Handbuch des Strafrechts

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II. Ende des menschlichen Lebens

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Lange Zeit galt der irreversible Stillstand von Kreislauf und Atmung als strafrechtliches Todeskriterium.[65] Heute wird nach den Fortschritten der modernen Medizin gemäss h.M. auf den Hirntod abgestellt.[66] Als Hirntod wird der Zustand der erloschenen Gesamtfunktion des Grosshirns, Kleinhirns und des Hirnstamms bei künstlich aufrechterhaltener Herz-Kreislauffunktion (Gesamthirntod) definiert.[67] Vereinzelt wird die Hirntodkonzeption einerseits dahingehend kritisiert, dass bereits der Teilausfall des Gehirns oder Stadien im Vorfeld derartiger Vorgänge als Tod des Menschen festzulegen seien, andererseits wird die Rückkehr zum klinischen Todesbegriff gefordert.[68] Auf der medizinisch-normativen Begründungsebene sprechen jedoch tragfähige Argumente für die Hirntodkonzeption, wobei zumindest die herausragende Bedeutung des Gehirns für den menschlichen Gesamtorganismus die Festlegung des Todes im Totalausfall des Gehirns plausibel erscheinen lässt.[69] Die konsequente Umsetzung der Rechtsauffassung der Hirntodkritiker hätte zudem rechtspraktisch zur Folge, dass Transplantationen lebenswichtiger Organe nicht mehr vorgenommen werden dürften, da derartige lebensverkürzende Eingriffe selbst bei Vorliegen einer Einwilligung des Organspenders als Tötung auf Verlangen gemäss § 216 StGB zu beurteilen wären.[70] Auch verfassungsrechtliche Vorgaben stehen der Hirntodkonzeption nicht entgegen.[71] Im Gegenteil ist dem Grundgesetz kein Begriffsverständnis zu entnehmen, wonach „Leben“ bis zum Ausfall der letzten biologischen Äusserung des Organismus definiert ist, sondern vielmehr handelt es sich um eine verfassungsrechtliche Wertungsfrage, deren Beantwortung massgeblich durch medizinische Erkenntnisse beeinflusst wird.[72] Die Kriterien zur Feststellung des Hirntodes stellen somit keine juristisch-normative Frage dar, sondern sind dem medizinischen Bereich zuzuordnen.[73] Die vom Wissenschaftlichen Beirat der BÄK herausgegebenen Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes[74] wurden mit der vierten Fortschreibung der Richtlinie überarbeitet.[75] Darin wird bewusst nicht mehr von Hirntod, sondern medizinisch-wissenschaftlich präzise vom „irreversiblen Hirnfunktionsausfall“ als sicherem Todeszeichen gesprochen, wobei die Feststellung dieses irreversiblen Hirnfunktionsausfalles weiterhin auf einem dreistufigen Vorgehen beruht: Feststellung der Voraussetzungen (zweifelsfreies Nachweisen einer akuten schweren primären oder sekundären Hirnschädigung sowie der Ausschluss reversibler Ursachen), Feststellung der Bewusstlosigkeit (Koma), der Hirnstamm-Areflexie und der Apnoe sowie abschliessend der Nachweis der Irreversibilität anhand klinischer Verlaufsuntersuchungen.[76]

