keine Rechtspflicht auferlegt werden kann, erlöschendes Leben „um jeden Preis“ zu erhalten.[230] Die Zumutbarkeit rettenden Eingreifens ist dann zu verneinen, wenn der Patient nur mit schweren Dauerschäden überleben würde.[231] Kritisiert wurde diese Rechtsprechung dahingehend, dass die Selbstbestimmung sowie die Eigenverantwortlichkeit des Suizidenten nicht hinreichend beachtet worden sei; inwiefern das aus dem Selbstbestimmungsrecht folgende Verbot ärztlicher Eingriffe gegen den Willen des Patienten in Fällen eines freiverantwortlichen Suizidversuchs suspendiert werden kann, bleibt fraglich.[232] Es besteht keine tragfähige Begründung für eine unterschiedliche Bewertung der Entscheidungen eines „Normalpatienten“ einerseits und eines „Suizidpatienten“ im Falle eines freiverantwortlichen Suizidversuchs andererseits.[233] Die neuere Rechtsprechung misst der freiverantwortlichen Selbsttötung deshalb zu Recht eine erheblich grössere Bedeutung zu[234]; dies bestätigt auch der Einstellungsbeschluss der Staatsanwaltschaft München aus dem Jahr 2010, wonach „einem Angehörigen kein strafrechtlicher Vorwurf gemacht werden kann, wenn er den ernsthaften Todeswillen seines Angehörigen respektiert und nicht sofort bei Verlust der Handlungsfähigkeit und des Bewusstseins ärztliche Hilfe ruft oder sonstige Rettungsmassnahmen einleitet“.[235] Dasselbe muss auch für einen Arzt gelten.[236] Diese Lösung erscheint denn auch unter teleologischen Gesichtspunkten überzeugend, zumal das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit, welches die Straffreiheit der Suizidteilnahme trägt, auch eine strafrechtliche Verantwortlichkeit bzgl. der Nichthinderung eines freiverantwortlichen Suizids verhindert.[237] Liegt ein freiverantwortlicher Suizidversuch vor, fehlt es nicht erst an einer Pflicht, sondern bereits an einem Recht des Garanten zum Eingreifen.[238] Die Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts bei Suizidpatienten ist mit dem Autonomieprinzip nicht vereinbar; auch hier muss die freiverantwortliche Entscheidung der Patienten zur Verweigerung lebenserhaltender Massnahmen verbindlich sein.[239] Die in der neueren Rechtsprechung des BGH vorgenommene Stärkung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten im Kontext der Sterbehilfe muss auch für die Konstellation eines freiverantwortlichen Suizids gelten.[240] Die Verbindlichkeit dieser freiverantwortlich getroffenen Entscheidung des Suizidenten muss auch nach Eintritt der Bewusstlosigkeit bestehen.[241] Mit Inkrafttreten des neuen § 217 StGB, welcher die geschäftsmässige Förderung der Selbsttötung unter Strafe stellt, besteht neuerdings eine abschliessende Regelung von Suizidteilnahmehandlungen, weshalb die Möglichkeit der Umdeutung der Suizidbeihilfe in eine strafbare Tötung durch Unterlassen oder in eine unterlassene Hilfeleistung schon grundsätzlich versperrt erscheint.[242]