1. Abschnitt: Schutz von Leib und Leben › § 2 Sterbehilfe › C. Unterscheidung der verschiedenen Formen von Sterbehilfe

C. Unterscheidung der verschiedenen Formen von Sterbehilfe
I. Traditionelle Differenzierung

1. Abgrenzung Sterbehilfe im engeren und im weiteren Sinn

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Terminologisch ist von einer erst während des Sterbevorgangs geleisteten „Hilfe beim Sterben“ dann auszugehen, wenn das Grundleiden eines Kranken nach ärztlicher Überzeugung irreversibel ist, einen tödlichen Verlauf genommen hat und der Tod in kurzer Zeit eintreten wird.[77] Der BGH gestattet bei dauernder Entscheidungsunfähigkeit des Patienten einen Verzicht auf lebensverlängernde Massnahmen wie Beatmung, Bluttransfusion oder künstliche Ernährung.[78] Ist hingegen der Patient noch grundsätzlich lebensfähig und damit die unmittelbare Todesnähe noch nicht erreicht, spricht man von „Hilfe zum Sterben“.[79] In dieser Form ist Sterbehilfe anerkannt, wenn die Krankheit einen unheilbaren Verlauf genommen hat, selbst wenn etwa der komatöse Patient noch längere Zeit mit Hilfe der Apparaturen am Leben gehalten werden könnte.[80] Lebensverlängernde, insbesondere intensivmedizinische Schritte können in solchen Fällen unterbleiben und bereits eingeleitete Massnahmen abgebrochen werden.[81] In der Rechtsprechung sowie in der h.L. dürfte es indes anerkannt sein, dass der Patientenwille nicht nur bei unmittelbarer Todesnähe zu beachten ist – eine andere Auffassung wäre mit dem Selbstbestimmungsrecht nicht zu vereinbaren, da dies etwa bei Komapatienten zu Zwangsbehandlungen führte.[82] Mit der gesetzlichen Regelung der Patientenverfügung, welche durch das Dritte Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts vom 29. Juli 2009[83] erfolgte, stellt § 1901a Abs. 3 BGB in diesem Zusammenhang nun unmissverständlich klar, dass es auf Art und Stadium einer Erkrankung nicht mehr ankommt.[84] Der Unterscheidung in Sterbehilfe im engeren und weiteren Sinn kommt deshalb nur noch beschränkte Bedeutung zu.

2. Aktive Sterbehilfe

a) Direkte aktive Sterbehilfe

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Die gezielte Tötung eines anderen sowie die Beschleunigung des Todeseintritts bei einem anderen durch ein aktives Tun stellt eine strafbare Tötung dar, auch wenn der Sterbende dies ausdrücklich verlangt.[85] Dies gilt auch bei nur geringfügiger Verkürzung des Lebens des Opfers.[86] In diesem Zusammenhang unterstreicht die Bestimmung von § 216 StGB (Tötung auf Verlangen), dass selbst das Verlangen als gesteigerte Form der Einwilligung keinen Ausschluss der Strafbarkeit bewirkt.[87] Somit bleibt etwa das Setzen einer Giftspritze durch einen Arzt, um den leidenden Patienten auf dessen ausdrücklichen Wunsch von seinen qualvollen Schmerzen zu erlösen, nach § 216 StGB strafbar.[88] Eine Rechtfertigung nach § 34 StGB scheidet nach h.M. aus.[89] In der Literatur wird jedoch durchaus auch die gegenteilige Meinung vertreten, dass in Fällen extremen Leidens des Moribunden eine Rechtfertigung der gezielten aktiven Lebensverkürzung nach den Regeln des rechtfertigenden Notstands in Betracht kommen soll.[90] Insbesondere in Fällen, welche substanziell einem Suizid gleichkommen, der aber aufgrund des physischen Zustandes des Sterbenden nicht mehr von ihm selbst ausgeführt werden kann, erscheint eine Rechtfertigung vertretbar.[91] Duttge schlägt die Einführung eines „minderschweren Falls“ in einem Abs. 3 in § 216 StGB vor, mit welchem für aussergewöhnliche und einzigartige Fälle aufgrund einer Gesamtwürdigung der konkreten Umstände die blosse Verurteilung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB) erlaubt würde.[92] Rosenau plädiert ebenfalls für eine gesetzliche Regelung der begrenzten Freigabe aktiver Sterbehilfe; ein fakultatives Absehen von Strafe reiche nicht weit genug, da klare und vor allem berechenbare Konsequenzen nötig seien.[93] Diesen Tendenzen ist zuzustimmen, ist es doch nicht logisch zu begründen, dass eine Abwägung zwischen dem Lebensinteresse des Patienten und seinem Interesse an Schmerzfreiheit im Falle der indirekten Sterbehilfe zulässig, bei nicht mehr therapeutisch beherrschbaren Qualen jedoch unzulässig sein soll.[94] Das auf § 216 StGB gestützte absolute Verbot ist in Fällen medikamentös nicht mehr unterdrückbarer Vernichtungsschmerzen rechtspolitisch sowie dogmatisch zweifelhaft.[95] Im genannten Grenzbereich ist eine auf die Befürchtung eines „Dammbruchs“ gestützte Abgrenzung zur indirekten Sterbehilfe kaum realistisch.[96] Die geltende Rechtslage führt in der Praxis zu einem Dunkelfeld von Mitleids-Tötungen im Grenzbereich zur indirekten Sterbehilfe.[97]

b) Indirekte aktive Sterbehilfe

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Indirekte Sterbehilfe liegt vor, wenn ein früherer Todeseintritt unvermeidliche, aber auch unbeabsichtigte Folge der Verabreichung schmerzlindernder Medikamente an einen Todkranken oder einen Sterbenden mit dessen (mutmasslicher) Einwilligung ist.[98] Es handelt sich dabei um einen Unterfall der aktiven Sterbehilfe.[99] Der BGH hat in seiner Grundsatzentscheidung zur Straflosigkeit der indirekten Sterbehilfe ausgeführt, dass eine ärztlich gebotene schmerzlindernde Medikation entsprechend dem erklärten oder mutmasslichen Patientenwillen bei einem Sterbenden nicht dadurch unzulässig wird, dass sie als unbeabsichtigte, aber in Kauf genommene unvermeidbare Nebenfolge den Todeseintritt beschleunigen kann.[100] In ähnlicher Weise äussern sich auch die Grundsätze der Bundesärztekammer: „Bei Sterbenden kann die Linderung des Leidens so im Vordergrund stehen, dass eine möglicherweise unvermeidbare Lebensverkürzung hingenommen werden darf.“[101]

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Nach dem Stand der heutigen Schmerztherapie wird eine Lebensverkürzung zwar nur noch selten gegeben sein, auszuschliessen ist sie jedoch im Einzelfall nicht.[102] Obwohl die Zulässigkeit der indirekten Sterbehilfe in Deutschland seit langem anerkannt ist, besteht über deren Begründung sowie Reichweite nach wie vor Uneinigkeit.[103] Was die Reichweite betrifft, besteht die Straflosigkeit der indirekten aktiven Sterbehilfe nach h.M. auch dann, wenn der Arzt die lebensverkürzende Wirkung als sicher voraussieht, somit mit dolus directus zweiten Grades handelt.[104] Des Weiteren kann es nicht auf die Zeitspanne der Lebensverkürzung ankommen, weshalb kein Grund besteht, die Straflosigkeit auf die Fälle der Sterbehilfe im engeren Sinn zu begrenzen.[105] Die Zulässigkeit der indirekten Sterbehilfe erstreckt sich somit auf alle mit unzumutbaren Schmerzen oder anderen unzumutbaren Leiden verbundenen „tödlichen Krankheiten“.[106]

 

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Begründet wird die Straflosigkeit von Teilen des Schrifttums durch Tatbestandsausschluss, weil die indirekte aktive Sterbehilfe sozialadäquat sei und daher ihrem Sinngehalt nach den Bestimmungen einer strafbaren Tötung (§§ 212, 216 StGB) nicht unterliege.[107] Vereinzelt wird auch die Rechtsfigur des erlaubten Risikos herangezogen.[108] Nach der heute überwiegenden Meinung liegt zwar eine Tötung vor, diese ist jedoch wegen rechtfertigenden Notstandes straflos.[109] Die Annahme einer rechtfertigenden Einwilligung des Todkranken wird durch die Einwilligungssperre von § 216 StGB verunmöglicht.[110] Eine Rechtfertigung der indirekten Sterbehilfe aufgrund von § 34 StGB bedingt die Abwägung der Interessen des in die Behandlung (mutmasslich) einwilligenden Patienten und der entgegenstehenden Interessen an längstmöglicher Lebenserhaltung.[111] Es fliessen somit Einwilligungselemente in den Abwägungsvorgang im Rahmen der Notstandslösung mit ein.[112] Vereinzelt wird der Standpunkt vertreten, dass das Rechtsgut „Leben“ abwägungsresistent sei und deshalb eine Notstandssituation, welche eine solche Abwägung gerade voraussetzt, nicht vorliegen kann.[113] § 34 StGB stellt jedoch entscheidend auf eine Abwägung nicht der Rechtsgüter, sondern der konkreten Interessen ab, weshalb ein wesentliches Überwiegen des Schmerzlinderungsinteresses über das Interesse an einem (leidvollen) Weiterleben nicht an der Höchstwertigkeit des Rechtsguts Leben scheitern kann.[114] Einige Autoren sowie der Bundesgerichtshof begründen mit dem Recht des Patienten auf ein humanes Sterben in Würde ein Überwiegen des Schmerzlinderungsinteresses gegenüber der Lebensverkürzung, indem die Menschenwürde als verfassungsrechtlicher Höchstwert über dem Lebensrecht steht.[115] Zudem wird vorgebracht, dass § 34 StGB auf die Kollision der Rechtsgüter verschiedener Personen zugeschnitten sei; dagegen lässt sich einwenden, dass Wortlaut und Systematik eine Subsumtion von Sachverhalten, welchen Interessenkollisionen innerhalb der Sphäre ein und derselben Person zugrunde liegen, zulassen.[116] Eine analoge Anwendung auf Sachverhalte der indirekten Sterbehilfe ist zumindest möglich.[117] Die Diskussion verdeutlicht, dass die Trennung der strafbaren und straflosen Formen aktiver Sterbehilfe zweifelhaft und kriminalpolitisch zunehmend problematisch ist.[118]

3. Passive Sterbehilfe

a) Begriff

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Von passiver Sterbehilfe spricht man, wenn eine zur Lebensverlängerung notwendige Behandlung durch eine Betreuungsperson, in den meisten Fällen den behandelnden Arzt, unterlassen wird.[119] Der Begriff der „passiven“ Sterbehilfe ist insofern irreführend, als sich die Unzulässigkeit von ärztlichen Eingriffen bei entscheidungsfähigen Patienten bereits aus dem Selbstbestimmungsrecht ergibt; bei Unterlassen solcher Eingriffe kann somit nicht sinnvoll von „Sterbehilfe“ gesprochen werden.[120]

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Grundsätzlich sind der Arzt und sonstige Betreuungspersonen gegenüber dem Patienten als Garanten verpflichtet, das ihnen medizinisch Mögliche zur Wahrung der Belange des Patienten zu unternehmen.[121] Es besteht jedoch weitgehend Einigkeit darüber, dass die Nichteinleitung oder Nichtweiterführung lebenserhaltender Massnahmen in der Sterbephase oder bei einem tödlich Kranken rechtmässig sein kann.[122] Aus der erforderlichen Einwilligung in ärztliche Heilmassnahmen als Kern des Arzt-Patienten-Verhältnisses ergibt sich, dass der Patient vom Arzt jederzeit die Einstellung der Behandlung verlangen kann, selbst wenn dadurch mit Sicherheit der Tod des Patienten eintreten wird.[123] Massnahmen künstlicher Lebensverlängerung gegen den Willen des Patienten sind mit dessen Selbstbestimmungsrecht unvereinbar.[124]

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Der Vorrang des Patientenwillens gegenüber dem Ziel eines Lebensschutzes durch künstliche Lebensverlängerung gilt unabhängig davon, ob der Sterbevorgang bereits eingesetzt hat (sog. Hilfe beim Sterben) oder nicht (sog. Hilfe zum Sterben), somit auch in Fällen einer infausten Prognose.[125] Wenn es sich um einen Patienten in entscheidungsfähigem Zustand handelt, tritt deshalb Straflosigkeit ein, weil ein Patient nicht gegen seinen Willen behandelt werden darf und damit die Garantenpflicht des Arztes entfällt.[126] Selbst die „Grundsätze“ der Bundesärztekammer lassen mittlerweile die Änderung von Therapiezielen bzw. die Nichtweiterführung einer lebenserhaltenden Behandlung im Vorfeld der Sterbephase zu.[127]

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Auch bei zur Einwilligung Unfähigen gestattet der BGH bereits seit geraumer Zeit einen Verzicht auf lebensverlängernde Massnahmen, sofern es sich um Fälle der sog. Sterbehilfe im engeren Sinn[128] handelt.[129] Schwierigkeiten ergeben sich dann, wenn der entscheidungsunfähige Patient noch nicht im Sterben liegt, so etwa in Fällen irreversibel bewusstloser Patienten, welche mit Hilfe ärztlicher Massnahmen noch längere Zeit in einem Dämmerzustand weiter existieren können (apallisches Syndrom, Wachkoma) oder auch in Konstellationen, in denen eine rechtlich beachtliche Erklärung des unheilbar Erkrankten aufgrund seines aktuellen geistigen Zustandes nicht erlangt werden kann.[130] Doch auch in diesen Situationen gilt das Prinzip der Patientenautonomie. Wurde der Wille, auf lebensverkürzende Massnahmen zu verzichten, vorab in einer Patientenverfügung fixiert, muss diese Willensäusserung unabhängig davon, ob der Sterbevorgang bereits eingesetzt hat oder nicht, beachtet werden.[131] Seit Inkrafttreten des „Dritten Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechts“ am 1. September 2009 wird dieser Grundsatz von § 1901a Abs. 3 BGB unmissverständlich statuiert; die Reichweite der Patientenverfügung unterliegt somit keiner zeitlichen Beschränkung.[132] § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB verdeutlicht weiter die Situationsbezogenheit als Kernvoraussetzung für die Verbindlichkeit einer Patientenverfügung, d.h. die schriftlichen Anordnungen des Verfassers entfalten ihre Wirkung nur dann, wenn die aktuelle Lebens- und Behandlungslage seinen antizipierten Festlegungen über den Verzicht auf die Einleitung oder Fortführung näher bezeichneter medizinischer Massnahmen entspricht.[133] An die Detailgenauigkeit der Patientenverfügung dürfen keine überzogenen Anforderungen gestellt werden, zumal ihre Verbindlichkeit nicht von einer vorhergehenden ärztlichen Beratung abhängig ist.[134] Nichtsdestotrotz muss aus einer Patientenverfügung erkennbar sein, dass die darin enthaltenen Anordnungen auch in der konkreten Behandlungssituation Geltung erlangen sollen. Hierfür müssen die Erklärungen hinreichend konkret erscheinen. Gemäss BGH ist eine genügende Bestimmtheit beispielsweise dann zu verneinen, wenn in genereller Art und Weise schriftlich festgehalten wird, dass „lebensverlängernde Massnahmen unterbleiben“ sollen. Eine solche Erklärung könne keine unmittelbare Bindungswirkung entfalten. Neben einer genügenden Spezifizierung ärztlicher Massnahmen kann die erforderliche Bestimmtheit aber auch durch Nennung konkreter Krankheiten oder Behandlungssituationen erreicht werden. Der Patientenwille in Bezug auf die konkrete Massnahme ist in solchen Fällen durch Auslegung der Patientenverfügung zu eruieren.[135] Wenn die Voraussetzungen ihrer Wirkung eingetreten sind, ist die Patientenverfügung für Betreuer, behandelnde Ärzte und Pflegepersonal bindend.[136] Der vom Betreuungsgericht zu bestellende Betreuer hat dem Patientenwillen Geltung zu verschaffen und trifft damit bei Einwilligungsunfähigkeit des Patienten die Entscheidung über die Vornahme oder das Unterlassen einer ärztlichen Massnahme; nur bei Uneinigkeit zwischen Betreuer und behandelndem Arzt über Inhalt oder Auslegung des Patientenwillens bedarf es einer betreuungsgerichtlichen Entscheidung (§ 1901b BGB).[137]

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Liegt keine Patientenverfügung vor, muss gemäss § 1901a Abs. 2 BGB auf den mutmasslichen Willen des entscheidungsunfähigen Patienten abgestellt werden.[138] Neben der Berücksichtigung der ethischen und religiösen Überzeugungen des Betreuten sowie dessen persönlichen Wertvorstellungen (§ 1901a Abs. 2 S. 3 BGB) besteht eine zusätzliche Möglichkeit für die Ermittlung von Anhaltspunkten in der Anhörung naher Angehöriger und sonstiger Vertrauenspersonen (§ 1901b Abs. 1 S. 2 BGB).[139] An die Annahme des mutmasslichen Willens sind insbesondere dann, wenn der Sterbevorgang noch nicht eingesetzt hat, erhöhte Anforderungen zu stellen.[140] Ein nur mündlich geäusserter Wunsch auf Behandlungsbegrenzung bei anschliessend eintretender Einwilligungsunfähigkeit kann den Betreuer nicht unmittelbar binden, bildet aber gemäss § 1901a Abs. 2 BGB ein Indiz für einen entsprechenden individuell-mutmasslichen Willen zur Tatzeit.[141]

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Problematisch erscheint auf den ersten Blick die Empfehlung des BGH[142], bei nicht feststellbarem tatsächlichen oder mutmasslichen Willen auf allgemeine Wertvorstellungen zurückzugreifen, zumal damit der individuelle Entscheidungsrahmen verlassen wird.[143] Es ist jedoch nach wie vor rechtlich statthaft, in unklaren Fällen allgemeine Kriterien bei der Entscheidung über einen Behandlungsverzicht zu berücksichtigen, zumal diese auch bei der Ermittlung des mutmasslichen Willens in anderen Zusammenhängen herangezogen werden.[144] Die Vorschrift des § 1901a Abs. 2 S. 2 und 3 BGB ist offen formuliert und kann durchaus so verstanden werden, dass die dort aufgeführten Indizien zur Willensermittlung lediglich beispielhaft und nicht etwa abschliessend sind.[145] Der Grundsatz „in dubio pro vita“ kann ebenfalls nicht in jedem Fall als mutmasslicher Wille unterstellt werden, sondern allenfalls in unklaren Fällen Geltung beanspruchen, in denen bei Berücksichtigung sowohl der konkreten Indizien als auch der „allgemeinen Wertvorstellungen“ ein mutmasslicher Wille nicht zu ermitteln ist.[146] Im Einzelfall wird ein Behandlungsabbruch umso eher vertretbar sein, je weniger die Wiederherstellung eines nach allgemeinen Vorstellungen menschenwürdigen Lebens zu erwarten ist und je kürzer der Tod bevorsteht.[147]

b) Technischer Behandlungsabbruch als Unterlassen

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Die Frage, ob bei aktivem Abbruch einer lebenserhaltenden Behandlung, etwa durch Abschalten des Reanimators, von einem Unterlassen oder einem positiven Tun auszugehen ist, ist umstritten.[148] Nach der h.M. wird der sog. technische Behandlungsabbruch ebenfalls als Unterlassen beurteilt (Unterlassen durch Tun), wobei dies mit der Verwendung eines „normativen Begriffs des Unterlassens“, welcher auf den sozialen Sinngehalt als Unterlassen der Weiterbehandlung abstellt, begründet wird.[149] Diese Auffassung gründet auf der von der ständigen Rechtsprechung angewandten Schwerpunkttheorie.[150] Die Handlung des Abschaltens wird damit in den Kontext des Gesamtgeschehens eingeordnet, womit der Behandlungsabbruch insgesamt als Nichtfortsetzung unerwünschter Rettungsbemühungen betrachtet wird.[151] Im Ergebnis muss – unabhängig von der Einordnung des technischen Behandlungsabbruchs in ein Tun oder Unterlassen – richtigerweise dort, wo ein medikamentös-therapeutischer Behandlungsabbruch zulässig wäre, auch der technische Behandlungsabbruch legitimiert werden.[152] Sofern die entsprechenden Voraussetzungen vorliegen, kann es zudem keinen Unterschied machen, ob der Behandlungsabbruch durch einen Arzt, eine Krankenschwester oder einen sonstigen Dritten herbeigeführt wird.[153] Zumindest hindert auch die Beurteilung der Beendigung einer lebensverlängernden Behandlung durch einen Dritten auf Wunsch des Patienten als aktiven Eingriff in einen rettenden Kausalverlauf und damit als Tun die Straflosigkeit nach herrschender Ansicht nicht, indem die Fortsetzung einer intensivmedizinischen Behandlung gegen den Willen des Kranken eine gegenwärtige Gefahr für dessen Selbstbestimmung darstellt, weshalb eine Rechtfertigung nach § 34 StGB besteht.[154]

 

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Zu Recht beurteilen Teile des Schrifttums den technischen Behandlungsabbruch durch Abschalten von Geräten als aktives Tun und das „Unterlassen durch Tun“ als dogmatischen Kunstgriff, um die Straflosigkeit auch aktiven Tötungshandelns zu erreichen.[155] Der dogmatische Kunstgriff wird besonders deutlich, wenn man in die Strafprozessordnung blickt. Bei der Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen geht es um die Einordnung eines sozialen Sachverhalts (beweisbare Tatsache) und nicht um eine normative Reduktion des Tatbestandes. Gemäß § 244 Abs. 2 StPO gilt der Ermittlungsgrundsatz, nach welchem das wirkliche Geschehen, d.h. die materielle Wahrheit, zu erforschen ist. Die Staatsanwaltschaft wird kaum Beweise dafür vorlegen, dass nichts getan wurde. Der BGH stimmt mit seinem Grundsatzurteil vom 25. Juni 2010 – 2 StR 454/09 dieser Sichtweise zu, indem er festhält, dass eine solche normativ wertende Umdeutung aktiven Tuns in ein Unterlassen den auftretenden Problemen nicht gerecht werden könne.[156] Sowohl aktive als auch passive Formen der Beendigung medizinischer Massnahmen fasst er unter dem Begriff des „Behandlungsabbruchs“ zusammen, wobei eine Rechtfertigung durch die Einwilligung des Patienten erfolgt.[157] Diese Lösung ist insofern zutreffend, als die Straflosigkeit des technischen Behandlungsabbruchs auf Erbeten des Kranken nicht von der Einordnung von Zufälligkeiten des Behandlungsablaufs abhängen kann, sondern dass materielle Faktoren wie das Selbstbestimmungsrecht des Patienten dafür massgebend sein müssen.[158]